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Beethovens Diabelli-Variationen mit klanglichem Feingefühl

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610090

Der 1994 in Hamburg geborene Pianist Spartak Margaryan stellt sich Ludwig van Beethovens kolossalen 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli in C-Dur op. 120, heute hauptsächlich als Diabelli-Variationen bekannt. Die CD erschien beim Label Sonus Eterna.

Die umfangreichen wie anspruchsvollen, allein durch die Länge von etwa einer Stunde ehrfurchtgebietenden Diabelli-Variationen C-Dur op. 120 gehören zu den Meilensteinen der Klavierliteratur, zu einem Höhepunkt der Form allgemein. Dass Beethoven das schlichte, zu Beginn seiner diesbezüglichen Beschäftigung gar als „Schusterflecke“ verhöhnte Thema nicht mit bloßer Ornamentik und glitzerndem Fingerwerk füllen würde, erklärt sich von selbst, besieht man seine anderen als Variationen titulierten wie auch in anderen Großformen enthaltenen Ketten an Veränderungen. Selbst in seinen mit zwölf Jahren komponierten Dressler-Variationen WoO 63 beweist er schon das Gespür, Themen nicht bloß zu füllen, sondern als Ausgangspunkt für eigene Entwicklungen zu nutzen. Die Gattung der Variation sah Beethoven als lebenslanges Training für Kreativität und Formgestaltung, feilte entsprechend unentwegt daran, den Themen immer neue Facetten abzuringen. In den Diabelli-Variationen, einem seiner spätesten Klavierwerke, forderte er die Variation in all ihren Aspekten heraus, bewies vollständige Durchdringung des Themas und konnte jeden noch so nichtig erscheinenden Aspekt herauspicken und eigens ins rechte Licht rücken. Anders als in den zwischenzeitlich entstandenen drei letzten Klaviersonaten von 1822, wo die thematischen Fortspinnungen in Großformen zusammengeschweißt wie aus einem Guss erscheinen, brechen sich die Veränderungen des Diabelli-Walzers auf und scheinen in gewissen Teilen gar untereinander austauschbar zu sein: Beethoven präsentierte ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, eine kaum würdig erscheinende Vorlage in hohe Kunst zu transformieren. (Dabei sollte die Vorlage doch nicht verachtet werden, denn sie wurde explizit als Vorlage für Variationen komponiert. Ihre Anlage fordert es, mit ihr frei zu verfahren, den Sinn für eigene Expansion und Gestaltungsgabe auf die Probe zu stellen.)

In der hier vorliegenden Aufnahme wagt sich ein junger, aufstrebender Pianist an dieses Spätwerk, welches neben fingertechnischen wie auch gestalterischen Höchstleistungen profunde Kenntnis der Genese der Beethoven’schen Variationsformen voraussetzt. Wäre dies nicht schon bemerkenswert genug, dass Spartak Margaryan sechsundzwanzigjährig das Studio betritt mit solch einem schwierigen, in zahlreichen Referenzaufnahmen bereits erschienenen „Brocken“ der Klavierliteratur, so besticht seine enorme Gesetztheit und profunde Kenntnis, ja Durchdringung des Werkes. Das Spiel ist weit entfernt von jugendlichem Stürmen und Drängen, von Selbstpräsentation – ganz im Gegenteil: Margaryan reduziert äußeren Glanz auf ein Minimum und taucht ein in die Tiefen von Beethovens Klangkosmos.

Spartak Margaryan sieht Beethoven nicht als polternden Vorreiter einer Ausdruckskunst, die wir landläufig als „Romantik“ bezeichnen, sondern bezieht Beethovens Satz auf die klangliche Verfeinerung und Differenziertheit der Wiener Klassik. Ungestümen Forti und Sforzati schwört er ab, nimmt auch Pedal mit Bedacht, lässt so eine luzide, gebändigte Klangkultur aufkeimen. Dabei schafft Margaryan doch Kontraste durch den deutlichen Unterschied zwischen Forte und Piano sowie zwischen den Variationen durch gewählte Tempi. Gerade die langsamen Veränderungen nimmt Margaryan gewagt langsam, fordert den innermusikalischen Zusammenhalt in einer Extremsituation heraus – geht aber in den meisten Fällen siegreich hervor. Lediglich die Variationen, die sich ununterbrochen um das immer gleiche Motivfragment drehen, so insbesondere die Variationen I und IX, könnten noch an Stringenz des Aufbaus hinzugewinnen, um die Form zu straffen. Umso gelungener dafür die kontrapunktische Ausgestaltung aller Stimmen, durch die selbstredend gerade die mehrstimmig angelegten Variationen aufblühen (also in erster Linie IV, V, XI, XIV, XIX, XXIV, XXX und XXXII), doch auch die restlichen Veränderungen ziehen große Vorteile aus der aktiven Gestaltung der Gegenstimmen, namentlich III, XII, XV und XVIII. Dagegen weiß Spartak Margaryan auch, Stimmen im Untergrund zu belassen, die ansonsten durch ihre Klangfülle die Melodie stören könnten (XVI und XXI).

