Das zweite Saisonkonzert der musica viva mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks fand am Freitag, 10. November 2023, wieder im üblichen Herkulessaal statt. Johannes Kalitzke dirigierte neben einer eigenen Uraufführung („Zeitkapsel“) noch Lisa Streichs„Jubelhemd“ und Luc Ferraris „Histoire du Plaisir et de la Désolation“. Die Solisten in Streichs Komposition waren Marco Blaauw (Trompete), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Maria Stange (Harfe) und Axel Porath (Viola).
Als Dirigent seit vielen Jahren regelmäßiger Gast bei der musica viva, leitete Johannes Kalitzke (*1959) im Konzert am 10. 11. 2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zunächst bei der Uraufführung einer eigenen Komposition mit dem Titel Zeitkapsel. Das 25-minütige Stück hat äußerlich die Form eines Totentanzes, besteht aus mehreren, recht klar getrennten „Sätzen“, die durch eine Art Concertino – hier sechs Fagotte und zwei Saxophone mit herrlich dunklem Klang – wie im Concerto Grosso zusammengehalten werden. Stilisierte, dysfunktionalisierte Tanzrhythmen im Orchester wurden durch elektronisch zugespielte Samples ergänzt – entsprechend den persönlichen Fundstücken (Zeitkapseln), die Erbauer in alten Gemäuern oder eigene Vorfahren etwa auf Dachböden hinterlassen haben; darunter so divergente Klänge wie Flammenwerfer oder am Schluss die älteste Tonaufnahme auf Wachspapier von 1860: das Kinderlied Au Claire de la Lune. Dass diese durchgängigen elektronischen Einsprengsel – die erkennen lassen, dass Kalitzke u. a. Schüler von York Höller war – nicht wie Fremdkörper, sondern als echte Erweiterungen des Orchesterklangs wirkten, war nicht zuletzt der exzellenten, unaufdringlichen Klangregie von Sebastian Schottke zu verdanken. Kalitzke dirigierte wie gewohnt stets präzise, glasklar, engagiert, suggestiv und ohne Mätzchen, hörte den Musikern genau zu und griff zuvorkommend ein, wenn nötig. Seine wirkungsvolle, sehr virtuose Musik – am Ende spooky – kam auch beim Publikum gut an.
Die schwedischstämmige, aber vor allem im deutschsprachigen Raum ausgebildete Lisa Streich (Jahrgang 1985) wurde bereits mit Preisen überhäuft – u. a. dem Ernst von Siemens Förderpreis (2017) – und nennt ihr Stück Jubelhemd (2021) ausdrücklich Concerto Grosso. Die ungewöhnliche Instrumentenkombination des Concertinos – Trompete, Schlagzeug, Harfe und Viola – sollte wohl als Projektion des recht großen, enorm farbig gesetzten Orchesters auf kammermusikalische Ebene fungieren. Dabei wird die für die Komponistin leicht zwanghafte Vorgabe einer jubilierenden Musik – ein Auftrag schwedischer Orchester inmitten der Pandemie – derart konterkariert, dass sich die Solisten trotz höchster virtuoser Anforderungen – besonders hervorzuheben der Trompeter Marco Blaauw – nicht wirklich entfalten können. Jubelgesten, von Anklängen an Bach-Trompete bis zu U-Musik – „Mutantenstadl“ mit Zitaten von Offenbach oder Johann Strauss – werden im Keim erstickt. Streichs regelmäßig genutzte, detonierte, aus der tonalen (Chor-)musik stammenden Akkorde, wirkten hingegen erstaunlich fein und schön – und regten die Zuhörer offensichtlich ähnlich an wie die berühmte Madeleine in Prousts Recherche. Die vielen tollen Ansätze in dieser sensiblen Musik wurden leider dadurch zunichte gemacht, dass der monorhythmische Beginn nie wirklich verlassen wird, bis auf einen hilflosen Ausbruchsversuch mit merkwürdiger Kirmesmusik kurz vor Schluss. Insgesamt erhielt die doch über Strecken ziemlich fade Komposition dann auch lediglich freundlichen Beifall.
Den Pariser Luc Ferrari (1929–2005) dürfte man vor allem mit musique concrète in Form von Tonbandkompositionen in Verbindung bringen. Abgesehen von seinem rein instrumentalen Frühwerk – als Pianist war er z. B. noch Schüler des berühmten Alfred Cortot – sind Stücke ohne Tonbänder oder Elektronik eine Seltenheit, Histoire du Plaisir et de la Désolation (1982 uraufgeführt) somit ein echtes Unikum. Die 35-minütige, gewaltig besetzte Komposition besteht aus drei attacca aufeinanderfolgenden Sätzen mit klar unterscheidbarem Material. Grundidee dabei ist laut Kalitzke die sogenannte Bandschleife. Obwohl hier also ständig Repetitionsmuster werkelten und der kurze erste Satz über gleichmäßigen Fundamentalbässen des Schlagzeugs – fast wie ein Auftritt Godzillas – höllische Klänge entwickelte, wurde das Stück nie langweilig. Ferraris Musik, opulent und voller Lebensenergie, beschäftigte sich allerdings, offenkundig geprägt vom französischen Existenzialismus, sehr ernsthaft mit dem Gegensatz von Lust und Verzweiflung – letztlich wie Kalitzkes Totentanz mit Vergänglichkeit. Im zweiten Abschnitt dominierten hellere Farben, teils mit Becken-Grundierung und man wurde eingeschobener, bestimmten Frauen gewidmeter Zitate gewahr. Die Désolation des langen dritten Satzes manifestierte sich u. a. mit dem x-maligen Ansetzen einer a-Moll Kadenz, auf deren Auflösung man jedoch vergeblich wartete. Ein eindrucksvolles Stück, bei dem Kalitzke auch effektiv die Langstrecken-Dynamik des einmal mehr großartig aufgelegten BRSO führte und den Herkulessaal in einen wahren Klangrausch versetzte, der dann mit langanhaltendem Applaus bedacht wurde.
[Martin Blaumeiser, November 2023]