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Totgesagte leben länger: Robert Simpsons Symphonien Nr. 5 & 6

Lyrita, SRCD 389 (Vertrieb: Naxos); EAN: 5 020926 038920

Dass die Symphonie tot sei, war sozusagen angesagte Losung einer ganzen Generation von Komponisten, Intendanten, Dirigenten und Musikkritikern. Eine der dümmsten Losungen aller Zeiten, und – so könnte man sagen – „Totgesagte leben länger“. Dieser Versuch der Geschichtsbeeinträchtigung seit Anfang der 1950er Jahre stammt zudem ausgerechnet aus einer Zeit, in welcher einige der größten Symphoniker unbeeindruckt von derartigem ideologischen Quatsch munter weitergewirkt haben – es sei aus der älteren Generation hier nur an Egon Wellesz, Lászlo Lajtha, Sergej Prokofieff, Darius Milhaud, Arthur Honegger, Havergal Brian, Max Butting, Hilding Rosenberg, Willem Pijper, Walter Piston, Roberto Gerhard, Paul Hindemith, Harald Sæverud, Alexander Tansman, Marcel Mihalovici, Alexander Tscherepnin, Carlos Chávez, Ernst Krenek oder Edmund Rubbra erinnert. Und dann natürlich der heute alles überragende Dmitri Schostakowitsch, umgeben von Meistern wie William Walton, Aram Chatschaturian, Eduard Tubin, Karl Amadeus Hartmann, Vittorio Giannini, Michael Tippett, Henk Badings, Sándor Veress, Vagn Holmboe, Daniel Jones, William Schuman oder Witold Lutoslawski. Die meisten werden das wenigste davon kennen, was sich freilich kontinuierlich verändert, denn die ideologischen Barrieren sind längst aufgeweicht. In den folgenden Generationen geht es unverändert so weiter, bis heute wird die Symphonie reich und substanziell gepflegt, wobei gewiss auch zu konstatieren ist, dass sich der Gattungsbegriff generell sehr erweitert hat. Hans Werner Henze, von den deutschen Fachidioten in ihrem geistigen Schrebergärtnertum immer wieder als „letzter Symphoniker“ tituliert (welche Peinlichkeit für die hiesige Musikwissenschaft!), war unter all den Symphonikern seiner Generation beispielsweise eher ein prätentiöser Zwerg, auch wenn er seine Symphonien teils sehr elefantenhäutig instrumentierte (Nr. 7 und 9). Und an dieser Stelle sei nur noch ein Blick auf die Spitze des Eisberges geworfen, also auf die Meister neben und nach Schostakowitsch, die mit einem vergleichbar umfangreichen symphonischen Œuvre hervorgetreten sind: der schwedische Einzelgänger Allan Pettersson mit 16, der sowjetisierte Pole Mieczyslaw Weinberg mit 22, der irophile Brite Robert Simpson mit 11, der St. Petersburger Russe Sergej Slonimsky mit 33 und heute der Finne Kalevi Aho mit bislang 17 Beiträgen.

Äußerster Pol des Unsentimentalen

Unter diesen Serientätern nimmt Robert Simpson (1921–1997) eine einzigartige Position ein. Ohne Umschweife kann man seine Musik als äußersten Pol des Unsentimentalen in der Musik des 20. Jahrhunderts definieren. Er hält sich mit keiner Stimmung, mit keinem Sentiment auf, und sei es noch so verzaubernd und verlockend, wie so oft in seinem Schaffen. Seit geraumer Zeit ist die Gesamteinspielung seiner Symphonien unter Vernon Handley (Hyperion) nicht mehr verfügbar, und daher ist es emphatisch zu begrüßen, dass nun doch noch in seinem Jubiläumsjahr 2021 – mit Unterstützung der Robert Simpson Society – bei Lyrita Records eine CD mit den BBC-Uraufführungsmitschnitten seiner Symphonien Nr. 5 (1972) und Nr. 6 (1977) erschienen ist – diese Werke stehen so ungefähr im zeitlichen Zentrum seines Lebenswerks und bestechen unmittelbar mit der enormen Spannweite des Ausdrucks zwischen harscher, strukturell strikter Offensivkraft und herrlichster lyrischer Introspektion, durchaus in maximalem Kontrastverhältnis zueinander ausgeführt. Dass Simpson sich stark von Haydn und Beethoven, von Bruckner und Carl Nielsen beeinflusst wusste, wird – ganz besonders im Falle Nielsen – hier schnell sinnfällig.