Im Gesamteindruck legt Spartak Margaryan eine beeindruckende und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Darlegung der 33 Veränderungen eines Walzers von Diabelli op. 120 vor, die durch präzise Kenntnis, musikalisches Feingefühl und gewählte Klangvorstellung überzeugt. Wir können gespannt bleiben, wie sich dieser junge Musiker weiterhin entwickeln wird!

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (2)

Hatten wir uns in Teil 1 dieses Aufsatzes den drei großen Vorurteilen gegen den Komponisten Wilhelm Furtwängler und ihrer Widerlegung gewidmet, so befasst sich der zweite Teil (der heute zum 136. Geburtstag Furtwänglers erscheint) zunächst mit den Reaktionen der Musikkritik auf die 2021 bei cpo erschienene Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor und schließt mit einer Untersuchung der Vorgehensweise eines besonders hartnäckigen Gegners des Komponisten.

Presseschau: Fawzi Haimors Einspielung der Ersten Symphonie

Vor kurzem erschien bei cpo eine Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor. Sie bedeutet in der Diskographie insofern einen Markstein, als dass mit Haimor sich erstmals ein Dirigent des Werkes angenommen hat, der an ihm keine Grundlagenarbeit mehr geleistet hat, denn der Dirigent der Erstaufnahme, Alfred Walter, leitete auch die Uraufführung, George Alexander Albrecht, der die zweite Einspielung durchführte, war Herausgeber des Erstdrucks. Es ist also ein Schritt getan vergleichbar dem, als der Komponist 1954, kurz vor seinem Tod, mit Rolf Agop erstmals einem anderen Dirigenten seine Zweite Symphonie anvertraute – gewissermaßen ein Schritt in die Normalität. Die Kritiken fielen für das Werk nahezu durchweg anerkennend aus.

So meint Operalounge zum Finale der „überraschenden Ersten“: „Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.“

In Svens Opernparadies liest man, dass von diesem „überaus melodischen Werk“ eine Interpretation vorgelegt wurde, „die man unbedingt gehört haben sollte“. Außerdem sei es ein „Vorurteil“, wenn behauptet würde, Furtwänglers Werke seien „hoffnungslos veraltet“.

Auf der Angebotsseite von jpc haben die dort regelmäßig schreibenden Rezensenten „meiernberg“ und „JAW-Records“ dem Werk und der Einspielung die Höchstpunktzahl (5/5) gegeben.

Die Neckar-Chronik gibt dem Interview mit dem Dirigenten Fawzi Haimor den Titel: „Meistersinfonie aus dunkler Zeit“.

Dagegen wärmte der Kulturabdruck alte Kamellen auf: „Die 1. Symphonie, die zwischen 1938 und 1941 entstand und am äußersten Rand der Spätromantik einen monströsen Kampf gegen das Verschwinden derselben führt, ist ein besonders undankbares Objekt. Denn obwohl die vier Sätze mit klassischen Grundmustern und Nachklängen aus der Welt Anton Bruckners aufwarten, verliert sich der Hörer immer wieder in Furtwänglers labyrinthischen Tonfolgen. Nach 90 Minuten bleibt das Gefühl einer vielfachen Überspannung und die Frage, ob hier nicht ein Kosmos um einen leeren Kern kreist.“

In Crescendo bemerkte Christoph Schlüren: „Tatsächlich handelt es sich bei Fawzi Haimors Reutlinger Aufnahme für cpo um die aufnahmetechnisch bislang gelungenste Darbietung des knapp 90-minütigen Kolossalwerks, das in seiner Innenschau so gar nichts gründerzeitlich Macherhaftes bietet, sondern die von aller Effekthascherei völlig unabhängige Konzentration auf die pure organische Formentwicklung einfordert. Und wir warten weiter auf einen Dirigenten, der die gewaltigen Spannungsbögen adäquat zu verwirklichen versteht. Dann können wir auch dieses Werk, das noch immer erratisch erscheint, verstehen.“

Auf Classical CD Reviews hielt Gavin Dixon zwar an der Auffassung fest, Furtwänglers „major flaw“ sei „a tendency towards large-scale, expansive structures, which, although in traditional forms, are not supported by the scale or invention of his melodic writing“ – also dem von mir in Teil 1 beschriebenen Vorurteil Nr. 3 –, gesteht ihm jedoch als Komponisten „a distinctive voice“ zu und lobt immerhin das Scherzo ohne Einschränkung.

