Auch in Weimar sind öffentliche Konzerte durch coronabekränzte Generalpausen ersetzt worden, und bleibt es bis auf Weiteres abzuwarten, wann die Dirigenten das nächste Zeichen zum Einsetzen geben werden. In dieser Ausnahmesituation erreichte die Redaktion eine Mitteilung darüber, wie die Bewohner eines Pflegeheims dennoch in den Genuss hervorragenden Klavierspiels gekommen sind. Der folgende Beitrag basiert auf Aufzeichnungen von Dr. Karl-Heinz Fröhlich, Universitätsdozent für Pädagogik i. R., wohnhaft im Marie-Seebach-Stift zu Weimar.
Prof. Christian Wilm Müller, der an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Kammermusik und Klavier unterrichtet, pflegt seit langer Zeit eine enge Beziehung zur Marie-Seebach-Stiftung, einem Pflegeheim, das ursprünglich für Bühnenkünstler im Ruhestand gegründet worden war und heute kulturinteressierten älteren Menschen jeglicher Herkunft als Wohnstätte dient. Das Forum Seebach, der Veranstaltungssaal des Stifts, ist in Weimar als Adresse für Kammerkonzerte, Lieder- und Klavierabende wohlbekannt – eine fest ins Musikleben der Stadt integrierte Institution. Für Studenten der Musikhochschule ist es ein idealer Ort, ihr Können unter Beweis zu stellen, bevor sie den Schritt in die großen Konzertstätten wagen. So sind auch Angehörige der Klassen Christian Wilm Müllers immer wieder dort zu hören gewesen.
Es war kein Konzert, zu dem der Professor am 9. Dezember selbst ins Seebach-Stift kam, denn ein Publikum von außerhalb war nicht vorgesehen; so hatte es auch keine öffentlichen Ankündigungen gegeben. Nur die Bewohner des Stifts wussten seit zwei Tagen von dem außerordentlichen Musikangebot des Pianisten. Die Einhaltung der Hygienevorschriften erforderte, dass die Bewohner, entsprechend den beiden Stiftshäusern, in zwei Gruppen nacheinander den Veranstaltungssaal betraten und dort in großen Abständen voneinander Platz nahmen. Prof. Müller spielte für sie zweimal ein 30-minütiges Programm mit Kompositionen dreier Klassiker der Klavierliteratur – jeweils mit wenigen einleitenden Worten des Pianisten: die Sonate e-Moll op. 90 von Ludwig van Beethoven, Capriccio g-Moll (Nr. 3) und Intermezzo E-Dur (Nr. 4) aus den Fantasien op. 116 von Johannes Brahms, sowie Franz Liszts Petrarca-Sonett Nr. 104 aus den Années de Pèlerinage.
Prof. Müllers Klavierspiel zeichnet sich durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vorwärtsdrang und Tempofreiheit aus. So gelang es ihm ausgezeichnet, im ersten Satz der Beethoven-Sonate die widerstreitenden Affekte darzustellen, ohne dass das Stück an Schwung verlor. Ebenso sicher führte er seine Zuhörer durch die Seelenkämpfe der Lisztschen Petrarca-Vertonung. Den Höhepunkt stellten die beiden Stücke von Brahms dar, für dessen Musik Prof. Müller offenbar eine besondere Begabung besitzt. Im Capriccio betonte er die einzelnen Abschnitte durch unterschiedlichen Anschlag. Der Mittelteil klang wie ein vielstimmiger Chor, die Eckteile muteten wie zielsichere, kraftvolle Improvisationen an. Die dissonanten Akkorde des Intermezzos baute Prof. Müller mit viel Freude an den entstehenden Spannungen auf und schuf somit ein ergreifendes Stimmungsbild der Wehmut und Entsagung – ein Blick zurück auf bessere Zeiten?
Angesichts der Ausfälle, mit denen das Musikleben des Stiftes seit Frühjahr 2020 zurechtkommen musste, war dieser Abend ein besonderes Geschenk. Die Bewohner nahmen es mit großem Dank entgegen.
Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn Bartholdy und Ludwig van Beethoven
Xenia Bergmann, Violine
Nima Mirkhoshhal, Klavier
Leitung: Franz Schottky
Endlich! Endlich! Wieder nach einem halben Jahr ein Konzert der Kammerphilharmonie. Wie üblich als Auftakt ein Konzert im coronabesetzten (also mit grossem Abstand) Künstlerhaus mit zwei jungen Solisten.
Zu Beginn eine Ouvertüre des 11-jährigen Mozart zum Singspiel „Apoll und Hyazinth“. Kurz und dennoch schon typisch „mozartisch“ als Hors d’oeuvre. Dann kam die 17 Jahre alte Xenia Bergmann auf die Bühne und spielte vom berühmten E-Moll-Violinkonzert von Felix Mendelssohn-Bartholdy den ersten und den zweiten Satz. Vor allem der zweite, langsame Satz gelang ihr überragend schön, mit weichem, vollem Geigenton auf ihrer Mittenwalder Sandner-Geige.
Natürlich begleitete die Kammerphilharmonie äußerst aufmerksam und ließ dieses Paradestück aufglänzen. Die Bravos und der Beifall waren mehr als gerechtfertigt.
Immer mehr vermag das Musizieren der Kammerphilharmonie unter ihrem Dirigenten Franz Schottky mich in den Bann der Musik dieses Meisters zu ziehen, das bewegt mich von Mal zu Mal intensiver. (Denn ich kenne genügend langweilige Aufführungen von Mendelssohns Musik!)
Nach einem kurzen Umbau ertönte in der Fassung für Streichorchester und Klavier von Vinzenz Lachner (1811-1893) der erste Satz aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur op.15. Beim Einsatz des Pianisten gab es einige schwierige Momente, dann aber spielte der 23-jährige Nima Mirkoshhal sein ganzes stupendes Können und seine ganze Musikalität aus. Wieder einmal war das Live-Erlebnis berührender als jede noch so perfekte CD-Einspielung, denn der Musik beim Entstehen zu lauschen, ist doch etwas ganz Anderes. Die Kadenz, die Nima Mirkoshhal aus den beiden ursprünglichen Kadenzen kühn zusammenfügte, überzeugte restlos! Großer Beifall und viele Bravos!
Nach erneutem Umbau dann der Höhepunkt des Abends: Mozarts berühmte g-Moll-Sinfonie Nr. 40 KV 550. Wieder ergänzten die Bläser die Streicher der Münchner Kammerphilharmonie dacapo. Und es wurde eine bewegende Darbietung dieser vielleicht melancholischsten Mozart-Symphonie. Trotz des coronabedingten größeren Abstands zwischen den einzelnen Musikerinnen und Musikern ließ die Aufführung alle Beteiligten zur Höchstform auflaufen. Wieder einmal war zu spüren, was uns allen in den vergangenen Monaten so schmerzlich gefehlt hat: Diese Dimension des geistigen und seelischen Erlebens, eben Frau Musica.
Franz Schottky und „seiner“ Münchner Kammerphilharmonie dacapo – die übrigens dieses Jahr ihr 20jähriges Bestehen feiert – haben es wieder einmal zum Geschenk werden lassen, was das Genie Wolfgang Amadeus Mozart der ganzen Welt mit seiner Musik als Vermächtnis hinterlassen hat. Auf weitere Konzerte sehnlichst hoffend…
Das Duo FlautoPiano (Helen Dabringhaus, Flöte, und Fil Liotis, Klavier) bietet einen Überblick über das Schaffen des jungen Beethoven. Zu hören sind: die Sonate B-Dur WoO Anhang 4, die Serenade op. 41, das Duo für zwei Flöten WoO 26 (Flöte II: Vukan Milin), sowie Bearbeitungen der Hornsonate op. 17 und des zweiten Satzes aus dem Klavierkonzert op. 15.
