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Liveaufnahmen für Debussy

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 558; EAN: 4 260052 385586

„Pour le tombeau de Claude Debussy“ der Pianistin Judith Jáuregui beschäftigt sich mit Werken des französischen Meisters und seines Umfelds. Beginn und Ende des Albums stehen im Zeichen spanischer Komponisten, auf die Debussy großen Einfluss ausübte: Manuel de Falla, dessen Homenaje mit gleichem Titel ‚Pour le tombeau de Claude Debussy‘ wir hören, und Federico Mompou, von dem Jáuregui ‚Jeunes filles au jardin‘ aus Debussys Todesjahr 1918 spielt. In der Mitte des Programms finden wir Debussys Estampes L100 und L’Isle joyeuse, welche umgeben sind von zwei Komponisten, auf die sich Debussy seinerseits bezog: Franz Liszt, dessen Ballade Nr. 2 S.171 gespielt wird, und Frédéric Chopin, von dem Andante Spianato und Grande Polonaise Brillante op. 22 erklingen.

Im vergangenen Jahr hörten wir anlässlich des 100. Todestags von Claude Debussy zahlreiche Aufnahmen seines Werks; zum Ausklang dessen erschien nun Judith Jáureguis CD „Pour le Tombeau de Claude Debussy“, ein Mitschnitt ihres Livekonzerts vom 4. Oktober 2018 im Rahmen der Imperial in Concert Series in Wien. Jáuregui widmet sich Werken, die Debussy prägten, die Debussy komponierte und auf die Debussy Einfluss übte.

Zur ersten Kategorie, die für Debussy maßgeblichen Komponisten, zählen Franz Liszt und Frédéric Chopin. Besonders bei Liszt gibt sich schnell Jáureguis eigener Ton zu erkennen: Bereits in den ersten Takten verblüfft die Pianistin durch ein extrovertiertes und markiges Spiel. Sie hält die umherirrend chromatischen Läufe der linken Hand nicht in geheimnisvoller Dunkelheit, wie man sie meist hört, sondern stellt sie als aussagekräftige Figur in den Raum, zu der die rechte Hand später gleichwertig hinzutritt. Virtuos, aber ohne übermäßige Selbstzurschaustellung durchbrechen die rasanteren Passagen die Stimmung des Beginns, die Ruhepole nimmt Jáuregui nicht zu schleppend in sanglichem Zeitmaß. Chopins Andante Spianato gestaltet die Pianistin zu einem großen Einatmen vor der rasenden Grande Polonaise Brillante: Hier gelingen ihr die größten Kontraste zwischen absoluter Introversion und übermächtig rhythmischen Drang.

Jáureguis Debussy-Aufnahmen sollte man sich mehrfach anhören, um sich in ihre Darstellungsweise einzuhören. Denn sie überrascht durch offenes und vergleichsweise extrovertiertes Spiel, das so gar nicht zu dem üblichen Bild passt, was wir von Debussy haben. Doch es funktioniert! Vor allem Pagodes erscheint anfangs ungewohnt, besticht jedoch durch enormen Farbenreichtum und präzise abgestuften Klang. La soirée dans Grenade ruft sogleich Erinnerungen an das zuvor gehörte Stück de Fallas wach; in Jardins sous la pluie werden die Regentropfen regelrecht spürbar beim Spiel von Judith Jáureguis und man nimmt dieses Stück mit allen Sinnen wahr. L’Isle joyeuse ist der Pianistin förmlich auf den Leib geschrieben, die sprudelnde Energie und die fröhliche Stimmung schmeicheln ihrem Stil das Werk wird zur erquickenden Quelle, die Fernweh evoziert.