Ähnlich äußert sich Rob Maynard auf Musicweb International, der seinen Artikel mit folgendem Fazit beschließt: „We must hope that it foreshadows a full cycle of Furtwängler’s symphonic oeuvre that will bring his frequently flawed but nonetheless fascinating – and most certainly enjoyable – music to a wider audience.“

Ich selbst habe die Aufnahme auf Klassik-Heute rezensiert und dort auch meine vom Großteil der zitierten Rezensionen abweichende Ansicht dargelegt, warum ich Haimors Einspielung nicht für diejenige Aufnahme halte, die den bestmöglichen Eindruck von der Komposition vermittelt. Aber darum geht es hier nicht. Wichtig erscheint mir festzuhalten, dass unter den Kritiken der cpo-CD die positiven Stimmen weit überwiegen. Man kann anscheinend tatsächlich davon sprechen, dass die lange Zeit dominierende, von Vorurteilen geprägte Sicht auf den Komponisten Furtwängler nun einer unvoreingenommenen, von echtem Interesse geprägten Herangehensweise an seine Musik weicht.

Norman Lebrechts Attacke

Doch halt! Da meldet sich ein älterer Herr zu Wort, um energisch sein Veto einzulegen. Es ist der britische Kritiker und Buchautor Norman Lebrecht, der sich in der Vergangenheit regelmäßig zu Wilhelm Furtwängler geäußert hat. Er steht offenbar im Ruf, ein Furtwängler-Experte zu sein, denn sonst hätte ihn die Deutsche Grammophon 2019 kaum damit beauftragt, einen Einführungstext zu ihrer 34 CDs und eine DVD umfassenden Edition sämtlicher DG- und Decca-Aufnahmen Furtwänglers zu schreiben. Seine Kritik der Haimor-Aufnahme unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass sie in einem Kontext steht, den ihr Autor im Laufe vieler Jahre schuf. Lebrecht inszeniert sich als eine Art Enthüllungsjournalist der Musikwelt. Eine Konstante seiner Tätigkeit als Autor ist die Suche nach charakterlichen Schwächen namhafter Musiker. Liest man seine Texte, meint man mitunter, ihn geradezu aufjauchzen zu sehen vor Freude, wenn er meint, etwas gefunden zu haben, das ihm die Möglichkeit gibt, eine bekannte Figur des Musiklebens als fehlerhaften Menschen darstellen zu können. Der Energie, die Lebrecht in Suchaktionen dieser Art steckt, steht eine bemerkenswerte Unachtsamkeit in Sachen Fakten gegenüber. Wer sich kurz informieren möchte, wie dicht in seinen Veröffentlichungen Fehler auf Fehler folgt, der lese die in der englischen Wikipedia zitierten Ausschnitte aus Besprechungen des Buches The Maestro Myth (1991, deutsch: Der Mythos vom Maestro) durch John von Rhein (Chicago Tribune), Roger Dettmer (Baltimore Sun) und Martin Bernheimer (Los Angeles Times).

Lebrechts Texte sind als Informationsliteratur nicht zu gebrauchen. Ihr Erfolg gründet sich auf die Art und Weise, wie der Autor Fakten, oder was er dafür hält, präsentiert. Wer sich von seiner Diktion einlullen lässt und ausreichend unkritisch alles schluckt, was Lebrecht seinen Lesern vorsetzt, wird am Ende damit belohnt, dass er es ihm gleichtun und sich wonnig in Schadenfreude suhlen kann. Diese Schadenfreude erscheint als die eigentliche Motivation der Lebrechtschen Schriftstellerei.