Die Querflöte hatte, nicht zuletzt durch Beethoven, ihren festen Platz im Orchester gefunden, doch neigte der Komponist, wie einst auch Mozart, wenig dazu, ihr solistische Aufgaben zuzudenken. Zu unvollkommen erschienen ihm die damaligen Flöten, und ein großer Virtuose, der ihn vielleicht hätte anregen können, fand sich nicht ein. Dass Beethoven die Flöte in der Kammermusik nicht ganz gemieden hat, ist unter diesen Umständen sehr erfreulich.
Lediglich zwei der fünf eingespielten Werke sind keine Bearbeitungen: Das sechsminütige Duo für zwei Flöten, das Beethoven bei seiner Abreise aus Bonn 1792 als Abschiedsgeschenk für einen Freund komponierte – Helen Dabringhaus spielt es zusammen mit ihrem einstigen Lehrer Vukan Milin –; und die Sonate B-Dur, ein viersätziges Werk, das der einzigen erhaltenen Abschrift zufolge von einem gewissen „Bethoe“ stammt. Der Vermutung, es handele sich um ein Frühwerk Ludwig van Beethovens aus dessen Bonner Zeit, kann man durchaus zustimmen. Zwar ist das Stück den ersten mit Opuszahlen veröffentlichten Sonaten Beethovens im Rang nicht ebenbürtig, doch stammt es von einem Komponisten, der seine Einfälle überzeugend zu ausgedehnten Verläufen entwickeln kann, und außerdem im abschließenden Variationssatz zeigt, dass er sein Thema gut genug kennt, um sich nicht mit bloß figurativen Veränderungen begnügen zu müssen. Die Serenade op. 41, ein Meisterwerk leichten Charakters in sechs knappen Sätzen, ist eine von Beethoven selbst durchgesehene und korrigierte Bearbeitung seiner Serenade für Flöte, Violine und Viola op. 25. Dagegen entstanden die die hier eingespielten Arrangements der Hornsonate op. 17 und des langsamen Satzes aus dem Ersten Klavierkonzert nach Beethovens Tod. Im Gegensatz zu dem anonymen Bearbeiter der Sonate, dessen Tätigkeit sich weitestgehend auf Transposition beschränkte, stand Theobald Böhm bei der Bearbeitung des Konzertsatzes vor der schwierigeren Aufgabe, ein Werk für Klavier und Orchester für Flöte und Klavier umzuschreiben. Er hat sie geschickt und für beide Instrumente dankbar gelöst.
Könnte man die auf der Platte zu hörenden Darbietungen genauso loben wie den umfangreichen, ausführlich über die Entstehungsumstände der Kompositionen und Bearbeitungen informierenden Begleittext von Joachim Draheim, so hätten wir eine rundum gelungene Veröffentlichung vor uns. Nicht dass an den Fähigkeiten von Helen Dabringhaus und Fil Liotis im rein Technischen irgendetwas zu bemängeln wäre! In dieser Hinsicht bewältigen sie die Musik ohne Probleme. Sie bewältigen sie, aber durchdringen sie nicht. Die Feinheiten der Beethovenschen Formungskunst kommen kaum zum Erklingen. Zwar wird die Musik weder über den Sportplatz gehetzt, noch durch extreme Temposchwankungen verzerrt, doch stellt sich den gut gewählten, gleichmäßig durchgehaltenen Zeitmaßen zum Trotz kein rechter Vorwärtsdrang ein. Was den Musikern offensichtlich fehlt, ist die Übersicht über die großen Linienzüge. Es klingt, als dächten sie nur von Takt zu Takt, mitunter nur von Taktteil zu Taktteil. Gebunden vorgetragen wird, was unter Bindebögen steht, aber der wesentlich wichtigeren Aufgabe, die Spannungen auch von Phrase zu Phrase auf- und abzubauen, die Formung ausgedehnter Perioden und das kontrapunktische Zusammenwirken der Stimmen erlebbar werden zu lassen, schenken sie zu wenig Aufmerksamkeit. Dazu passt, dass häufig, wenn nicht ausdrücklich Legato verlangt wird, der Vortrag zum Staccato tendiert. So geraten die raschen Sätze zu hübscher, flotter Musik mit gelegentlichen harten Akzenten (die dann im Zusammenhang oft übertrieben wirken). Auffallend zaghaft und kraftlos muten dagegen die langsamen Sätze an. Als beispielhaft für all dies sei der Variationssatz der Serenade genannt: Das Thema zerfällt in seine einzelnen Taktteile, das Figurenwerk der Variationen wirkt spieluhrartig, und einzelne akzentuierte Töne stechen nadelspitz hevor. In der Einleitung zum Finale desselben Werkes entgeht Dabringhaus und Liotis ganz, wie Beethoven hier Freiluftmusik (Waldhörner) nachahmt. Ein Verharren in Kurzatmigkeit verhindert die Ausweitung des Raumes.
Als Fazit lässt sich dies mehr oder weniger auf die ganze CD anwenden; am wenigsten auf die Ecksätze der bearbeiteten Hornsonate, mit der das Duo von allen eingespielten Werken am besten vertraut zu sein scheint.
Im Lauf des Jahres 2020 will Boris Giltburg alle 32 Beethovensonaten einstudieren und aufnehmen – das Ergebnis erscheint auf neun digitalen Alben, zudem auf Video, welches auf YouTube einzusehen ist. Persönliche Einführungstexte, Gedanken und Impressionen der Probenarbeit liegen auf der Website www.beethoven32.com in deutscher wie englischer Sprache vor. Frisch erschien die erste CD-Auskopplung mit den drei Sonaten op. 2.
Das Unterfangen ist ein gewaltiges: Im Laufe diesen Jahres studiert Boris Giltburg alle der insgesamt 32 umfangreichen wie anspruchsvollen Klaviersonaten Ludwig van Beethovens ein, 23 davon sind ihm bislang völlig neu. Dabei legt er zu Beginn ein gewaltiges Tempo vor, studierte die ersten sieben Sonaten binnen weniger Wochen ein, die drei Sonaten op. 10 brachte er innerhalb von neun Tagen vom Übebeginn zur Aufnahme. Er begleitet dieses Projekt auf seinem Blog www.beethoven32.com, der auf Englisch und Deutsch gelesen werden kann, hält uns so stets auf dem Laufenden und verleiht dem Ganzen eine persönliche, ansprechende und zutiefst menschliche Note, die seine eigene Verliebtheit in die Notenwelt Beethovens unterstreicht. Ursprünglich hätte die hier vorliegende erste Alben-Auskopplung ohne Label bereits im Mai erscheinen sollen, nun nahm sich allerdings Naxos des Projekts an, brachte vergangenen Freitag die erste digitale CD heraus (anzuhören hier) und wird die gesammelten Aufnahmen kommendes Jahr als CD-Box in den Handel bringen.
Die drei Sonaten op. 2 wählte Beethoven mit besonderer Bedacht, markierten sie schließlich nach den drei Trios op. 1 den Beginn seines publizierten Schaffens: so mussten sie direkt ein Zeichen setzen, von Anfang an die Einzig- und Neuartigkeit seines Stils zur Schau stellen. Als Widmungsträger dient der prominente Lehrer Beethovens, Joseph Haydn.
