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Potpourri voller Überraschungen

Musiques Suisses MGB CD 6284

Juon_Silhouettes_Cover

Die jungen Geigentalente Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann bringen, zusammen mit ihrem Klavierpartner Benyamin Nuss, lang in Vergessenheit geratene Kammermusik-Kostbarkeiten von Paul Juon zum Erklingen

Rechtzeitig zum 75. Todesjahr des Russischen Brahms mit Schweizer Wurzeln, Paul Juon, hat Musiques Suisses eine CD herausgebracht, die das breite Spektrum des Geigers und Professors für Komposition und Kammermusik unter Beweis stellen. Die talentierten Geigerinnen Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann, letztere bereits weithin bekannt als Konzertsolistin, erarbeiteten mit Benyamin Nuss als vorzüglichem Klavierpartner zwei Werkgruppen – den Silhouettes-Zyklen, genannt Bücher, und die sieben kleinen Tondichtungen –, in denen Juon ausschließlich mit der seltenen Besetzung für zwei Violinen und Klavier agiert und beweist, dass diese dem klassischen Klaviertrio in nichts nachsteht.

Das erste Buch der Silhouettes erklingt unter den Händen der jungen Musiker mit gekonnter Balance zwischen Klangsinnlichkeit (manchmal an der Grenze zum Schmalz) und formalem Einfühlungsvermögen. Halten sich die Idylle und der Douleur noch eher im Rahmen anspruchsvoller Salonstücke, so bietet die Bizarrerie – so lang wie beide Sätze davor zusammen – schon deutlich symphonischere Züge. Allein das innere Wesen dieses Schlussstückes strotzt nur so von einer für Juon charakteristischen Polarität, sprich zwischen ausgelassener Vitalität als Beginn und Ende und versonnener Melancholie in der Mitte.

Deutlich andere, ja nahezu mulmige Töne schlägt der Anfang des zweiten Buches an. Tatsächlich fühlt man sich wie am Ende von Schuberts Winterreise, sobald der Conte mysterieux, sprich der unheimliche Graf erklingt, zumal die gedämpften Geigen und das in der Begleitung reduzierte Klavier deutlich an den Leiermann erinnern. Doch Juon wäre nicht er, wenn auch nicht dieser Satz eine für seinen Stil charakteristische Abwechslung beinhaltete. Lichter wird der Satz, lebendiger die Klavierbegleitung – um dann wieder in die gedämpfte Stimmung des Beginns zurückzufallen. Dabei ging es Juon offensichtlich nicht um bloße Schauerromantik, vielmehr huldigte er wie so viele seiner Kollegen seinerzeit alten Formen und Tänzen, wie die Musette miniature, Danse ancienne beweist. Spätestens hier kommt die Stärke des Trios Sosnowski-Hartmann-Nuss zum Tragen: eine ernste, aber unbeschwerte und neugierige Herangehensweise an jeden einzelnen Satz. Klingt der Conte zwar deutlich düster, aber nicht zu schwer, so überzeugt aufgrund dieser Fähigkeiten zur Differenzierung nicht weniger die Musette, die sich leicht und semibarock, aber nicht oberflächlich anhört. Die Parallele zu Grieg und dessen Huldigung an Holberg ist unüberhörbar. Daraufhin ist es der Schlusssatz, der die Musiker vor besondere inhaltliche Herausforderungen stellt: Nach einem wuchtigen und fast etwas zu groben Klavierbasssolo zu Beginn der Obstination entspinnt sich eine bloße Kontrapunktik, die bezeichnenderweise auf einem Basso ostinato, dem Motto dieses Finales, basiert. Die Bewertung dieses Kontrastes fällt nicht leicht angesichts der vorhergehenden Charakterstücke: Paul Juon beweist spätestens hier, viel mehr als ein bloßer Unterhaltungsmusiker zu sein, da er all seinen spieltechnischen und innermusikalischen Anspruch gerade auf diesen Schluss der ersten Silhouettes-Serie konzentriert. Gleichzeitig hat es den Anschein, als gerate er damit an seine Grenzen, da die Obstination in ihrem heterogenen Aufbau etwas überladen wirkt, was auch die klangfreudige und souveräne Aufführung nicht ganz vergessen machen kann.

Dessen ungeachtet kann man dieser wie der darauffolgenden zweiten Serie (drittes Buch) entnehmen, dass Juon seine Ziele beharrlich verfolgte und sich weiterentwickelte. Erfreulich ist beim eröffnenden Prélude, wie der Anspruch nach mehr Komplexität sich mit gekonnter Knappheit verbindet. Der Komponist, der hier seiner Verehrung sowohl für Tschaikowsky als auch für Brahms Ausdruck verleiht, zeigt außerdem gerade in dieser Eröffnung – wie könnte es anders sein! – eine Nähe zu J. S. Bach, ohne dabei je epigonal zu klingen. Ruppige Geigenkaskaden und eine herbere Harmonik sprechen ihre eigene Sprache.

Aber wie so oft ist Juon mit seinen unterschiedlichen Nationalitäten in Personalunion für Überraschungen gut. Auf das Prélude, dem man eine gewisse Neigung zum Handwerk anhört, folgt als deutlicher Kontrast ein Chant d´amour. Mittlerweile haben die Silhouettes sich jedoch von ihrem schlicht-schönen Anstrich als romantische Charakterstücke entfernt – der Chant d´Amour erinnert mit seiner weithin verschachtelten Harmonik gleichermaßen an Szymanowskis Kammermusik und Alban Bergs frühe Lieder. Demgemäß erklingt hier kein zartes Ständchen, vielmehr gestalten Leidenschaft, der die Musiker freien Lauf lassen, und Dramatik im Wesentlichen die Liebesszene, die dennoch versöhnlich verklingt.