Fernweh nach Spanien vielleicht. Das Programm beginnt mit Manuel de Fallas Homanaje ‚Pour le tombeau de Claude Debussy“, welches ursprünglich für Gitarre komponiert wurde und einen Trauermarsch in Form einer langsamen Habanera darstellt – ein von Debussy sehr geschätzter und selbst mehrfach in Noten gesetzter Tanz. Beschlossen wird die CD durch Mompous ‚Jeunes filles au jardin‘. Judith Jáuregui nimmt die Musik temperamentvoll, in jedem Ton klingt Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit mit, dass sie das, was sie spielt, genauso meint. Dabei bleibt die wechselseitige Verbindung zwischen der französischen und der spanischen Musik unverkennbar.

[Oliver Fraenzke, März 2019]

Hommage an einen Jahrhundertmusiker

José Iturbi
Komplette Soloaufnahmen für Victor (RCA) und HMV (EMI) 1933-52
APR 3CD APR 7307 (EAN: 5024709173075)

Domenico Scarlatti: Sonaten h-moll Kk27 & C-Dur Kk159; Johann Sebastian Bach: Toccata BWV 906; Domenico Paradies: Toccata aus der 6. SonateA-Dur; Wolfgang Amadeus Mozart: Sonaten A-Dur KV 331 & F-Dur KV 332; Ludwig van Beethoven: Andante favori & ‚Für Elise’; Robert Schumann: Arabeske op. 18 & Romanze op. 28/2; Franz Liszt: Liebesträume Nr. 3 & Les jeux d’eau à la Villa d’Este; Frédéric Chopin: Polonaise A-Dur op. 53, Fantaisie-Impromptu op. 66, Valses op. 64/1&2, Mazurka op. 7/1, Nocturne op. 32/1, Préludes op. 28/9&10, Étude op. 10/12; Pjotr Tschaikowsky: Juni & November aus ‚Jahreszeiten’ op. 37b; Sergey Rachmaninoff: Prélude cis-moll op. 3/2; Ignace Paderewski: Menuett G-Dur op. 14/1; Filip Lazar: Marche funèbre aus der Sonate a-moll op. 15; Camille Saint-Saëns: Allegro appassionato op. 70; Claude Debussy: Clair de lune, Rêverie, Arabesques Nr. 1&2 (in 2 Versionen), Jardins sous la pluie; Isaac Albéniz: Sevilla op. 47/3, Córdoba op. 232/4, Malagueña op. 165/3; Enrique Granados: Das Mädchen und die Nachtigall aus ‚Goyescas’, Spanische Tänze Nr. 2 ‚Oriental’, Nr. 5 Andaluza & Nr. 10 ‚Danza triste; Eduardo López-Chavarri: Das alte maurische Schloss aus ‚Cuentos y fantasias’; Manuel de Falla: Tanz des Schreckens & Ritueller Feuertanz aus ‚El amor brujo’; Manuel Infante: Sevillañas; José Iturbi: Canción de cuna & Pequeña Danza Española; Morton Gould: Blues No. 3 aus ‚Interplay’ & Boogie Woogie Etude