Universelle Gesetzmäßigkeiten

Exzellent ist hier vor allem die Aufführung der Fünften Symphonie durch das London Symphony Orchestra unter dem damals jungen, bis heute für hohe Qualität bürgenden Andrew Davis (1973). Die in einem 39 Minuten langen, durchgehenden Satz sich artikulierende Gesamtform wird von zwei mächtigen Allegrosätzen gerahmt, die das Zeug haben, das Erbe der Beethoven-Bruckner-Tradition in erneuerter Form weiterzutragen. In der Mitte finden wir ein knappes, unerbittlich treibendes Scherzo, und als langsame Zwischenspiele sind zwei intim verwobene Canoni eingefügt, die in scharfem Gegensatz zu den schnellen Sätzen stehen.

Die Aufführung der Sechsten Symphonie 1980 durch das London Philharmonic Orchestra unter Charles Groves ist, wie auch der Bookletautor bezugnehmend auf die Aussagen des Komponisten bestätigt, viel roher, al fresco. Das 33minütige Werk gliedert sich in zwei große Abteilungen und fesselt mit ungeheuerlichem Momentum. Und obwohl die Aufführung fern einer idealen Erfüllung bleibt, ist diese Aufnahme zumindest für all jene unverzichtbar, die bereits wissen, dass Simpson zu den größten Meistern des 20. Jahrhunderts zählt und es sich lohnt, alles von ihm zu haben: Denn es wird hier die Urfassung der Sechsten gespielt, und Simpson hat zum Beispiel den Anfang in der revidierten Fassung komplett geändert. Natürlich wird diese Musik nicht jedem gefallen – also weder den bequemlichen Traditionalisten, die auf Gefälligkeit Wert legen, noch den besserwisserisch belehrenden ideologischen Fanatikern des dystopischen Post-Holocaust-Bruchs mit jeglicher Tradition –, doch wer sich darauf einlässt, kann sich dem Sog kaum entziehen. Und wenn man das Gefühl hat, sich hier auf ein unerbittliches Rauhbein eingelassen zu haben, dann erlebt man umso überraschter, zu welch subtiler Zärtlichkeit Simpson in der Lage, sobald er die Musik in die ganz und gar ungegenständlichen Gefilde jenseits des forschen Drangs, des unaufhaltsamen Momentum wandern lässt – nicht weniger streng, aber dies ist dann ausschließlich die innere Disziplin, die er niemals vermissen lässt. Simpson liebte die Astronomie, und auch in der Musik vertraute er auf universelle Gesetzmäßigkeiten. Nachdrückliche Empfehlung!

[Christoph Schlüren, Dezember 2021]

Gelungene Hommage an einen Traditionalisten

Lyrita SRCD.367; EAN: 5 020926 036728

Das immer um eine Erweiterung der Diskographie weniger bekannter britischer Komponisten bemühte Lyrita-Label hat dem erst kürzlich verstorbenen John Joubert (1927-2019) eine neue CD gewidmet. Es erklingen das Klavierkonzert von 1958 sowie die 3. Symphonie (2014-17). Das BBC National Orchestra of Wales spielt unter der Leitung von William Boughton.