Bislang genoss ich die Aufnahmen Boris Giltburgs mit Vorsicht, da mir schien, die unbändige technische Potenz des Pianisten unterminiere bisweilen die musikalische Substanz. Giltburg überraschte immer wieder durch tiefe Empfindungen, ließ aber dann doch oft die Finger sprechen und nicht unbedingt das innige Verständnis. Umso mehr überrascht der Pianist nun mit seiner Beethovendarbietung, denn er empfindet, was er spielt, und vermittelt dies so frei und unverbindlich an den Hörer.
Er schreibt selbst in seinem Blog, dass die Erste Sonate auch der größten Herausforderung entspricht, da sie schließlich die Erste sei und so alle Erwartungen zu erfüllen habe. Bei dieser Sonate habe ich das Gefühl, Giltburg musste sich erst in diese Welt einleben und warm werden mit dem Stil des noch jugendlich überschwänglichen Beethovens, der beinahe Mozart’schen Witz und Haydn’sche Gelassenheit verströmt. So erscheint dieses Erstlingswerk bereits etwas zu romantisch, träumerisch und entsprechend nicht ganz dem Umfeld entsprechend, in das sie komponiert wurde. Dieses Werk benötigt noch die Klarheit und Präzision, die Ausgewogenheit der Klassik, sollte noch nicht zu sehr in die rauschhafte, geräuschlastige und überbordende Gefühlswelt des lebenserfahreneren Beethovens eintauchen. Dafür wundert es, dass Giltburg auch Durchführung und Reprise des Kopfsatzes wiederholt: diese Praxis macht spätestens ab dem mittleren Haydn keinen Sinn mehr, geschweige denn bei Beethoven. Dafür trieb uns die Durchführung zu weit hinfort und die Schlusswirkung ist zu final, um dann erneut diese Reise zu durchleben.
Weitaus gelungener präsentiert sich da die A-Dur-Sonate Nr. 2 in ihrer wankelmütigen Leichtigkeit, die voller subtiler Gefahren steckt und den Pianisten aufs Glatteis legen will. Hier gelingt Giltburg die Unbeschwertheit und eine gewisse Keckheit, mit der Beethoven bewusst provoziert. Das Lento appassionato könnte die Melodie noch etwas weiter zum Tragen bringen, ansprechend geben sich dafür die Kontraste zwischen den einzelnen Ebenen und die formale Gestaltung. Beim lebhaft-verspielten Scherzo blüht Giltburg endgültig auf und steigert sich sogar noch in dem höllisch-virtuosen Rondo-Finale, das für die Zeit technisch neue Maßstäbe setzt. Unbekümmert und munter rast der Pianist durch die horrend schwierigen Umspielungen des Themas, gibt ihnen dabei melodischen Stellenwert und zeigt Verständnis für diese Musik in ihrer klassischen Leichtigkeit und kühnen Fortschrittlichkeit.
Die pianistische Meisterschaft setzt Giltburg in der Dritten Sonate C-Dur fort, ein wahres Klavierkonzert ohne Orchester. Teils könnte die von Beethoven minutiös ausgefeilte Dynamik noch wörtlicher genommen, die Unterschiede zwischen pp, p, mp, mf, f und ff noch mehr an die Oberfläche gebracht werden. Giltburg reißt uns mit durch den nach vorne ziehenden Sog der Töne, die hier bereits herber werdenden Kontraste und harmonischen Finessen, die wir deutlich zu Gehör bekommen. Im Kopfsatz überzeugt vor allem der lange Aufbau am Ende der Reprise in Richtung einer Kadenz. Im Adagio bringt der Pianist alle Innigkeit und Zärtlichkeit zum Vorschein, die in ihm steckt, bezaubert durch die Flächigkeit und langsame Metamorphose. Das Allegro nimmt er in abenteuerlicher Geschwindigkeit, bleibt dennoch durchsichtig und sprudelt förmlich über im Trio. Das Finale wird zum freudigen Kehraus, präsentiert sein technisches Können und seine manuelle Leichtigkeit auf atemberaubende Weise.
Katie Mahan spielt Werke Ludwig van Beethovens in umgekehrt chronologischer Reihenfolge, beginnt mit den Bagatellen op. 126 und geht über die Sonate Nr. 30 E-Dur op. 109 hin zu der titelgebenden „Appassionata“, der Sonate Nr. 23 f-Moll op. 57.
Nach ihrem letzten Album mit Musik des „Classical Gershwin“ [zur Rezension] widmet sich Katie Mahan nun Beethoven. Bei Gershwin überwog die parfümierte und geschminkte Oberflächlichkeit, frei von jeglichem Verständnis für diese Musik ließ der musikalische Gehalt die Pianistin vollkommen kalt und unberührt, so dass lediglich virtuose Tonkaskaden übrigblieben. Entsprechend überrascht nun, dass Mahan bei Beethoven ganz andere Töne anschlägt und beginnt, in der Musik zu suchen und zu forschen, um unter der Oberfläche etwas zu erspüren.
Die raschen Sätze rumoren von innen heraus und glimmen bedrohlich, stets zum Ausbruch bereit: Diese Spannung hält Mahan teils über lange Strecken und verpulvert die Energie nicht frühzeitig. Gerade die Appassionata kommt durch ihre Flächigkeit und großen Dimensionen der Pianistin gelegen, die herben Kontraste und wilden Eruptionen wirken wie gemacht für Mahan. Handwerklich ist sie eh über alle Zweifel erhaben, doch hier gelingt es ihr auch, auf musikalisch-emotionaler Ebene zu wirken und – ohne dies zu forcieren – ihre Persönlichkeit im Spiegel der Musik zu vermitteln.
Teils nimmt sich Katie Mahan allerdings zu viele Freiheiten, macht es sich besonders auf dynamischer Ebene teils recht bequem: gerade hier aber sollte Beethovens detailverliebt ausgeklügelten Anweisungen Folge geleistet werden, denn nirgends ist er so präzise wie hier. Im Finale der E-Dur-Sonate op. 109 kämpft die Pianistin noch gegen die Korrelation der einzelnen Tempobezeichnungen und wagt nicht die auf den ersten Blick waghalsigen Extrema, die Beethoven vorgibt: entsprechend schwanken die Tempi teils willkürlich und gegen Ende versucht sich die Pianistin mit einem deutlichen Accelerando aus der Affäre zu ziehen, was aber gewollt wirkt und nicht dem eigentlichen Sinn der Schlussvariation entspricht. Aus dem Stil fallen manche Pedaleffekte besonders in der Appassionata, die mehr an Debussy als an Beethoven gemahnen. Allgemein klingt einiges recht hochromantisch, was doch noch kerniger und klarer hätte zum Vorschein treten können, wie die robusten und in der Tiefe engen Akkord-Entladungen, die für Beethoven so charakteristisch sind.
Wenngleich also auf vorliegender CD doch einiges störend wirkt und die unausgereifte Oberflächlichkeit hin und wieder hervorbricht, präsentiert Katie Mahan doch ein erstaunlich tiefgründiges Album, das ihre persönliche Sicht auf den großen Jubilar des Jahres illustriert und auf emotionaler Ebene einige spannende Facetten zum Vorschein bringt, die durchaus eine lohnenswerte Erweiterung zum landläufigen Bild Beethovens darstellen.