José Iturbi (1896-1980) war bis in die 1970er Jahre jedermann, der sich ein wenig auskannte, ein Begriff, doch heute kennen ihn nur noch wenige, obwohl er nicht nur zu den bedeutendsten Musikern des 20. Jahrhunderts zählte, sondern seinerzeit bereits das war, was man einen ‚Star’ nennt – wie es das amerikanische Musikleben so mit sich brachte, wenn man dafür geeignet war. Und er war geradezu prädestiniert für Popularität: als so virtuoser wie lebenssprühender und natürlich musikalischer Pianist und Dirigent wie auch als ausgesprochen gut aussehender, charimatischer Bühnenzauberer. Der exzellent informierende Booklet-Essay von Jed Distler lässt uns wissen, dass Thelonious Monk 1961 vom Metronome-Magazin befragt, Iturbi als seinen Favoriten unter den klassischen Pianisten nannte. Und als es 1936 um die Nachfolge Leopold Stokowskis beim Philadelphia Orchestra gegangen war, wäre Iturbi die Wahl des Orchesters gewesen, falls Eugene Ormandy nicht zugesagt hätte. Dafür wurde er dann für ein Jahrzehnt Chefdirigent des Rochester Philharmonic und leitete in der Folge weitere Orchester. Außerdem machte er eine Musical-Karriere in Hollywood. Doch als Musiker ist Iturbi als unfehlbarer Pianist in Erinnerung geblieben. Die Zusammenstellung seiner sämtlichen kommerziellen Soloaufnahmen für RCA Victor und für His Master’s Voice (EMI) auf drei CDs in sensationellem neuen Remastering von Mark Obert-Thorn für APR ist denn auch ein Ereignis, auf welches viele wirkliche Kenner gewartet haben. Um es vorwegzunehmen: Iturbi bildet nicht nur die unbestrittene Spitze der spanische Klavierkunst, er war einer der ganz großen Musiker, und dies ist vielleicht aus ähnlichen Gründen wie bei Leopold Stokowski nie entsprechend allgemein gewürdigt worden, da er sich nicht scheute, das amerikanische Showbiz mitzumachen – allerdings, in beiden Fällen, nicht auf Kosten der musikalischen Qualität. Sein Spiel ist schlicht makellos, wie Klavierspiel überhaupt nur sein kann. Man höre sich nur die unglaublich klare, bestimmte, herrliche groovende Eleganz und niemals auch nur minimal verwischende Geschwindheit des perlenden Figurenwerks im Finale von Mozarts F-Dur-Sonate KV 332 an: es kann eigentlich kaum mozartischer sein in der Quicklebendigkeit, der auch im Intrikaten wunderbar sanglichen Phrasierung, der durchgehenden Gegenwärtigkeit, der Vielseitigkeit und tonlich flexiblen Brillanz der Artikulation, der – einem guten Komponisten und Dirigenten angemessenen – unbestechlichen Intuition für die Spannungsverhältnisse der kadenzierenden Kräfte, der niemals ins Mechanische abgleitenden und durch kein technisches Hindernis auch nur ein wenig ins Hektische, Strikte oder Zögernde sich verspannenden Geläufigkeit, und der immer körperlich spürbaren Liebe zur Musik, und eben nicht narzisstischen Selbstliebe des Elite-Interpreten. Auch hat man nie das Gefühl, hier ginge es um eine Demonstration von Professionalität oder den Beweis irgendeiner Ideologie. Er spielt alles mit chamäleonhafter Anpassungsgabe an die spezifischen Anforderungen des Stils und der formenden Dynamik, und gerade darin offenbart sich in glücklicher Weise seine lichte, stets lebensbejahende, gelöst animierende Individualität. Ganz besonders gefallen mir sowohl seine Scarlatti- als auch seine Mozart-Sonaten, auch wenn ich dort die Rubati für übertrieben halte. Sie sind jedenfalls nicht konventionell, sondern aus dem Zusammenhang empfunden, und das Resultat ist lebendiger, geschmackvoller und unsentimental innig berührender als fast alle stilistisch korrekteren Wiedergaben. Er kann es sich leisten, Akkorde (etwa im Menuett der A-Dur-Sonate) schwungvoll frei zu arpeggieren, ohne dass die den geringsten Ruch der Entstellung bedeutete. Das ist Freiheit im Dienst der Musik. Und sein Alla Turca, gemessen im Tempo und überwältigend in der janitscheranhaften Wucht, dabei niemals vergewaltigend und grob, steht wie ein Leuchtturm über allen originalitätsbeflissenen Versuchen unserer Gegenwart. Auch ist sein Spiel stets vielstimmig vom Bass aus gestaltet, mit orchestraler Farbigkeit und Differenzierung, was sowohl seinem Bach als auch Schumann, Chopin, Liszt oder Tschaikowsky in substanzfördernder Weise zugute kommt. Nein, der ist niemals ein Oberstimmenträumer, aber auch kein gelehrter Prinzipienreiter. Was für ein innerlich reicher, natürlich tiefgründiger Tschaikowsky! Und wie herrlich sein Beethoven – da ist zwar (leider) keine Sonate dabei, aber das großartig durchgestaltete Andante favori (eine echte Referenz) und die niemals den Klischees nahe Miniatur ‚Für Elise’ genügen vollauf, um ihn als großartigen Beethoven-Spieler auszuweisen. Besonders freute mich, den Trauermarsch aus der a-moll-Sonate des früh verstorbenen, in Frankreich heimisch gewordenen rumänischen Komponisten Filip Lazar (1894-1936) in einer so vortrefflichen Aufführung hören zu können! Chopin und Schumann sind auch vorbildhaft, und mit für einer Vielseitigkeit der Einfühlungskraft und Kontinuität des ernsthaften Entwickelns in kleinen Formen. Ja, kein Wunder auch, dass gerade Thelonious Monk ihn so bewunderte, war Iturbi doch stets ein wunderbar federnder, elastischer, mit natürlichem Groove gesegneter Rhythmiker. Bei Debussy bin ich mir bei aller unbestreitbaren Klasse nicht so sicher – hier bedürfte es vor allem einer besseren Aufnahmequalität als damals möglich – was ja auch für die legendären Casadesus-Einspielungen gilt. Hier haben Musiker wie insbesondere Michelangeli ein Maß gesetzt, das einfach unerreicht bleibt. Hingegen ist auch Rachmaninoffs großer Hit, sein cis-moll-Prélude unter Iturbis Händen von einer vollendet feinsinnig geformten Naturgewalt, die heute als zeitloses Vorbild gelten kann.