Obwohl in Südafrika geboren und anfänglich dort ausgebildet, darf man John Joubert rückblickend – vor allem wegen seiner Beiträge zur Chormusik – getrost zu den typisch britischen Komponisten zählen, die einer eher konservativen musikalischen Ausrichtung treu geblieben sind. Zu Jouberts Lehrern später in London gehörte neben Howard Ferguson aber auch kurzzeitig Alan Bush; so verwundert es nicht, dass Joubert durchaus mit allen modernistischen Strömungen vertraut wurde und in vielen seiner Werke ebenso politisches Engagement zeigt. Ein Beispiel dafür wäre die 2. Symphonie (1970), die das Sharpeville-Massaker in seinem Heimatland thematisiert.

Stilistisch irgendwo in der Nähe früher Moderne einzuordnen ist das Klavierkonzert von 1958. Einheitsbildend für alle drei Sätze ist schon das markante Eröffnungsmotiv aus vier wiederholten Noten. Die Ecksätze sind von vitaler Rhythmik geprägt; das Klavier kann brillieren, bleibt indessen gleichzeitig stets ins Orchestergeschehen eingebunden ohne dieses zu dominieren. Der musikalische Höhepunkt des Konzertes ist zweifellos der zweite Satz, formal den „Nachtstücken“ bei Bartók verwandt – ohne deren Naturschauder, dafür mit hochexpressiver Lyrik. Der erfahrene britische Pianist Martin Jones ist ein Garant für fesselnde Virtuosität und gleichermaßen konzentrierten Ausdruck. Dirigent William Boughton – ein Enkel des Komponisten Rutland Boughton – holt konsequent die klaren musikalischen Strukturen heraus und entlockt der sparsamen Orchestrierung doch eine erstaunlich breite Farbpalette. Jouberts Klavierkonzert ist über weite Strecken prägnant, freilich ohne an die Qualitäten von York Bowens oder gar Benjamin Brittens Gattungsbeiträgen heranzukommen.

Die fünfsätzige 3. Symphonie – über Themen aus der Oper Jane Eyre – verarbeitet Material aus Orchesterzwischenspielen des bereits 1997 fertiggestellten Bühnenwerks zu in der Tat symphonischen Sätzen von eindringlicher, abwechslungsreicher Ausdrucksqualität. Die Re-Instrumentation für volles Orchester mit dreifachen Bläsern sorgt zudem für einen Panoramaklang, der bei den Höhepunkten oft an Filmmusik (Bernard Herrmann!) erinnert, aber rührselige Kitschmomente vermeidet. Die einzelnen Sätze tragen allesamt Titel von Örtlichkeiten aus Charlotte Brontës Roman und verdeutlichen deren psychologische Bedeutung im Handlungsverlauf als verständliche Stimmungsbilder. Das wirkt wirklich liebenswert, bei aller handwerklichen Meisterschaft dann jedoch trotzdem immer noch recht altmodisch. Auch hier gelingt Boughton mit dem BBCNOW eine überzeugende und einfühlsame Darbietung. Da es bislang nur wenige kommerzielle Aufnahmen mit Musik von Joubert gibt, ist diese CD auf alle Fälle ein willkommener Beitrag, nicht nur für enzyklopädische Sammler.

[Martin Blaumeiser, August 2019]

Rubbra spielt Rubbra

Label: Lyrita; Vertrieb: Naxos; EAN: 5020926113429 / Art.-Nr.: REAM1134

Edmund Rubbra ist einer jener britischen Komponisten, die so gar nicht in das Klischee vom pastoralen Spätromantiker passen wollen, das man den britischen Musikgrößen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Britten ausgenommen) stets gern und stets unreflektiert ans Revers heftet.

Rubbra ist ein Komponist, der weder im Fahrwasser Elgars Großbritanniens Glanz und Gloria verbreiten wollte, noch im Umkreis der Volksliedsammler unterwegs war, noch im Umfeld der Neuerer um Britten oder Tippett zu suchen ist. Rubbra ist im Wesentlichen Rubbra. Und das hat es ihm schon zu Lebzeiten nicht unbedingt leicht gemacht. Seine zuweilen schrullige, mit Versatzstücken aus fernöstlicher Musik ebenso wie mit einem chromatischen Blick zurück über die Schulter der Musikgeschichte angereicherte Musik lebt von einem der außergewöhnlichsten Personalstile in der Musik des 20. Jahrhunderts.