Wilhelm Furtwängler gehört offensichtlich zu Lebrechts Lieblingszielscheiben. Was Lebrecht über Furtwängler schreibt, ist im Grunde nicht interessant. Aber es ist interessant zu sehen, wie er gegen Furtwängler vorgeht und wie er Furtwänglers Kompositionen in diesem Zusammenhang benutzt. Zunächst lässt sich feststellen, dass er Furtwängler keineswegs pauschal verdammt. Auch für Lebrecht ist Furtwängler ein großer Dirigent. Das muss er auch sein, denn Lebrecht gibt sich nicht mit kleinen Fischen zufrieden. Einem großen Mann Anrüchiges anzuhängen, das ist seine Freude. Außerdem gehört Lebrecht zu jenen Autoren, die nie ernsthaft gegen den Strom schwimmen. Er möchte ein großes Publikum bedienen und braucht demzufolge die gängigen Klischees seiner Zeit, an die er anknüpfen und die er in seinem Sinne zuspitzen kann. Also kann er sich in diesem Falle gar nichts anderes leisten als den Dirigenten Furtwängler einen großen Mann sein zu lassen. Er versucht deshalb, ihn auf anderen Gebieten zu demontieren: Sein Ziel ist es zu zeigen, dass der berühmte Dirigent als Komponist wie als Mensch versagt habe. Auch dazu bedient er sich gängiger Klischees. Erwartet man etwas anderes?

Im Jahre 1992 veröffentlichte Lebrecht bei Simon & Schuster, New York, einen Companion to 20th Century Music, der acht Jahre später unter dem hochtrabenden Titel Complete Companion to 20th Century Music in erweiterter Form neu aufgelegt wurde. Auf S. 127 der Erstfassung findet sich über Furtwänglers Werke der folgende Absatz, der wörtlich auch in die Neufassung übernommen wurde:

He saw himself, like Mahler, as primarily a composer, yet his music is of little consequence. In three symphonies (1941–54), he seems repeatedly to linger and luxuriate in the sound he has created, though none of it bears the mark of an original mind. The works lack momentum, daring and, above all, anything personal to say – an unbelievable neutrality, given the times and the composer’s musical stature. The third in C-minor is classically formed and derivative of Bruckner. There is also a piano concerto that does a thematic tour around the great composers.“

Hier finden sich alle im ersten Teil des vorliegenden Textes ausführlich behandelten Vorurteile gegen Furtwängler gleichsam in der Nussschale zusammengefasst. Vor allem die Behauptung einer Bruckner-Abhängigkeit der Dritten Symphonie kann jeden, der mit dem Werk einigermaßen vertraut ist, nur belustigen. Kennt jemand eine Bruckner-Symphonie, die mit einem langsamen Satz beginnt, oder ein Scherzo enthält, in dem das Trio die Stelle einer Sonatendurchführung vertritt? Kann man sich auch nur ein Thema aus Furtwänglers Werk in eine Bruckner-Symphonie versetzt vorstellen? Welche Themen anderer Komponisten Lebrecht im Klavierkonzert gehört hat, verschweigt er. Würde er seine Funde öffentlich machen, hätte er zwei Möglichkeiten: Entweder müsste er zugeben, dass die Ähnlichkeiten zu gering sind um von einer „thematic tour“ zu sprechen (unter der er sich wahrscheinlich eine Art Potpourri vorstellt), oder dass Furtwängler die fremden Themen (welche auch immer es sein mögen) so stark verwandelt hat, dass sie zu seinen eigenen geworden sind. Außerdem fällt auf, dass Lebrecht sich in der Tonart der Dritten Symphonie irrt (cis-Moll muss es heißen, nicht c-Moll!). Furtwängler schien ihm wohl der Mühe nicht wert gewesen zu sein, den Fehler in der zweiten Auflage auszubessern. Dort steht er noch auf S. 136.

Seine zweite Angriffsfläche sieht Lebrecht in Furtwänglers Charakter im Allgemeinen und seinem Handeln während der NS-Zeit im Besonderen. Da greift er sehr hoch: „Moralisch lässt sich an Furtwängler nichts finden, das man bewundern könnte“, heißt es im Begleittext zur oben genannten Edition der Deutschen Grammophon. Was soll man davon halten angesichts dessen, dass Furtwänglers Einsatz für zahlreiche von den Nationalsozialisten Verfolgte eine durch Quellen hinreichend belegte Tatsache ist, und dass es darunter wenigstens zwei Fälle gegeben hat, in denen akut bedrohte Menschenleben durch eine direkte Intervention Furtwänglers gerettet worden sind (Carl Flesch und Heinrich Wollheim)? Aber nein, Lebrecht will in ihm nur einen „Günstling des Führers“ sehen, der „[n]ach einem Zwist mit Joseph Goebbels wegen einer Hindemith-Symphonie [gemeint ist Mathis der Maler] […] für kurze Zeit von seinem Amt bei den Berliner Philharmonikern suspendiert“, dann aber „von Hitler höchstselbst wieder eingesetzt“ worden sei. Wieder ein Lebrechtscher Fehler! Furtwängler ist als Chefdirigent der Philharmoniker 1934 aus eigenem Antrieb zurückgetreten und übernahm dieses Amt erst 1952 wieder. Es hat ihn niemand suspendiert, und erst recht hat ihn kein Hitler wieder eingesetzt.