Natürlich ist er in der spanischen Musik ganz zuhause. Sein Albéniz ist von zauberhafter Grazie und unwiderstehlicher Verve, und mit jenem authentischen Stolz des Ausdrucks, der eine durch alle Dehnungen hindurch tragende rhythmische Kraft beinhaltet, die auch dann noch verhalten feuersprühend ist, wenn die Gegenkräfte der Morbidezza uns in einen Tagtraum-Abgrund ziehen wollen. Diese Musik lodert gefährlich, und auch hier bleibt die so klar durchdachte Darstellung stets unprätentiös spontan im Ausdruck. Großartig auch ganz besonders der 5. Spanische Tanz von Granados, die ‚Andaluza’, i ihren herrlich gezügelt wild züngelnden Bass-Vorschlägen. Manuel Infantes ausufernde ‚Sevillañas’ sind eine etwas schwächere Komposition, doch umso wilder, das Ekstatische klar manövrierende Tänze aus de Fallas ‚El amor brujo’. Iturbi selbst ist hier als Komponist nicht von allzu großem Tiefgang, aber schöne Unterhaltungsmusik ist es allemal, die er teilweise unter dem augenzwinkernden Pseudonym ‚J. Navarro’ veröffentlichen ließ. Und in Morton Goulds Blues- und Boogie Woogie-Charakterstücken ist das Idiom sozusagen todsicher getroffen. Für Pianisten, die wirklich ambitioniert sind, ist diese Box ohnehin ein Muss, ein Vitaminschub für die Seele eines jeden Musikers, die ich mit frischen Kräften ans Instrument zurückkehren lässt. Gewinnbringend ist sie für jedermann, und niemand sollte sich vom historischen Klangbild abschrecken lassen, denn erstens ist dieses grandios ins beste Licht gesetzt, und zweitens wiegt die musikalische und pianistische Substanz alle damit verbundenen Einbußen vielfach auf.