Ein ganz eigener Querkopf schreitet auch in der „Sinfonie Concertante“ Op. 38 selbstbewusst und etwas rumpelig durch das Orchester. Es ist der Komponist selbst, der hier als Solist am Klavier seine eigene Komposition mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Leitung Hugo Rignolds vorträgt. Es ist, man ahnt es, ein Stück mit vielen Gesichtern: Antik wirkende Satzbezeichnungen wie „Fantasia“ und „Saltarella“ beinhalten Musik, die wirkt, als hätte sich der kompositorischer Geist Rubbras in einem einzigen Rausch über das Notenpapier ergossen: Sich stetig abwechselnde Ideen, Versatzstücke fast, kaum etwas wird motivisch fortgeführt, entwickelt, vieles wirkt wie akustisch in den Raum gestellt, sehr plakativ. Wüsste man nicht, dass diese Musik von einem Engländer geschrieben wurde, hätte man sie auch problemlos als Musik eines indischen Kolonialkomponisten akzeptiert.

Die „Sinfonia Concertante“ ist eine alte Gattung, war sehr beliebt bei den Komponisten der Mannheimer Schule und Frankreichs des 18. Jahrhunderts, Mozart griff die Gattung auf, bis sie im 20. Jahrhundert – kurios genug – ausgerechnet in Großbritannien viele Anhänger fand, darunter neben William Walton, der vielleicht das bekannteste moderne Beispiel für die Gattung lieferte, eben auch Edmund Rubbra. Er verstand die Gattung weniger als Konzert (wie es viele seiner Kollegen ziemlich unverhohlen taten), sondern stärker im Sinfonie-Sinne, bei der das solistische Klavier gleichzeitig auch Ensemblefunktionen innehat. Sehr originell, sehr eigen, sehr ungewöhnlich… Rubbra eben.

Es folgen die „Prelude and Fugue on a theme of Cyril Scott“ Op. 69 sowie eine Eigenkomposition Cyril Scotts, die Edward Rubbra als Pianist solo vorträgt. Cyril Scott war Rubbras großes Idol und sein Privatlehrer, nachdem der 17-jährige Rubbra ein Konzert mit Musik Scotts organisiert hatte und dadurch dem Meister positiv aufgefallen war. Bemerkenswert ist, wie viel Seele, welche Innigkeit Rubbra als Interpret in seinen Scott-Vortrag legt. Er wirkt hier als Pianist wie ausgewechselt. Keine Spur mehr vom rumpelig-hemdsärmeligen Stil, den Rubbra bei der Interpretation seiner eigenen Kompositionen pflegt. Hier ist plötzlich ein Pianist, der um Kantabilität, feinste dynamische Abstufungen, Empfindungstiefe bemüht ist. Das Cyril Scott-Stück „Consolation“ ist freilich auch ein sehr dankbares Objekt, um diese Vortrags-Charakteristika ausgiebig zu demonstrieren.

Nachdem wir bis hierhin Rubbra selbst als Interpreten hören konnten, begegnet uns im Violinkonzert Solist Endré Wolf mit dem BBC Symphony Orchestra, dirigiert von Rudolf Schwarz. Die Einspielung von 1960 ist die älteste und klanglich problematischste in diesem Set aus BBC-Mitschnitten, die nur dank der privaten Rundfunkaufnahmen des Lyrita-Gründers Richard Itter überlebt haben. Die beiden anderen, die klanglich durchaus zu gefallen wissen, datieren auf 1967. Es fällt schwer, das Stück zu beurteilen angesichts eines Aufnahmeklangs, bei dem Teile des Orchesters wie verschluckt zu sein scheinen, während die Solostimme im Mono-Mix alles andere überdeckt. Doch eines ist klar: Die Interpretation ist hier alles andere als ideal. Endré Wolf besitzt vor allem in den anspruchsvollen Doppelgriffen und Modulationen keine sichere Intonation. Es ist schwierig, sich das mit Genuss anzuhören. Solostimme und Orchester wirken nicht nur klanglich sondern auch interpretatorisch wie zwei getrennte Einheiten. Das macht einfach keinen Spaß.