Anstatt darauf einen wohlfeilen Kehraus folgen zu lassen, bricht Juon mit seinen eigenen Konventionen und erweitert die zweite Serie nun um ein vielfaches, da er aus dem nächsten Satz gleich drei macht: Ein kurzes erstes Intermezzo klimpert in den Geigen und dem Klavier vorbei. Als wolle er mit den Hörern seinen Spaß treiben, schiebt Juon eine kurze Walzerepisode ein, die so rasch verklingt, wie sie daherkam. Sosnowski, Hartmann und Nuss finden selbst in diesem Epigramm den Ausgleich, indem sie weder sich noch das Stück zu wichtig nehmen, aber auch nicht in lieblose Routine verfallen. Im zweiten, gesanglichen Intermezzo Tranquillo erklingt zunächst ein Lied ganz im Stile des Wiegenliedes Opus 49/4 von Brahms, nur um langsam umzuschlagen und sich zu einem Tanz mit Bordun aufzuschwingen. Dieser Vorgang wiederholt sich innerhalb kürzester Zeit und offenbart, wie viel der Komponist auf kleinsten Raum zum Ausdruck bringen konnte.

Ähnlich gestaltet, aber deutlich russischer erklingt das dritte Intermezzo. Reizvoll ist hier vor allem die Stimmgleichberechtigung der zwei Violinen neben dem Klavier, mit der diese kurzen Stimmungsbilder abschließen. Deutlich erklingt nun die Melancolie, deren Intimität auf motivischen Kombinationen und konzentriertem Ausdruck beruht. Ein gelösterer Mittelteil in H-Dur verläuft sich in Seufzern der ersten Violine und fällt wieder zurück in die unbeantwortete Frage des Anfangs. Wie um den nun fälligen Bogen zum Anfang zu spannen, beschließt diese zweite Serie ein Danse grotesque. Wieder ist es die Neigung zum Makabren und Ausgelassenen am Ende eines Zyklus, die Juon hier sehr beherrscht hervorkehrt.

So bilden allein die Silhouetten einen Kosmos, der Paul Juon als sehr begabten Komponisten, als Russen und Weltbürger zugleich vorstellt. Mit den anschließend dargebotenen Sieben kleinen Tondichtungen op. 81 gelangt seine sehr ausgewogene Tonsprache zu größeren Dimensionen, wie sich dies schon im ersten Gedicht, der Pastorale, offenbart. Erscheinen die Silhoutten noch wie spielerische Experimentierfelder, so findet Juon hier zu einer abgeklärten und formal ausgereiften Sprache, welche die Eröffnung schon als Einzelwerk gelten lassen könnte. Auch das darauffolgende Intermezzo hat im Vergleich zu seinen Silhouetten-Geschwistern deutlich an Eigenständigkeit gewonnen. Wie man den fünf restlichen Nummern entnehmen kann, ist der Komponist seinem Prinzip, eingängige Charakterstücke mit gemischten kompositorischen Stilen zu schmücken, ohne dabei nachahmend zu wirken, insgesamt treu geblieben. Dies beweisen das ausgelassene Impromptu, das abermals an Grieg, diesmal dessen norwegische Springtänze, erinnert, die Barcarole, in welcher die Jahreszeiten von Tschaikowsky anklingen, sowie das spritzige Capriccietto, das zwischendrin mit ruhigen Tönen besticht. Originell, ja von archaischer Erhabenheit ist das vorletzte Tongedicht, die Ciaconna. Ätherisch schlängelt sich deren Soggetto durch die Geigen, dann durch das harfenartige Klavier, nur um sich zu temperamentvoller Entfaltung aufzuschwingen. Wie schon im Prélude der Silhouetten belässt es Juon auch hier nicht bei bloßer Handwerksübung, sondern entwickelt die Chaconne im kurzen, aber nicht allzu knappen Rahmen eigenständig weiter und schafft Kontraste, indem er sie im brachen d-Moll verklingen lässt. Dafür beschert er uns dann einen heiteren Schluss der Tondichtungsgruppe in Form der Burletta, welche ein letztes Mal seine Vorliebe für brillante Kehraus-Stücke unter Beweis stellt.

Als Fazit für dieses Potpourri voller Überraschungen gilt durchaus, was der Präsident der Internationalen Juon-Gesellschaft, Ueli Falett, im Booklet der vorliegenden Erscheinung schreibt: Es kommt dem Komponisten vor allem auf Ausdrucks- und weniger auf Formalmusik an. Obgleich Juon, wie man bei genauem Hinhören erfährt, auch der Form die Chance zur Entfaltung gibt, reduziert er sie im Großen und Ganzen auf einen soliden, meist dreiteiligen Rahmen und widmet sich ganz seiner vielfältigen Klangsinnlichkeit. Herausgekommen ist eine CD, die zur Entdeckung eines völlig zu Unrecht vergessenen, konservativen Meisters der Zeit des Umbruchs zur Moderne einlädt und jeden Hörer ohne musikideologische Vorurteile ansprechen sollte.

 [Peter Fröhlich, August 2015]