[Christoph Schlüren, September 2016]

Guitar Gala Night

Guitar
GALA NIGHT
Amadeus Guitar Duo . Duo Gruber & Maklar

Michael Praetorius (12571-1621)
Luigi Boccherini (143-1805)
Mauro Giuliani (1781-1829)
Dale Kavanagh (geb. 1968)
Manuel de Falla (1876-1946)
Alexander Borodin (1833-1887)

Naxos 8.551370
EAN: 7 30099 13703 4

„Klang ist noch keine Musik! Klang  k a n n Musik werden!
(Sergiu Celibidache 1914-1996)

So lautet das Fazit über diese CD mit nicht nur zwei, sondern sogar vier Gitarren. Das klingt – wie man seit den „Los Romeros“ weiß – sehr beeindruckend. Wenn schon eine Gitarre – Meister Julian Bream zeigte es immer wieder in seinen Konzerten – so schön klingt, wie  dann erst deren vier!

Aber leider ist dem eben nicht so, denn schön klingen heißt noch nicht gute Musik, dazu gehört eben doch mehr als schnelle Finger und rauschende Akkorde wie z. B. beim alten Schlachtross Boccherini und seinem „Fandango“- Aber wenn es dann ans Eingemachte – sprich Mauro Giulianis op. 130 geht, ein Thema mit Variationen, dann reichen eben 10:14 Minuten Spielzeit keinesfalls, um diese wirklich klassische Musik entstehen zu lassen. Alles wird in rasendem Tempo vorgeführt, die Melodik wird völlig vernachlässigt, es wird bloße Fingerfertigkeit demonstriert,  Klang bleibt Klang, auch da nicht besonders schön oder erlebt, einfach ausgeführt. Wer wissen und hören möchte, wie das Stück klingen kann, höre sich die Aufnahme mit Vater und Sohn Romero an, die „brauchen“ für dasselbe  Stück nämlich nicht nur dreieinhalb Minuten länger , sondern lassen auch „ gelassen“ die Musik entstehen, die übrigens in jedem Stück von Mauro Giuliani versteckt ist. Aber die harrt bis heute – wenigstens bei den meisten Gitarristen – noch auf die adäquate Entdeckung.
In einer Kritik schrieb einmal jemand: „Die Gitarristen mögen sich doch bitte nicht so anstrengen! Ein MG ist halt doch immer noch schneller!“

Aber die Vier werden ihren Weg schon machen, allein die beeindruckenden Worte über die eigene Leistung  im Booklet sprechen Bände und „Mainstream“ sind sie ja allemal, wie die Auswahl bekannter „Reißer“ auf dieser (überflüssigen) CD beweist. Aber allein der Anblick von vier Gitarre spielenden Nichtmusikern reicht den  meisten Besuchern aus, das klingt auch noch schön, ist superschnell exekutiert und alles andere – die Musik zum Beispiel – ist dann egal.

(Nachsatz: Das DING heißt ja leider nicht ganz umsonst im allgemeinen Sprachgebrach „Klampfe“ und am Lagerfeuer ist es heiß begehrt. Aber Musik diesen sechs Saiten zu entlocken ist eine verdammt schwierige und mühsame Angelegenheit. Als Sänger und Gitarrist, der ich selber bin, maße ich mir dieses persönliche Urteil über diese CD an.)

[Ulrich Hermann  Februar 2016]