Für Rubbra-Fans dürfte sowieso die andere Hälfte des Albums interessanter sein, wo der Komponist als Interpret eigener Werke und Werke seines Mentors Cyril Scott in Erscheinung tritt. Und dieser Teil des Albums darf auch in der Tat musikhistorische Bedeutung für sich verbuchen und ist für damalige BBC-Verhältnisse mit sehr gutem Klangbild produziert. Soweit also eine Empfehlung für Fans britischer Musik abseits ausgetretener Pfade.

[Grete Catus, August 2017]

Lohnend, da zwiespältig

Lyrita, EAN: 5 020926 112125

William Wordsworth (1908-1988), britischer Komponist und hierzulande kaum bekannt.
Ein Urteil anhand dieser Einspielungen: zurecht unbekannt?

  1. Ja.

Weil seine tonal-basierte Tonsprache sich unverkennbar an großen, slawischen Vorbildern orientiert. In reiferen Jahren sich immer mehr an Klangbildern zeitgenössischer Kollegen wie Witold Lutoslawski, Miloslav Kabelac anzulehnen scheint. Man mag das unter Gleichzeitigkeit verbuchen – dieses „so nah“-Sein. Spätestens in der 1960 veröffentlichen Symphonie No. 5 a-moll erweist sich Schostakowitsch als unüberhörbares Vorbild: instrumentatorisch und hauptsächlich atmosphärisch. Klänge frostiger Verlassenheit und Trauer. Einsame Holzbläser-Soli über Streichergrund.

Und dann spricht er im Finale in britischem Zungenschlag, als fände er vom Vorbild nach Hause zurück. Die Musik ist von ernsthaftem Anliegen getrieben, stark im Ausdruck, voller plastischer Emotion. Transparent, auch im Massiven. Nahezu elegisch in ruhigen Augenblicken der Reflektion des eben Erklungenen.

Was fehlt? Schwer, das in Worte zu fassen. Ein nach-vorne-gehen-Wollen, dass letztlich auf der Stelle tritt? Das Zwingende des Argumentes, das man vermisst? Der große architektonische Bogen? So deutlich in den Scherzi beider eingespielten Sinfonien: scheinbar alles da – nur: das Scherzoide, auch das angestrebte Maliziöse stellt sich nicht ein. Alles halbgar sich abarbeitend am imaginären Gerüst eines Ideals. Im letzten Satz der 1944 erschienenen Symphonie webt Wordsworth die Hymne der Sowjetunion ein. Dieses „Panzerschiff“ von Alexandrow, wie Stalin es einmal genannt haben soll. Samt Annäherungen an das Lied der Wolgaschlepper: soviel Russland in Großbritannien war selten: Zeitgeist und Solidarität mit dem geschundenen Verbündeten – aber auch, und dies zeigt die spätere, 1960 veröffentliche Fünfte: offenbar eine klangsinnliche Herzensverbundenheit.

Zu den Interpreten: was soll man sagen? Historische Live-Aufnahmen der BBC, mitgeschnitten bei Konzerten mit allem Charme des Direkten und Ungeschliffenen. Anzunehmen, prima vista bzw. mit wenig Proben dargeboten.

Aber Wordsworth mag man einiges anlasten – nicht: er mache es allen schwer.

  1. Nein!

Weil die Musik Wordsworths Zustände der Einsamkeit zeichnet und heroische Gesten des Aufbegehres, die anrühren. Meisterlich (sic!) instrumentiert, kontrolliert und durchhörbar ausbalanciert. Da mag auch mal die Solovioline über Gebühr entschweben und an der Kitschgrenze kratzen – geschenkt!

Fazit: Lohnend! Weil zwiespältig.