Anscheinend immer bereit, in diese Kerbe zu hauen, frohlockte Lebrecht am 27. März 2019 auf seiner Seite Slipped Disc über ein angebliches „unknown pic[ture] of Furtwängler and the Füh[rer]“, das er mit folgenden Zeilen begrüßte: „After decades of censorship, whitewash and hagiolatry, documents continue to emerge of Wilhelm Furtwängler’s deeply compromised position with the leadership of the Third Reich. This latest discovery is from the Süddeutsche Zeitung archives. It shows Furtwängler conducting a factory concert in 1939 in front of a huge portrait of his Führer.“ Wer genau liest, wird feststellen, dass Lebrecht seine Leser mit der Überschrift in die Irre führt, denn, wie er ja selbst im Text schreibt, handelt es sich nicht um ein Bild, das Furtwängler mit Hitler zeigt, sondern lediglich um eine Aufnahme Furtwänglers vor einem überdimensionalen Hitler-Plakat (dem er übrigens mit nicht gerade begeistertem Blick den Rücken zukehrt). Das eigentlich Interessante an Lebrechts Beitrag ist allerdings, dass diese „latest discovery“ gar nicht neu ist. Das Bild, von dem er spricht, war der Öffentlichkeit spätestens bekannt, seit Fred K. Prieberg es 1986 in seinem Buch Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich publiziert hatte, auf dessen Schutzumschlag es außerdem zu sehen ist. 1986 bis 2019 macht 33 Jahre. Lebrecht hat sich also wieder einmal geirrt. Nicht „censorship, whitewash and hagiolatry“ haben dafür gesorgt, dass er die Photographie erst mit solch immenser Verspätung zur Kenntnis genommen hat, sondern schlicht seine Unwilligkeit, sich korrekt zu informieren. Bezeichnend erscheint auch der Umstand, dass er auf ein Bild, das vor Jahrzehnten in dem Buch eines Musikhistorikers abgedruckt wurde, durch die Süddeutsche Zeitung aufmerksam geworden ist. (Die Photographie gefiel Lebrecht übrigens so gut, dass er sie am 25. September 2019 zur Illustration eines weiteren Beitrags auf Slipped Disc verwendete, in welchem er „a series of videocasts, elaborating on the unofficial aspects of the great conductor“ ankündigte.)

Das angeblich neu entdeckte Bild 2019 auf Lebrechts Seite…
… und 1986 auf dem Umschlag von Priebergs Buch.

Soviel zu Lebrechts früheren Eskapaden. Die Veröffentlichung von Fawzi Haimors Aufnahme der Ersten Symphonie durch cpo nahm er nun zum Anlass, seinem jahrzehntelangen Verächtlichkeitsfeldzug die Krone aufzusetzen.

Seine Kritik findet sich im englischen Original auf My Scena, ist aber auch bereits auf Französisch, Tschechisch und Spanisch erschienen. Auf seiner eigenen Seite kündigte Lebrecht noch weitere Übersetzungen an.

Was er da in die Welt hinausgeschickt hat, ist, um es vorneweg zu sagen, ein Gebräu aus offensichtlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Verleumdungen und schwachen Versuchen witzig zu sein. Aber sehen wir uns den Text Absatz für Absatz genauer an!

In the spring of 1943, with millions being murdered across the continent of Europe, Germany’s wealthiest conductor summoned the Berlin Philharmonic Orchestra to rehearse a symphony he had written in B minor, his first. Furtwängler had been writing it, on and off, since 1908 and had lately added a fourth movement for which he had high hopes. These aspirations were dashed on first play-through. ‘Am very depressed,’ he told his wife. [/] Of all things to get depressed about at this darkest moment in modern history, a symphony seems relatively trivial, but such was the size of the maestro’s ego that it occluded most things around him, including the Nazi horrors which he chose to ignore. The symphony was supposed to be his ticket to posterity and he must have realised, during rehearsal, that it would not buy him a ride anywhere beyond the suburbs.“

→ Zunächst fällt wieder ein sachlicher Fehler auf: Die Erste Symphonie wurde weitgehend in den späten 30er und frühen 40er Jahren komponiert. Will man ihre Entstehungsgeschichte mit dem Largo-Satz beginnen lassen, der mit dem Kopfsatz der Ersten Symphonie das Anfangsthema (und nur dieses) gemeinsam hat, und von Furtwängler 1906 in seinem ersten Konzert uraufgeführt wurde, so muss man die Anfänge der Komposition ins Jahr 1905 verlegen, nicht 1908.