Zu den Wurzeln

Martin Fröst
Roots
The Royal Stockholm Philharmonic Orchestra

Verschiedenste Stücke verschiedenster Couleur

Sony Classical 88875065292

8 88750 65292 8

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Voilà! La Musique!  Vom ersten Ton auf dieser CD mit dem schwedischen Klarinettisten – und Ausnahme-Musiker – Martin Fröst bis zum letzten: einfach nur Musik! Aber was für eine! Von alten Griechen – Seikilos-Epitaph – über Georg Philipp Telemann (1681-1767), über schwedische Folklore, jiddische Klezmer-Musik, Bernhard Crusell (1775-1838), einem der Ahnväter der schwedisch-finnischen  Musik, Johannes Brahms (1833-1897), Robert Schumann (1810-1856), Béla Bartók (1881-1945), Manuel de Falla (1876-1946), Astor Piazzolla (1921-1992) bis hin zu zeitgenössischen schwedischen Komponisten wie Göran Fröst (geb. 1974), Anders Hillborg (geb. 1954) und dem Letten Georgs Pelècis (geb. 1947) brennt dieser „Klarinetten-Spieler“ ein musikalisches Feuerwerk vom Hinreißendsten ab, aufgenommen  in hervorragender Klangqualität, was einem immer wieder staunende Bewunderung „abnötigt“. Er selbst beschreibt seine „roots“, also die Wurzeln seines Musizierens als riesigen Bogen von ersten Tönen bei den alten Griechen bis zu rein Improvisatorischem. Diese Wurzeln öffnen für Martin Fröst eben auch dadurch die Türen für eine Musik der Zukunft, wie sie sein großer Landsmann, der schwedische Komponist Anders Eliasson (1947-2013), in seinen Kompositionen schon aufgestoßen hat. Vielleicht hören wir demnächst auf einer neuen CD diesen wunderbaren Musiker einmal mit den grandiosen Klarinettenwerken von Eliasson, und dürfen Zeugen sein, wie beide durch dieses Tor durchgehen und uns einen musikalischen Ausblick in eine noch unerschlossene Zukunft der Menschheit ermöglichen.
Ob mit einer der ältesten überlieferten Melodien, dem griechischen Seikilos-Lied, dem sich  ein Stück von Hildegard von Bingen nahtlos anschließt, ob Stücke aus der schwedischen Folkore oder Klassisches vom finnisch-schwedischen Komponisten Bernhard Crusell zusammen mit dem Royael Stockholm Philharmonic Orchstra, die 5 Stücke im Volkston von Robert Schumann oder Rumänische Tänze von Béla Bartók oder aber Stücke im Blues-Charakter oder tangoähnliche von Astor Piazzolla oder Georgs Pelécics, immer überzeugt die überwältigende Spielfreude und musikalische Präsenz des Martin Fröst, man kann sich beim Hören nicht enthalten, selber ins Tanzen zu kommen, wie es dem Klarinettisten ja auch beim Spielen auf dem blauen Coverbild zu überkommen scheint. Musica vincit omnia – wie der alte Lateiner sagt.
Natürlich könnte ich über jedes dieser Musikstücke auf der CD seitenlang schwärmen, aber am besten ist es, diese CD sofort selber anzuhören, sie ist es im allerhöchsten Maße wert und zeigt die immerwährende Kraft wahrer Musik als einer diese Welt wenigstens eine Zeit lang transformierende musische Möglichkeit. Die Hoffnung stirbt – glücklicherweise – immer noch zu allerletzt.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

Nimm zwei

Alpha Classics CD 211; Outhere Music ; EAN: 3 7600141 192111

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PATRICIA KOPATCHINSKAJA
TAKE TWO
Duos from a thousand years of
musical history for young people
aged from 0 to 100

Music by
Jorge Sanchez-Chiong (*1969) Heinz Holliger (*1939) Leo Dick (*1976) Heinrich Ignaz Franz von Biber (1644-1704) Winchester Troper (early 11th century) John Cage (1912-1992) Darius Milhaud (1892-1974) Manuel de Falla (1876- 1946) Mauricio Sotelo (*1961) Orlando Gibbons (1583-1625) Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377) Bohuslav Martinû (1890- 1959) Claude Vivier (1948-1983) Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Performed by
Patricia Kopatchinskaja violin, baroque violin & voice
Jorge Sanchez-Chiong electronics & turntables
Anthony Romaniuk Harpsicord & toy-piano
Reto Bieri clarinet, okarina & violin
Laurence Dreyfus treble viol
Matthias Würsch darbuka
Pablo Marquez Guitar
Ernesto Estrella voice