 [Stefan Reik, August 2017]

Wales’ überragender Symphoniker

Daniel Jones (1912-93): Symphonien Nr. 1 & 10

Lyrita,  SRCD 358; EAN: 5 020926 035820

Der 1912  in Pembroke, Süd-Wales als Sohn eines  Komponisten-Vaters und einer Sängerin-Mutter geborene Daniel Jones schrieb 14 Symphonien neben anderen Kompositionen wie Kammermusik, aber auch zwei Opern und Musik für das Hörspiel „Under The Milkwood“ von Dylan Thomas, mit dem er auch befreundet war.

Seine „Erste“ komponierte Jones 1947, die „Zehnte“ 1981. Dazwischen liegt also eine beträchliche Zeitspanne und eine sehr deutliche Entwicklung seiner Klangsprache. Dauert die erste Symphonie über 50 Minuten, begnügt sich die 10. mit knapp 20. Beiden gemeinsam ist eine durchaus tonale und streckenweise sehr melodiöse Art, die durch sehr wirkungs-volle und beeindruckende Orchestrierung verrät, dass Jones  – so unbekannt er auch bei uns sein mag – eine Entdeckung wert ist. Besonders die langsamen Sätze seiner beiden Symphonien beeindrucken durch magische Klangwirkungen und intensive Melodik. Überhaupt ist seine melodische Erfindungsgabe verbunden mit dem Wissen um die Umsetzung ins Orchestrale ein herausragendes Merkmal seiner Musik.

Beide Aufnahmen sind Mitschnitte der BBC von 1990 unter Leitung des erfahrenen späten Bryden Thomson und überzeugen durch ein Klangbild, das dieser symphonischen Musik ein adäquates Hörerlebnis vermittelt.

Wie schade, dass diese Kleinodien vom heutigen – wenigstens deutschen – Musikbetrieb so ganz und gar übergangen werden. Um so mehr ist es zu begrüßen, dass das Label Lyrita sich Jones’ Musik annimmt und uns damit bekannt macht: Eine wahre und begeisternde Neuentdeckung eines Komponisten, dessen 1. und 10 Symphonie im Kontext  britischer Musik schon längst ihren Platz gefunden hat.

Natürlich bietet das ausführliche Booklet genügend Information zu Leben und Werk des Daniel Jones, wenn auch leider nur auf Englisch.

[Ulrich Hermann, Februar 2017)

Raritäten in hervorragenden Aufnahmen!

Label: Lyrita
Art.-Nr.: REAM1125
EAN: 5020926112521
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Anthony Milner war einer jener Komponisten, die erst nach dem erstaunlichen Aufblühen der britischen Musik an der Schwelle zum 20. Jahrhundert überhaupt zur Welt kamen: 1925 geboren, 2002 verstorben gehört er zu einer Generation britischer Komponisten, jünger als Britten und Tippett, die leider nur wenig Beachtung gefunden hat.

In Fragen eines Generationenbegriffs kann man Milner am ehesten mit Robert Simpson vergleichen, der nur vier Jahre vor Milner geboren wurde aber schon 1997 starb. Musikalisch hinkt dieser Vergleich aber, denn während Simpson erkennbar den Bruch mit der Tradition suchte und eine qualitativ hochstehende aber doch recht eigenwillige freitonale Musik komponierte, wirkt Milner auf den ersten Höreindruck wie ein versöhnendes, verbindendes Glied zwischen den Komponistengenerationen. Und so hört man in seiner Musik sowohl Einflüsse der Altmeister wie etwa Vaughan Williams als auch (am deutlichsten) Einflüsse jener glücklosen mittleren Generation britischer Komponisten wie etwa Wordsworth oder Finzi als auch erkennbar Einflüsse der ersten bekennenden britischen Modernen wie Michael Tippett oder Benjamin Britten.

Auf vorliegender CD sind zwei Kompositionen Anthony Milners in Einspielungen der BBC vertreten: „The Song of Akhenaten“ (Milners Opus 5 aus dem Jahr 1954) sowie „The Water and the Fire“ von 1961. Die Aufnahmen sind klanglich erfreulich gut, dies auch in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um Privatmitschnitte des Lyrita-Gründers Richard Itter handelt. Die BBC sah in diesen Mitschnitten keinen Wert mehr und vernichtete in einer groß angelegten Lösch- und Wegwerfaktion die Masterbänder.