Mit der Ouvertüre zu Mozarts Oper „Idomeneo“ begann die Mozart-Matinée am 1.März 2020 im Münchener Herkulessaal. Der Konzertschluss von Carl Reinecke wird normalerweise dann gespielt, wenn das Stück konzertant aufgeführt wird. Mozart selbst hielt „Idomeneo“ zeitlebens für seine beste Oper. Mit einem Beginn, der an die später entstandene Zauberflöten-Ouvertüre erinnert, ist es – allen gutgemeinten Ratschläge des Vaters Leopold zum Trotz – ein ausgewachsener Geniestreich des 25-Jährigen. Die auf Beethoven-Orchestergröße angewachsene Kammerphilharmonie begann direkt, mit gelassener Noblesse das Meisterwerk entstehen zu lassen.
Zum
Beethoven-Jahr erklang dann, trotz Mozart-Matinée, das berühmte Tripel-Konzert
op. 56. Es ist in der Klassik einzigartig geblieben als Klaviertrio mit
Orchester. Das Yoo Trio aus Seoul – die drei Damen spielen in der Besetzung
schon lange zusammen – und die Münchner Kammerphilharmonie dacapo machten diese
drei Sätze zum Erlebnis. Beethoven ist und bleibt einer der größten
Melodiker. Das Cello-Solo des zweiten Satzes geriet himmlisch. Es ist gut,
dass diese wunderbare Musik in München hoffentlich in diesem Jahr noch öfter zu
hören sein wird. Allerdings fällt mir immer wieder auf, dass die Rolle der
Geige – auch wenn sie so mit Einsatz von Leib und Seele gespielt wird, wie von
Frau Isul Kim, gegenüber den beiden anderen Instrumenten doch klanglich
benachteiligt wirkt, aber das mag auch an den modernen Instrumenten liegen.
Jedenfalls hat sich Beethoven den Klavierpart sicher selbst auf die Finger
geschrieben, über mangelnde Virtuosität kann sich die Spielerin nicht
beklagen. Das Orchester erfüllte seinen Part mit größter Hingabe und ließ
wieder einmal erkennen, warum es seit 20 Jahren seinen verdienten Platz im
Münchner Konzertleben hat.
Nach der Pause
erklang Mozarts Es-Dur Symphonie Nr. 39. Von den drei letzten Symphonien ist
sie als Mozarts
„Schwanengesang“ die unbekannteste. Allerdings spricht aus
ihr – vor allem im zweiten, dem langsamen Satz, durchaus Mozarts immer
unterschwellig vorhandene Melancholie eine sehr deutliche,
herzbewegende Sprache. Natürlich ist dieses Meisterwerk in allen vier
Sätzen erstaunliche Musik, die Franz Schottky ganz und gar uneitel mit den
Musikern „aus der Taufe hob“. Alle Beteiligten gaben ihr Bestes, um dieser
göttlichen Musik die Bedeutung zu geben, die sie hat. Und wieder wurde deutlich,
dass in diesen sehr merkwürdigen Zeiten mit allen Hochs und Tiefs, die
Mutter Erde derzeit durchmacht, die Musik eine andere Dimension erlebbar werden
lässt. Und wozu die Musen immer schon da waren: die Reise nach innen, in
gänzlich andere Bereiche, zu begleiten, die vom öden Tagesgeschehen so
unendlich weit entfernt sind, und doch so unendlich notwendig für unser
Seelenheil.
Das Trio Cremeloque
spielt die Klaviertrios Op. 1 Nr. 3 c-Moll und Op. 11 B-Dur „Gassenhauer-Trio“
sowie das Allegretto WoO 39 B-Dur. Das außergewöhnliche: Neben Savka Konjikusic
am Klavier hören wir Luís Marques nicht an der Geige, sondern der Oboe, und
Franz-Jürgen Dörsam nicht am Cello, sondern am Fagott.
Mit der Entscheidung, beliebtes Repertoire wie
Beethoven-Trios mit zwei Bläsern statt Streichern einzuspielen, setzte sich das
Trio Cremeloque bewusst der Reduktion auf die Besetzung aus. Natürlich
vergleichen Hörer und Rezensenten die neuen Farbnuancen mit denen der Originalbesetzung
und kommen schnell zum Entschluss, dass die hier zu hörende Version keine neuen
Erkenntnisse zu diesen Werken beitragen. Die Klangfarben ändern sich und gerade
die Cellostimme bekommt durch das Fagott einen markigeren, pointierteren Ton, wofür
allerdings die Wärme eines Cellos eingebüßt wird. Alles in allem ist es ein
Geben und Nehmen, das im Detail neu klingt, unterm Strich aber weder über noch
unter der Originalbesetzung steht.
Lohnenswert wird die CD allerdings durch das feine und
abgehörte Spiel der Musiker. Angesichts der schier unendlichen Anzahl an
Aufnahmen dieser Stücke sticht die Platte nicht alleinig heraus, überzeugt aber
auf subtiler Ebene. Konjikusic am Klavier passt ihr Spiel den Holzbläsern an
und senkt sich dynamisch auf die Stuft ihrer Mitstreiter, ohne dabei an Lebendigkeit
zu verlieren – ihr Spiel durftet förmlich vor voluminösen, nachschwingenden
Tönen und brillanter Qualität des Non-Legato-Spiels. Die Oboe, gespielt von
Luís Marques, glänzt virtuos und doch wärmeerfüllt, kann aber auch mal keck
dazwischenfunken. Dazu trippelt Dörsam am Fagott beschwingt in der
Mittelstimme, fühlt jeden Ton und präsentiert erstaunliches Farbenspektrum. Das
Trio geht auf die wechselhaften Stimmungen dieser Beethoven‘schen Werke minutiös
ein und transportiert die Wucht wie den Witz hin zum Hörer, präzise und
unfehlbar in der Wirkung.
In den südlichen Ländern ist das in Lissabon beheimatete Trio
durchaus namhaft und feiert große Konzerterfolge – bei uns gehören sie noch zu
den Geheimtipps. Ob sich das durch die vorliegende Aufnahme ändern wird, steht
noch aus, aber wert wären die drei Musiker es, sich intensiver mit ihnen zu
befassen.
Trio Cremeloque: Beethoven – Klaviertrios Op. 1, Nr. 3 und Op. 11 „Gassenhauer-Trio“ – Arrangiert für Oboe, Fagott und Klavier
EAN: 730099149836 / Katalog-Nr.: 8.551408
Das Trio Cremeloque ist in Lissabon beheimatet, setzt sich
aber zusammen aus Künstlern dreierlei Nationalitäten. Savka Konjikusic, Luís Marques und
Franz-Jürgen Dörsam sind somit ein paneuropäisches Trio, und als wäre das nicht
schon etwas Besonderes, spielen sie zudem noch in einer äußerst ungewöhnlichen
Besetzung.
Bei der Einspielung zweier populärer Klaviertrios von Ludwig
van Beethoven ersetzt beim Trio Cremeloque die Oboe von Luís Marques die
Violinstimme und das Fagott von Franz-Jürgen Dörsam das Cello. Und so klingt das
populäre „Gassenhauer-Trio“ Op. 11 B-Dur einmal ganz anders. Die warmen
Holzbläser-Klangfarben tun der Qualität dieser Musik keinerlei Abbruch, und so
darf man dieses Experiment wohl als durchaus gelungen bezeichnen.