Alice muse & painting

Suchen Sie für Ihr Kind – falls es schon alt genug dafür ist – einen passenden Adventskalender für dieses Jahr? Hier ist er! Die neue CD der Geigerin Patricia Kopatchinskaja ist genau das Richtige, 24 Stücke vom 11. Jahrhundert bis heute, am Heiligen Abend dann als Höhepunkt Bachs „Chaconne“ aus der Partita d-moll für Violine solo, improvisierend begleitet am Cembalo vom Australier Anthony Romaniuk, der seine Kunst noch bei drei weiteren Stücken ( Biber, Cage & Martinu) zeigen kann. Natürlich spielt die moldawische Virtuosin all ihre Trümpfe aus, nicht nur musikalisch auf exzellentem Niveau, auch pädagogisch und im wunderhübschen, einfallsreichen Booklet, das schon fast ein richtiges Buch geworden ist, samt Erklärungen zu den einzelnen Komponisten, ihren Stücken, und einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter à la Alice in Wonderland. Der Bogen, den uns diese CD spannt, reicht zurück bis in die Anfänge der Zweistimmigkeit im 11. Jahrhundert, wo ein Alleluja auf Geige und Diskantgambe – gespielt von Laurence Dreyfus, dem Leiter des hervorragenden Gamben-Ensembles „Phantasm“, der noch zwei weitere Male mit seinem Instrument zu Wort kommt – einen wunderbar entspannenden Kontrast zu Leo Dicks Entrée burlesque: Prelude to the music theatre piece «au contraire» bildet. Zu jedem der 24 Stücke hat sich Kopatchinskaja sicher ihre Gedanken gemacht, mit jedem der erwähnten Musiker spielt sie mit größtem Spaß und spürbarer Freude, die jedem aufgeschlossenen Zuhörer und sicher auch den angesprochenen Kindern gefallen wird. Der Schweizer Klarinettist Reto Bieri entzückt mich besonders bei Darius Milhauds «Jeu» (Vif) aus der Suite für Violine, Klarinette und Klavier op. 157B, an anderer Stelle spielt er Okarina oder sogar Geige, es ist eine Überraschung nach der anderen, womit diese CD aufwartet. Sogar Heinz Holliger ist mit drei Stücken mit von der Partie, eines davon nach einer kleinen Geschichte von Patricias Tochter Alice – auch die Rechtschreibfehler sind einkomponiert –, und die Mutter realisiert dieses originelle Werk mit ihrer Stimme und Geige. Am wenigsten gefallen mir persönlich die Stücke ihres Studienkollegen Jorge Sanchez-Chiong, der Elektronisches und Plattenteller mit ins Spiel bringt, aber das mag für andere Ohren anders und aufregender klingen. Auch Melodramatisches für Violine und Poet ad. lib. ist vertreten vom Spanier Mauricio Sotelo, der sich vom Flamenco beeinflussen lässt, dazu rezitiert Ernesto Estrella stimmgewaltig und hochdramatisch sein Poem „noche cerrada“. Ebenso ist Otto Matthäus Zykan – er spielte vor Jahren Schönbergs Klaviermusik ausgezeichnet ein –  dabei mit der Komposition „Das mit der Stimme“ von 2001 für Geige und Stimme.
Natürlich klingen die Stücke von Gibbons und Machaut für einen Renaissance-Liebhaber besonders schön, aber die Abschluss-Chaconne bringt dann doch noch ein ganz besonderes Erlebnis: Ein solch bekanntes Stück mit einem einfühlsamsten Begleiter neu zu entdecken und zu gestalten, das ist der Höhepunkt für den Heiligen Abend dieses musikalischen Advents-Kalenders, auch wenn er vermutlich gar nicht als solcher geplant und gedacht war und ist: Es gibt keine Zufälle, aber Fügungen! Und diese CD ist eine besonders schöne Fügung im Jahr 2015.

[Ulrich Hermann, Oktober 2015]