→ Lebrecht beginnt effektvoll mit dem Zweiten Weltkrieg. Furtwängler soll hier als moralisch fragwürdiger, egoistischer Mensch erscheinen, der es sich mitten im Krieg gut gehen lässt („Germany’s wealthiest conductor“) und sich nur um seine Kompositionen sorgt. Schwerer wiegt die Behauptung, Furtwängler hätte sich entschieden, die Nazi-Greuel zu ignorieren. Erneut muss man sich fragen: Wie kann man einem Manne, der sich persönlich für Verfolgte eingesetzt hat, der aus Protest gegen die Beeinflussung des Kulturlebens durch die Politik bereits 1934 alle öffentlichen Ämter niederlegte, der sich weigerte in von der Wehrmacht besetzten Ländern zu dirigieren, der sich dem Missbrauch seiner Person durch die NS-Propaganda so weitgehend entzog, wie es ihm möglich war, vorwerfen, er habe die Augen vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verschlossen? Man lese zu diesem Thema seriöse Bücher wie Klaus Langs Wilhelm Furtwängler und seine Entnazifizierung (Aachen: Shaker Media 2012) und Fred K. Priebergs Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich (Wiesbaden: F. A. Brockhaus 1986).

→ Lebrecht meint, Furtwänglers Niedergeschlagenheit nach der Probe wäre Wasser auf seine Mühlen. Nun hat Furtwängler tatsächlich nie wieder einen Takt aus der Ersten Symphonie dirigiert. Dies bedeutet aber nicht, er hätte das Werk als misslungen betrachtet und beiseite gelegt. Nein, er überarbeitete es ein weiteres Mal, sodass er 1946 Eugen Jochum schreiben konnte: „Von meinen Symphonien wird eine in diesem Jahr, die andere ein Jahr später herauskommen.“ (Klaus Lang: Wilhelm Furtwängler und die Tragik seines Komponierens, Aachen: Shaker Media 2013, S. 55) Dies hätte er (damals noch unter Auftrittsverbot) nicht geschrieben, wenn ihm die Erste zu dieser Zeit nicht aufführungsreif erschienen wäre. Während er die Zweite (die er 1948 uraufführte) als „fix und fertig“ ansah, war die Erste für ihn aber nur „fertig“ (ebenfalls an Jochum 1946, siehe Lang: Tragik, S. 49), und noch 1954 feilte er an einzelnen Stellen der Partitur. Dass er bis in sein Todesjahr um die endgültige Gestalt dieses Werkes rang, zeigt deutlich genug, wie wichtig ihm dieses Stück war. Ein Künstler macht sich nicht eine solche Arbeit mit einem Werk, das er für misslungen hält! Es kam lediglich durch den Tod des Komponisten zu keiner „Fassung letzter Hand“. Furtwängler hat die Erste Symphonie „’fertig‘, aber mit einigen Fragezeichen für die Nachwelt hinterlassen“, wie Sebastian Krahnert über den vergleichbaren Fall des Klavierquintetts schreibt.

Furtwängler died in 1954 and, though his cult as a legendary conductor continued to grow, his first symphony did not get performed until 1991. Two recordings were issued soon after, neither of them convincing. I was hoping for more from the Württemberg Philharmonie of Reutlingen, conducted by Fawzi Hamor [sic], on a label that performs noble service to German music, great and small. It soon confirmed my long impresion [sic] that Furtwängler’s composing talent was too small to be measured on any musical scale.“

→ Natürlich lässt sich Lebrecht nicht entgehen, die lange Zeitspanne zwischen Furtwänglers Tod und der Uraufführung hervorzuheben. Der Grund für die verspätete Uraufführung (die Ersteinspielung geschah bereits 1989) lag, ähnlich wie im Falle des Klavierquintetts, in dem philologisch problematischen Zustand der Partitur begründet. Die Furtwängler-Pflege konzentrierte sich zunächst auf die Werke, zu denen ein Notentext letzter Hand vorlag.

→ Kann man Lebrecht angesichts seiner Sätze von 1992 tatsächlich glauben, wenn er schreibt: „I was hoping for more“, oder ist dies nur reine Rhetorik?