Dass die Musiker, die in diesem Trio nun einmal in der
Besetzung Oboe, Fagott, Klavier musizieren, diese Stücke zum „Beethoven-Jahr“
so für sich eingerichtet haben und damit sicherlich eine reizvolle Alternative
für Konzertveranstalter darstellen, ist unbenommen. Ob man die Ergebnisse
dieser Bemühungen auch für Tonträger einspielen musste, steht auf einem anderen
Blatt. Denn abgesehen von der Änderung der Klangfarben, kann man hier
schwerlich einen „Mehrwert“ erkennen. Gleiches gilt für das Klaviertrio Op. 1,
Nr. 3 c-Moll. Mit dem „Allegretto für Klaviertrio“ WoO 39 B-Dur gibt es außerdem
noch eine kurze Zugabe obenauf, sodass das Album alles in allem eine knapp einstündige
Spielzeit aufweist.
Zusammengefasst ist dieses tadellos gespielte, wenngleich von
der Klangtechnik her nicht ganz optimale Album eher ein „nice to have“ als ein
„must buy“, kurz: Für den Konzertverkauf der Künstler sicherlich optimal, für
den allgemeinen Beethoven-Fan vielleicht eher „nebenbei“ interessant.
Beethoven wollte aufbegehren und Grenzen sprengen. Der polnische Komponist Witold Lutoslawski hörte seismografisch die Verwerfungen eines unruhigen Zeitalters, um sich in seinem viel zu selten gespielten Orchesterkonzert kraftvoll darüber zu erheben. Die amerikanische Dirigentin Karina Cannelakis stand zum Ersten Mal in der Elbphilharmonie auf dem Dirigentenpult und zeigte sich selber überwältigt von dieser Komposition. Emotionen, die sie ungefiltert ans hochmotivierte NDR-Sinfonieorchester und das Publikum in der Elbphilharmonie weitergab!
Symbolträchtig laufen solch verschiedene Fäden in der
Hamburger Elbphilarmonie zusammen. Bemerkenswert beim Gastspiel mit der
vielgefragten US-Dirigentin und einem bestens motivierten
NDR-Sinfonieorchester: Das wohlfeile „Sandwich-Prinzip“, bei dem die
klassischen Werke die modernen Programmpunkte sicher „umrahmen“, ist an diesem
Morgen umgedreht. Webern – zweimal Beethoven- schließlich Lutoslawski – soll die Dramaturgie sein.
Ganz unproblematisch ist diese Reihenfolge nicht: Zu
einem sensiblen Drahtseilakt bei diesem Matineekonzert – dem zweiten Termin mit
diesem Programm – geraten Anton Weberns „Sechs Stücke“ zu Beginn. Der wohl
puristischste Vertreter der Zweiten Wiener Schule hat in radikaler Zuspitzung
sämtliche orchestralen Ausdrucksmittel aus jeder Weitschweifigkeit herausgelöst
und komprimiert so etwas in hochverdichteten Miniaturen, die sich auch gerne
mal in berstende Tutti-Ausbrüche hinein steigern. Karina Cannelakis Mission in
der Elbphilharmonie ist klar definiert: Geht es doch darum, mit lebhafter
Gestik das Orchester vom ersten Ton an aus jeder Komfortzone heraus zu holen.
Das gibt allerdings den Webernschen Klangskizzen eine gewisse Überspanntheit,
wo mehr atmende Kontemplation und mehr Versenkung einen Zustand des Tastens und
Suchens markiert hätte.
Wenn sich Kammermusiker in Beethovens Tripel-Konzert Opus
56 zur gemeinsamen „Solistenrolle“ vor einem Orchester vereinen, kann, ja muss
eine intensive Interaktion die Folge sein. Christian Tetzlaff, Violine, seine
Schwester Tanja Tetzlaff, Violoncello, und der Pianist Lars Vogt erweisen sich
in der Elbphilharmonie als charaktervolle Protagonisten, bei denen die
persönliche Chemie noch mehr wiegt als die – sowieso vorhandene – spielerische
Weltklasse. Karina Cannelakis schwört erstmal jeder Kraftstrotzerei am Dirigentenpult
ab, lässt geschmeidige Bögen modellieren, was einer feingliedrigen
Differenzierung umso mehr Raum gibt. Das braucht es auch für die aspektreiche
Konversation des Solisten-Dreigestirns mit allen Zwischentönen und
Doppelbödigkeiten. Christian Tetzlaff lässt seine Violine in hohen Lagen
leuchten und strahlen. Seine Partnerin am Cello bedient die Mittellage mit
nobler Eleganz – und zwar ohne das Geschehen zu sehr an sich zu reißen, was bei
der Cellostimme in dieser Komposition naheliegend schiene. Lars Vogt am Flügel fokussiert
sich darauf, die Musik dieses von nun an wohl pausenlos gefeierten Komponisten
für die Gegenwart zu reflektieren. Erfrischend freigeistig und impulsiv, ja
manchmal fast aufrührerisch sucht das Spiel von Lars Vogt nach Überraschungsmomenten.
Gut, dass nicht immer dann aufgehört wird, wenn es am schönsten ist: Mit noch mehr beseelter Wärme geht es ohne Orchester weiter, um dem jubelnden Publikum mit dem Dritten Satz aus Dvoraks gefühlvollem Dumky-Trio eine Zugabe zu schenken.
Dann wieder Beethoven: Messerscharf fokussiert sich eine
nun verschlankte Orchesterbesetzung auf
die vergleichsweise selten zu hörende „Ouvertüre zu Coriolan“ Opus 61. Fast
physisch spürbar sind die Crescendi, die aus dieser atmenden Präzision
hervorgehen – so geht eine gelungene Symbiose aus Dirigent, Klangkörper und
Aufführungsraum. Und ja: Eigentlich wäre diese Beethoven-Ouvertüre als
beflügelndes Eröffnungsstück die perfekte Wahl gewesen. Das Programm komplett
in einen klassischen Teil vor der Pause und einen modernen danach zu splitten,
scheint jedoch nach wie vor ein Wagnis in Bezug auf das Publikumsverhalten.
Witold Lutoslawkis „Konzert für Orchester“ heißt so, weil
eben das Orchester zum kompromisslos expressiven Akteur wird. Von maximaler,
schonungsloser Direktheit soll keine sinfonische Konvention ablenken, etwa in
Gestalt von ruhigen Mittelsätzen. Genau dies ist Sache von Karina Cannelakis:
Gleich zu Beginn fordert sie den NDR-Sinfonikern ein straffes Tempo ab. Das
gibt der treibenden Rhythmik einen unerbittlichen Puls, lässt Klangereignisse
aus allen Richtungen aufbliltzen, sorgt für perkussive Wucht und schneidende, manchmal collagenhafte
Übergänge. Plastisch verzahnt sind die Instrumentengruppen in den
weitgespannten polyphonen Parts und die stampfenden tiefen Streicher im
berühmten Hauptthema des ersten Satzes entfalten ihre hypnotisch-dunkle
Dramatik. Berühmt ist das Thema, weil es als Titelmelodie für das altehrwürdige
ZDF-Magazin vereinnahmt wurde und damit zweifellos das beste an dieser Sendung
war. Aber hier passiert mehr, viel mehr. Auch blitzen Strawinsky-Zitate auf in
dieser aufregenden Gratwanderung zwischen osteuropäischer Tonalität und früher
Moderne, zwischen sarkastischer Doppelbödigkeit und Pathos. Ebenso wie
Schostakowitsch schuf auch Lutoslawski dieses Meisterwerk unter dem
Verfolgungsdruck einer totalitären Zensurbürokratie im Polen der 1950er Jahre.
Karina Cannelakis und das Orchester halten den
Spannungsbogen mit bezwingender Urgewalt durch – bevor dieser nach über 30
Minuten ebenso atemlos und abrupt endet, wie er begonnen hat. Die Zeitumstünde
dieser Komposition waren düster. Geblieben ist große Musik, die in der
Elbphilharmonie einmal dazu beitrug, sich lebendig zu fühlen.
Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 6 (Weltersteinspielung Fragment), Nr. 2, Op. 19 und Nr. „0“ (WoO 4); Symphoniker Hamburg – Peter Ruzicka; Sophie-Mayuko Vetter (Klavier)
Oehms OC1710/EAN: 4260330917102
Sophie-Mayuko Vetter ist eine außergewöhnliche Künstlerin:
Sie ist als eine von nur sehr wenigen Interpretenpersönlichkeiten sowohl auf
dem modernen Konzertflügel „zu Hause“ als auch auf allerlei historischen
Fortepiani, und – wichtig zu erwähnen – sie hat in beiden Fächern eine
fundierte Ausbildung genossen, wie sich überhaupt der Lebens- und
Ausbildungsverlauf der Pianistin sehr beeindruckend liest: Klavier-Studium bei
Edith Picht-Axenfeld, Leon Feuchtwanger und Vitaly Margulis, Musikwissenschaft
bei Claus-Steffen Mahnkopf und Peter Gülke, historische Aufführungspraxis bei
Robert Hill. Man fragt sich, ob man sich wundern soll oder ob es vielmehr nur
folgerichtig ist, dass eine so ausgebildete Interpretin zudem einen eigenen
Stil entwickeln konnte, der mit dem aktuellen, durch eine Weltersteinspielung
sehr aufsehenerregenden Beethoven-Album beim Label Oehms im Status der Reife
angekommen zu sein scheint.
Zu hören ist auf Sophie-Mayuko Vetters neuer CD in
Weltersteinspielung ein Fragment von Beethovens sechstem Klavierkonzert
(vervollständigt von Nicholas Cook und Hermann Dechant), das bekannte zweite
Klavierkonzert Beethovens Op. 19 sowie das immer noch vergleichsweise selten zu
hörende Jugendkonzert in Es-Dur WoO 4.
Sophie-Mayuko Vetter erweist sich als eine mit allen Wassern
gewaschene Pianistin, die sozusagen über den Belangen der Spieltechnik steht
und gerade deswegen in der Lage ist, eine im besten Sinne poetische
Interpretation aller Stücke zu erreichen. Peter Ruzicka, seines Zeichens
Dirigent, Komponist und Intendant in Personal-Union, ist mit den vorzüglich
aufgelegten Hamburger Symphonikern ein kongenialer Partner. Und auch die
hervorragende Tontechnik tut hier ein Übriges hinzu.
Natürlich kann man sich trefflich über bestimmte Aspekte
streiten: Wäre das eingespielte, rekonstruierte Fragment des ersten Satzes
eines sechsten Klavierkonzerts wirklich so im Sinne Beethovens? Fragt man mich,
so würde ich sagen: Wahrscheinlich nicht, denn Beethoven war ein akribischer
Ausarbeiter und hätte die bisweilen dürftigen Themen sicherlich noch viele Male
umgearbeitet, um ein Ergebnis zu erzielen, das seinen Ansprüchen genügt hätte.
Ich würde aber auch sagen, dass das Anhören dieses Re-Konstrukts sehr viel
Freude macht und die Einspielung sicherlich sehr lohnenswert war.
Das eigentliche Highlight des Albums ist für mich das
Klavierkonzert Nr. 2, Op. 19, das Sophie-Mayuko Vetter mindestens auf Augenhöhe
mit auch den größten Beethoven-Interpreten der zumindest jüngeren Vergangenheit
interpretiert. Zum Glück verfallen weder sie noch Ruzicka dem Drang, die Tempi
zu schnell zu nehmen, und so ist dieses vielleicht zarteste aller
Beethoven-Konzerte in dieser Einspielung schier ein Gedicht! Besonders
auffällig hierbei auch die ausgezeichneten Holz- und Blechbläser der Hamburger
Symphoniker. Ja, wirklich in allen Bereichen ist das eine ganz ausgezeichnete
Aufnahme, und man würde sehr gern auch noch andere Beethoven-Konzerte aus den
Händen Vetters entgegennehmen.
Ob es hingegen nun das Jugendkonzert WoO 4 sein musste,
lasse ich da mal dahingestellt. Sicherlich ist dieses Stück ein eindrucksvolles
Beispiel für Beethovens jugendliche Frühreife, und es ist eine gute Erinnerung
daran, weil man Beethoven selten mit dieser frühen Reife in Bezug setzt,
sondern eher den Fokus auf seine „titanischen“ Spätwerke legt. Gleichwohl ist
die Komposition im direkten Umfeld einfach erkennbar nicht gleichrangig und
dann auch noch am Ende des Albums platziert, sodass sich der Eindruck eines
kompositorischen Rückschritts förmlich aufdrängt. Chronologisch hingegen war es
ja anders herum.
Sophie-Mayuko Vetter spielt bei der Aufnahme dieses
Jugendwerks einen historischen Broadwood-Flügel von der Art, wie ihn auch
Beethoven unter seinen Instrumenten gehabt haben könnte.
Es ist erstaunlich, dass der Zusammenklang von historischem
Instrument und modernem Sinfonieorchester so gut funktioniert, und es ist
bemerkenswert, dass die Interpretin auch auf diesem gewiss nicht einfach zu
beherrschenden Instrument ihren persönlichen Stil beibehalten kann und auch
nicht in Versuchung kommt, affektierte Manierismen der historischen
Aufführungspraxis aus dem Köcher zu holen.
Und so bleibt festzuhalten, dass wir hier ein
Beethoven-Album haben, das zwar polarisieren wird, das zwar zu Diskussionen und
dem Austausch von Meinungen förmlich herausfordert, das aber gerade deshalb so
erfrischend und positiv ist, weil dies zum Beginn des „Beethoven-Jahres“ 2020
geschieht, in dem wir Polarisierung, Debatte und Austausch viel nötiger
brauchen als leere Marketing-Hülsen und tausendmal Aufgewärmtes. Insofern: Hut
ab vor Sophie-Mayuko Vetter! Möge sie ihrer Linie treu bleiben und weiterhin so
spannende Entdeckungen zu Gehör bringen! Einspielungen von „Standardrepertoire“
haben wir wahrlich genug.
„Reflections in C minor“ heißt
die in Eigenproduktion entstandene Debut-CD des Duos Antima bestehend aus der
Geigerin Anna Antipova und der Pianistin Tsarina Marinkova Krajnčan. Der
physische Release war im Oktober diesen Jahres, mittlerweile ist die Platte
auch digital erhältlich. Auf dem Programm steht die Dritte Violinsonate op. 45
von Edvard Grieg, die Siebte Violinsonate op. 30/2 von Ludwig van Beethoven
sowie das Scherzo c-Moll der F.A.E.-Sonate aus der Feder von Johannes Brahms.
Das
slowenische Duo Antima macht mit einem Programm dreier wohlbekannter Sonaten
auf sich aufmerksam und wagt so direkt mit dem Debutalbum den Schritt, in
Konkurrenz mit sämtlichen namhaften Geigern und Pianisten zu treten, welche diese
Standartwerke ebenso eingespielt haben. Dies ist umso beeindruckender, als die
beiden zugunsten größerer Spannungsbögen auf übermäßige Schnitte verzichten und
nicht alle Unsauberkeiten bereinigt haben – was dem natürlichen Musikerlebnis
entgegenkommt, dafür von Seiten der Kritik sicherlich nicht überall positiv
aufgenommen wird.