Auch die interpretatorische Qualität ist erstklassig! Immerhin handelt es sich hier um bemerkenswert groß besetzte Werke mit gleich zwei zwei Chören (BBC Northern Singers, Manchester Grammar School Boys Choir), Kirchenorgel, großen Sinfonieorchestern (BBC Northern Symphony Orchestra/BBC Training Orchestra) und drei Gesangssolisten (Hazel Holt, John Elwes und Stephen Roberts). Offenbar handelt es sich hier auch um BBC Studiomitschnitte, nicht um Liveaufnahmen, was es noch unverständlicher macht, warum diese faszinierenden, hochqualitativen Tondokumente von der BBC aussortiert wurden. Hatte man hier doch einen beachtlichen Aufwand investiert, um diese Mitschnitte zu produzieren.

Die beiden hier eingespielten Stücke, die man am Ehesten als Oratorien vermitteln könnte und die mal an Tippetts „A Child in Time“ mal an Brittens „War Requiem“ denken lassen und doch so ganz anders sind und eine ganz andere „Klangfarbe“ transportieren, sind hochrangige Beispiele für britische Kompositionskunst. Anthony Milner präsentiert sich als Komponist auf der Höhe seiner Zeit aber auch als musikalischer Querkopf. Seine akademischen Verbindungen zu Hochschulen in den USA scheint man zudem an mehreren auffällig „amerikanisch“ klingenden Passagen heraushören zu können.

In der Tat kann zunächst der Eindruck von Kuriositäten der Musikgeschichte entstehen, wenn man dieses Album hört. Ist die musikalische Sprache Milners doch so enorm bunt und farbenreich, und dies zumal in einer wahren Flut von Ideen, die nicht immer auf den ersten Blick geordnet wirken. Bei mehrmaligem Hören beeindruckt jedoch dieser individuelle Fingerabdruck umso mehr und man erkennt eine bemerkenswerte werkimmanente Musikarchitektur.

Beide Stücke auf diesem Album wurden dirigiert von Meredith Davies, der bei diesen Aufnahmen aus den Jahren 1973 und 1977 zeigt, dass er auch bei Werken dieser gigantischen Besetzungsgröße eine sehr feine, geradezu vorbildliche Orchesterbalance herzustellen verstand. Zwar würde man sich manche Phrasierung flüssiger, flexibler wünschen, aber sind dies auch wirklich anspruchsvolle Partituren, deren schiere Bewältigung, geschweige denn Ausgestaltung, manchem gestandenen Dirigenten Angst hätte bereiten können.

Absolut begeisternd sind in „The Song of Akhenaten“ die dunkel timbrierte Stimme von Sopranistin Janet Price, die jederzeit Herrin der Lage zu sein und sich in dieser stimmlich fordernden Musik ganz zuhause zu fühlen scheint sowie die erstaunliche Klasse des „BBC Training Orchestra“, dessen Name ich zum Anlasse nehme anzunehmen, dass es sich um ein Orchester mit Nachwuchsmusikern gehandelt haben muss. Die Aufnahme von „The Water and the Fire“ kann zwar ebenfalls mit namhaften Solistinnen und Solisten aufwarten, nur erreichen diese zu keiner Zeit die hervorragende Klasse von Janet Price.
Kurz und gut: Wieder einmal macht Lyrita kulinarische Raritäten des britischen Musiklebens in bemerkenswert guten Aufnahmen verfügbar, die durchaus Referenz- und Archivcharakter haben. Diese Musik soll und muss wieder gehört werden. Anthony Milner war ein hoch interessanter Komponist, und zumindest mich hat diese CD sehr neugierig gemacht, was noch von diesem Musikschöpfer überliefert ist.

[Grete Catus, März 2016]