If Bruckner married Mahler and hired Wagner and Brahms to tutor their backward child, the infant might have doodled something like Furtwängler’s B-minor symphony. This work is not so much composed as collaged. Trademarked themes of other composers are pasted onto a vast canvas of almost ninety minutes, each movement opening with a tune you know you’ve heard before. [/] The wholesale theft of classical treasures becomes so blatant that, six minutes into the Adagio, Furtwängler starts churning out chunks of Beethoven’s ninth symphony, as if we’d never know. Vanity aside, he repeats himself (or others) over and over again until you wonder how it was possible that so insightful and atmospheric a conductor could be so deaf and senseless to his own emanations. The fine musicians of Reutlingen do their level best to get us through; the fawning sleeve-notes are the most muddled I have read in years.“

→ Hier wird Lebrecht nicht nur gegen Furtwängler ehrenrührig, sondern auch gegen Eckhardt van den Hoogen, den Autor des Begleittextes. Als Übersetzung des Wortes „fawning“ wird mir von den konsultierten Nachschlagewerken nicht nur „liebedienernd“, sondern auch „kriecherisch“, „hündisch“, „schwanzwedelnd“ angeboten. Mit diesem Wort wird ein Autor bedacht, der sich sorgfältig mit Leben und Werk des von ihm dargestellten Komponisten vertraut gemacht hat und auf Grundlage dieses umfassenden Wissens in seinem Text ein möglichst getreues Charakterbild des Künstlers zu vermitteln strebt. Van den Hoogens Art, sich gleichsam in die Psyche der Komponisten, über die er schreibt, hineinzudenken, mag nicht Jedermanns Sache sein und birgt gewiss Risiken. Gerade aber, weil van den Hoogen diese Risiken auf sich nimmt, verdient er Respekt. Er ist ein Autor, der wagt, was sich viele andere nicht trauen. Und das Ergebnis gibt ihm meistens Recht. Der Furtwängler-Text macht darin keine Ausnahme.

→ Zum Schluss seines Artikels lässt Lebrecht die Katze aus dem Sack und zeigt uns, dass er offensichtlich rettungslos in Reminiszenzenjägerei befangen ist. Nach Anklängen an andere Werke Ausschau zu halten, mag ein hübscher Zeitvertreib sein und mitunter auch tatsächlich Interessantes zu Tage fördern, aber was ist davon zu halten, wenn diese Tätigkeit mit solch fanatischem Ernst betrieben wird, wie Lebrecht es hier tut? Lebrechts Worte sind ein Dokument uneingestandener Hilflosigkeit. Man hat einen routinierten Kritiker vor sich (oder besser: einen in Routine erstarrten Kritiker), welcher 1. offensichtlich weder willens noch fähig ist, sich mit dem Werk ernsthaft auseinanderzusetzen, und 2. die Vorurteile, die er gegenüber dem Komponisten hegt und selbstgefällig pflegt, auf Biegen und Brechen sich und anderen bestätigen will. Für Lebrecht ist Furtwängler also ein Dieb (bereits 1992 klingt dies in seiner Einschätzung des Klavierkonzerts an), und der Kritiker hält sich für besonders schlau, weil er meint, diesen „Dieb“ überführt zu haben. Wenn man weiß, dass Lebrecht ein leidenschaftlicher Verehrer Gustav Mahlers ist, und bedenkt, dass er bereits 1992 in seinem Handbuchartikel Furtwängler und Mahler einander gegenübergestellt hat, so möchte man glauben, er versuche hier die Vorwürfe, die man früher Mahler gemacht hat, auf einen anderen Komponisten (der zugleich, wie Mahler, ein großer Dirigent war) zu übertragen und damit gleichsam ein Negativbeispiel zu Mahler zu schaffen: Seht her – scheint er uns zwischen den Zeilen sagen zu wollen –, die Diebstähle, die man Mahler zu Unrecht vorwarf, Furtwängler hat sie begangen! Da stellt sich die Frage, was eigentlich so schlimm daran sein soll, wenn ein Komponist aus einem fremden Einfall einen eigenen macht. Dass bei Mahler die Anfangsthemen der Dritten und Sechsten Symphonie und das Rondo-Thema der Siebten auffallend an Melodien von Brahms, Bruckner und Wagner anklingen, ist doch keine Schande! Wenn Mahler hier den Reminiszenzenjägern Köder ausgelegt hat, so tat er das – Humorist, der er war –, um sie zu foppen. Bereits bei der Komposition dürfte er innerlich darüber gelacht haben, dass das „jeder Esel hören wird“, um es mit Brahms zu sagen. Außerdem hat er allen Themen etwas Neues, Eigenes hinzugefügt. In der Form, in der er sie präsentiert, sind sie nicht mehr die Themen anderer Komponisten.