Energiegeladen
und mit unverbrauchter Frische gehen die beiden Musikerinnen an die drei
Sonaten (beziehungsweise zwei Sonaten und einen Sonatensatz) heran und bringen
neuen Schwung in die sonst oft nur pflichtbewusst gespielten Werke. Was in
Griegs c-Moll-Sonate manchmal noch unruhig und gehetzt wirkt, entfaltet sich
bei Beethoven und noch mehr bei Brahms zu elektrisierendem Knistern.
Bei
Grieg gelingt vor allem das ständige Wechselspiel zwischen den Instrumenten: Tsarina
Marinkova Krajnčan und Anna
Antipova stimmen den Klang ihrer Instrumente präzise aufeinander ab und bilden
die charakteristische Tongebung des Gegenübers so genau wie möglich nach, um
eine klangliche Einheit zu bilden. Mehr Gelassenheit hätte man sich in den
ersten beiden Sätzen gewünscht: Der Kopfsatz gerät rascher, als die komplexe
Rhythmik verträgt, und auch der Mittelsatz erhält nicht die notwendige Ruhe, um
die Cantilene der Romanze schweben zu lassen oder den Volkstanz im Mittelteil
genügend Bodenständigkeit zu verleihen. Hier hätten die Musikerinnen die
Herrlichkeit des Moments noch mehr genießen können. Am überzeugendsten gerät
das Finale mit rasenden Tremolobewegungen und erneuten Wechselspiel-Effekten. Krajnčans
technische Fähigkeiten in den rasenden Sprüngen und oktavierten Melodien bestechen.
Der
wechselhafte Charakter von Beethovens c-Moll-Violinsonate op. 30/2 kommt dem
Duo entgegen und stachelt es zu mitreißendem Spiel an. Hier wirkt die zuvor
noch teils störende Unruhe bezaubernd: die pulsierenden Unterstimmen treiben
und begehren auf, ohne Rast schleift uns die Musik von einem Erlebnis zum nächsten.
Erst im Adagio dürfen wir uns kurz erholen, bis erneut die Unterstimmen
beginnen, die Besinnlichkeit zu unterminieren. Umfassende Spannungsbögen
gelingen in den letzten beiden Sätzen der Sonate, besonders im Scherzo mit der
eleganten Tonrepetition, die sich immer weiter steigert. Brahms meistert Krajnčan
gänzlich ohne Härte und Antipova kann ihren brillanten Ton ihres Instruments
voll zur Geltung bringen, der von erstaunlicher Schönheit ist.
Es
ist dem Duo sehr zu wünschen, bald auch CDs bei größeren Labels zu produzieren,
in der nicht die Aufnahmetechnik gegen die Instrumente wirkt und dafür die
Musik mehr Menschen zugänglich sein wird.
Auf der CD
„springtime“ des Trios con abbandono hören wir Musik zwischen den Stühlen, von
Klassik bis Tango und Klezmer, alles bearbeitet für Klarinette, Cello und
Akkordeon. Das Programm bilden Astor Piazzollas Vier Jahreszeiten, Richard
Gallianos Tango pour Claude, Lisboa von Peter Ludwig, eine überlieferte
Klezmer-Suite, August Nölcks Ungarische Czárdás-Fantasie, eine Bearbeitung von
Beethovens Wut über den verlorenen Groschen, die Klarinettensonate von Bernstein,
Off Pist von Svante Henryson und Leroy Andersons Typewriter.
Die Kombination aus Akkordeon, Klarinette und Cello klingt
zunächst etwas eigentümlich, obgleich alle drei Instrumente in Tangoensembles
öfter zusammen erklingen; selten aber im Trio. Das Trio „con abbandono“ machte
es sich zur namensgebenden Aufgabe, mit voller „Hingabe“ Musik verschiedener
Welten zu verknüpfen und sie in teils witzigen und skurrilen Arrangements auch
an ein Publikum zu vermitteln, das in dieser Musik nicht unbedingt beheimatet
sein muss. Das Resultat ist ein heterogener Mix verschiedener Stile, die sich durch
den charakteristischen Klang der drei Instrumente klanglich annähern. Der Musik
lässt sich leicht folgen und kleine Gags heitern die Stimmung auf; dennoch ist
die CD nichts fürs reine Hintergrundhören, denn dafür sind die meisten der Stücke
zu komplex. Geschickt bindet das Trio auch moderne Musik ein, die normalerweise
nicht in solch ein Programm passen würde: In diesem Falle Bernsteins Klarinettensonate,
die oftmals stark an Strawinskys Sacre du Printemps gemahnt. Spannend gestaltet
sich das eigene Arrangement von Piazzollas Vier Jahreszeiten, in welchem die
Musiker die Vorlagen Vivaldis teils wörtlich einbinden als Gegenwelt zum Tango.
Die Bearbeitung von Beethovens Wut über den verlorenen Groschen durch Brack
Owlbick offenbart einige lustige Momente wie einschlafende Musiker, die jedoch
ihre Inspiration nicht aus der Musik, sondern von außen ziehen, und somit recht
gewollt erscheinen. Überraschend souverän gibt sich Otto Eckelmanns Arrangement
von Andersons The Typewriter, der eigentlich auf den Klang mehrerer Instrumente
angewiesen ist: Anderson gelang ein Welterfolg mit der abgedrehten Idee, die
Schreibmaschine als eine Art Orchestersolist fungieren zu lassen.
Musikalisch nähren sich die drei Musikerinnen Beate Funk,
Anne-Lise Atrsaie und Claudia Quakernack (in zwei Titeln unterstützt von Yoana
Varbanova am Schlagwerk) von der Leidenschaft, also von beschwingtem und
mitreißendem Spiel. Bei einem rein „ernsten“ Programm bliebe noch mehr die
Nüchternheit zu wünschen, selbst nicht zu sehr involviert zu sein und sich zu
sehr mitreißen zu lassen, sondern von innen heraus die Emotion zu übermitteln;
doch für solch einen Blumenstrauß größtenteils eingängiger Musik passt ihre
Einstellung vortrefflich, sie animieren dadurch den Hörer. Klanglich bleiben
alle drei Musikerinnen durchgehend präsent und stimmen sich dynamisch durchweg
aufeinander ab, wirken wirklich als Trio zusammen.
Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen. Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.
Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo
etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine
dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir
Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg
zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs
Klavierkonzert.
Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste
Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte
Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das
imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten
Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal
errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und
wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für
Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen
Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten
bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik
verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es
den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste
Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den
Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im
vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert
hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat
meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr
zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und
selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das
B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone
Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem
Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und
Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte –
schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten.
Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik,
hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt
dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose
harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio
überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.
Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor. Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!
Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.
Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.
Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.
Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für
diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs
80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich
bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola
und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren
die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von:
Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute
erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev.
1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex
für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai
Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das
Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen,
Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke
Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und
wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden,
gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage
zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall,
indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies
sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für
ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil
sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen
seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese
immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer
Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und
eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete
sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds
Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er
regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt
beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches
Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten
Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher
Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist
laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik
und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich
ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das
Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder
Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren
seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er
denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an
Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen
muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema
als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine
Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich
anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt
des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als
Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider
zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst
reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen
Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen
muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie;
oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er
sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem
Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und
fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim
Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück
unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal
wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein,
bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich
darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird;
er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben
steht.
Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem
Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat
ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er,
während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel
Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt
und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier
bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal
auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der
dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht
entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt.
Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper
Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die
zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit
zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen
Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er
sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar
unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen.
Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die
Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten
Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen
mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen
Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von
denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes
Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf
die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten
die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir
das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem
Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch
heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es
musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der
Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren,
dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie
meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt.
Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und
beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich,
teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es
klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben,
den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie
Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und
Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig
abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh
und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich
jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar
eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die
beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo
Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und
setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu
vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für
ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem
Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um
das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen
Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden
Musikern, die so präzise hörten und interagierten.
Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch
zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten
Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit
von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen
Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt
wurden.
Matinée des
Symphonieorchesters Wilde Gungl München
Sonntag, 19. Mai 2019 um 11 Uhr im
Prinzregententheater
„Merken Sie sich, wie
wichtig eine gute Moderation für ein Konzert ist!“ – so unterstrich mein Lehrer
Kurt Weinhöppel – der Leiter des Capella Monacensis – die Bedeutung dieser
Tatsache.
So geschehen am vergangenen Sonntag im Münchner
Prinzregententheater im Konzert des einst Richard Strauss eng verbundenen
Traditionsorchesters ‚Wilde Gungl‘, einem Konzert, das mit Telemann begann und
mit Prokofjew endete unter dem Motto „Ein musikalischer Spaß“. Im ersten Teil
Stücke von Telemann, Mozart, Haydn und Beethoven. Und bei so vielen
verschiedenen „Häppchen“ ist die verbindende Moderation besonders wichtig,
sonst zerfällt das Programm vielleicht ohne inneren Zusammenhang. Und diesen
stellten eben die unterhaltsamen, informativen und lockeren Ansagen des Konzertmeisters
Arnim Rosenbach in seiner ganz eigenen Art und Weise her.
Mit vierfachem Horn begann das Orchester, für die damalige
Zeit in einer Orchestersuite von Georg Philip Telemann (1681-1767) eine
Seltenheit, die aber einen der Reize dieser barocken Musik ausmachte. Auch zwei
Sätze aus der „Lodronischen Nachtmusik“ von Wolfgang Amadé Mozart /1756-1791)
und das Andante aus der Symphonie mit dem Paukenschlag von Joseph Haydn
(1732-1809) zeigten, dass das Orchester und sein Dirigent Michele Carulli sich
bestens auf die „alte“ Musik verstehen. Besonders, als Arnim Rosenbach Maestro
Carullis Lieblingskomponisten Ludwig van Beethoven ansagte, dessen Allegretto scherzando
aus der 8. Symphonie den Höhepunkt des ersten Teiles bildete.
Nach der Pause dann die hinreißende Ouvertüre von Otto
Nicolai (1810-49) aus seiner Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“, die mit
dem stark vergrößerten „Großen Orchester“ einschließlich gran cassa = grosse
Trommel, Glockenspiel, Harfe und großer Bläserbesetzung zeigte, was unter der animierenden
und begeisternden Leitung in diesem Orchester steckt. Es war ein Vergnügen,
dieser schwungvollen und doch auch äußerst differenzierten Musik zu lauschen.
Und mit diesem Schwung ging es natürlich weiter, denn die beiden Werke der
Brüder Josef Strauß (1827-1870) „Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust“ op. 263 und
die von mir noch nie gehörte „Witzblitz“ Polka-schnell von Eduard Strauß
(1835-1916), dem jüngsten der Strauß-Brüder versprühten ihren Charme, ihren
Humor und ihre berührende Energie unter der nicht nur dirigierenden, sondern
fast getanzten Leitung ihres Maestro Carulli.
Dann ein Sprung ins zwanzigste Jahrhundert nach Russland zu
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) und Sergej Prokofjew (1891-1953). Vom ersten
gab es – dem Anlass entsprechend seinen „Scherzwalzer“ aus der Ballettsuite Nr.
1 zu hören, ein Stück angeführt von einer äußerst hohen Piccolo-Flöte, sehr
ironisch mit einer kleinen versteckten „Ohrfeige“ mitten im Stück, so unterhaltend
die ganz andere Seite dieses großen symphonischen Komponisten zeigend, und zum
Abschluss „Hochzeit und Troika“ aus der
Suite aus Prokofieffs Filmmusik „Leutnant Kishe“. Ja, exzellente Filmmusik hat
Prokofjew geschrieben, und das war damals ein echter Hit, was auch in diesem
Konzert und mit diesem Orchester gelang.
Großer Beifall, alle solistisch tätigen Musikerinnen und
Musiker bekamen ihren extra-verdienten Beifall, Maestro Carulli sowieso, Blumen
und zwei Zugaben von Johann Strauß, eine Polka mit Publikums-Beteiligung und
zum Schluss das berühmte „Perpetuum Mobile“, bei dem sich Michele Carulli
langsam aus „seinem“ Orchester davonschlich…
Bei herrlichem Frühlingssonnenschein ein so schwungvolles
und beschwingtes Konzert, dem ganzen Orchester gebührt ein Riesen-Blumenstrauß
für derlei sonntäglichen Ohren-Schmaus!
Auf der vorliegenden CD finden wir eine Aufnahme der gesamten Schauspielmusik op. 84 von Ludwig van Beethoven zu Goethes Trauerspiel Egmont. Die einzelnen Nummern der Musik werden durch Texte miteinander verbunden, die Tilmann Böttcher und Matthias Brandt aus Originalversen Goethes zusammengestellt haben und die die Handlung des Dramas in aller Kürze zusammenfassen. Es spielt das Beethoven Orchester Bonn unter Dirk Kaftan, Matthias Brandt übernimmt die Rolle des Sprechers und Olga Bezsmertna singt die Sopranpartie.
Das Konzept
dieser Aufnahme ist stimmig: Das Problem an Darbietungen von
Schauspielmusiken liegt nämlich zumeist daran, dass wir sie ohne das
unterliegende Schauspiel nur partiell verstehen können; hören wir
jedoch das gesamte Stück, so fokussieren wir uns in erster Linie auf
den Text und nehmen die Musik lediglich als Randerscheinung wahr.
Entsprechend gewandt erweist sich die Lösung dieser Aufnahme, die
Texte kurz und bündig zusammenzufassen und dazu noch ausschließlich
originale Verse zu verwenden: So kann der Hörer die Handlung
mitverfolgen und nimmt die zentralen Aspekte des Dramas wahr, die
Beethoven in seiner Musik umsetzte.
Die
Zusammenfassung des Schauspiels durch Tilmann Böttcher und Matthias
Brandt greift das Wesentliche heraus und bleiben zugleich prägnant
in ihrer Kürze. Brandt rezitiert sie in der nötigen Distanz,
nüchtern, aber einfühlsam und die Stimmung treffend.
Die Musik
hängt da etwas hinterher, sie kann der Präsenz des Sprechers nicht
gleichkommen. Allgemein entsteht der Eindruck, der Musik fehle der
Boden unter den Füßen, sie habe keine Stabilität im Hier und
Jetzt, sondern eile innerlich schon voraus. Kaftan beachtet durchaus
die Transparanz der Stimmen und meißelt die feinen Klangeffekte aus
der Partitur heraus, die Beethoven teils äußerst subtil in den
Noten versteckt hat; und dennoch gerät die Musik bei schnelleren
Tempi unverzüglich ins Wanken, stagniert dafür in den Ruhepolen.
Wenig inspiriert gestaltet sich auch die Sopranpartie von Olga
Bezsmertna, die in den Höhen schnell kreischig wird und manchen
Tönen (vor allem dem f“) eine eigene Charakteristik verleiht, die
immer wiederkehrt, wenn sie diese erreicht – zu Ungunsten des
dynamischen Flusses der Musik.