Mahler ist kein Melodiendieb. Noch unsinniger wirkt der Versuch, Furtwängler dergleichen anzuhängen, denn dessen melodische Erfindung war so eigen, dass jedes Zitieren fremder Musik im Kontext seines Stiles wie ein Fremdkörper hätte wirken müssen. Dabei gibt es allerdings Reminiszenzen in Furtwänglers Werken. Ich erinnere an ein Thema im Kopfsatz der Ersten Symphonie, dessen Anfang im zweiten Satz der Dritten wieder auftaucht. Auch fängt das Symphonische Konzert mit beinahe dem gleichen Motiv an wie die Zweite Symphonie. Themen, die auf Tonleiterausschnitten basieren, oder solche mit sinusartigen Melodieverläufen gibt es in jedem Werk Furtwänglers, sodass schon dadurch Anklänge der Werke untereinander gewährleistet sind. Dies liegt schlicht daran, dass Furtwängler der Archetyp eines „Igels“ ist. So nennt Isaiah Berlin in seinem Buch Der Igel und der Fuchs, anknüpfend an das antike Sprichwort „Der Fuchs weiß verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große“ diejenigen Künstler und Denker, die von einer großen Idee besessen sind, auf welche sie alles beziehen. Auch Furtwängler hat sein Leben lang eigentlich immer das gleiche Ziel verfolgt. Die einzelnen Werke sind individuelle Lösungen einer stets gleich bleibenden Aufgabenstellung – wie bei Bruckner, der ja auch als „Igel“ in Reinform gelten kann (als spätere Vertreter dieses Typus lassen sich etwa Allan Pettersson, Robert Simpson, Peter Mennin nennen). Und so wie Bruckner mit gewisser Regelmäßigkeit sich selbst zitiert, vielleicht sogar unbeabsichtigt, so tut dies Furtwängler ebenfalls.

Ich gebe gern zu, dass mir die Anklänge an Beethovens Neunte, die Lebrecht im Adagio der Ersten Symphonie Furtwänglers zu hören meint, nie aufgefallen sind. Warum nicht? Weil dieses Adagio mich durch das, was es ist, so gefesselt hat, dass ich mich nicht darum kümmerte, ob Reminiszenzen an ein anderes Meisterwerk darin sind oder nicht. Gedanken darüber, was es zur individuellen Beschaffenheit dieses Satzes zu sagen geben könnte, kommen Lebrecht gar nicht. Meint er ernsthaft, dass es das Wesentliche an diesem Stück sei, dass Furtwängler hier „gestohlen“ habe? Lebrecht hat mit seinen Lesern etwas Bestimmtes vor: Sie sollen gedanklich gelenkt werden, und zwar nicht hin zu einem besseren Verständnis des Werkes, sondern sie sollen ebenso eine Mauer zwischen sich und dem Werk hochziehen, wie sie Lebrecht für seine Person errichtet hat. Wenn in der Kritik steht, jeder Satz der Symphonie beginne mit einem Thema, von dem man wisse, dass man es schon einmal gehört habe, so ist das eine Aufforderung an die Leser, sich, wenn sie denn dazu kommen das Stück zu hören, auf die Frage zu konzentrieren, wo man dieses oder jenes Thema bereits gehört haben könnte. Sie sollen davon abgelenkt werden, den musikalischen Ereignissen zu folgen, so wie Lebrecht ihnen nicht mehr folgen kann, da seine alten Vorurteile gegen Furtwängler ihm den Weg versperrt haben. Man erlebt in seinem Text, wie ein Kritiker, um seine einmal gefestigten Ansichten über einen Komponisten zu bestätigen, alle seine Kräfte zur Reminiszenzenjagd aufbietet, um wenigstens irgendetwas zu finden, das gegen den Komponisten verwendet werden kann. Dass Lebrecht dann keine Kraft mehr hat, sich auf das Werk selbst zu konzentrieren, ist die natürliche Folge.

Sowenig man Furtwängler einen derivativen Komponisten nennen kann, so sehr sind Lebrechts Ausführungen zu seinem Schaffen von Anfang bis Ende ein Derivat, zusammengeleimt aus dem Billigsten, was an Klischees und Vorurteilen über Furtwänglers Kompositionen im Laufe der Zeit von Unwissenden und Übelwollenden in Umlauf gebracht worden ist. Unter seinen Händen ist dieses Gedankengut geradezu eine Karikatur seiner selbst geworden. Man kann beinahe von einer unfreiwilligen Satire sprechen. Kann man angesichts dieser Bankrotterklärung eines der hartnäckigsten Verleumder Furtwänglers vermuten, dass die Gegner des Komponisten ihr Pulver verschossen haben? Gewiss wird man sie noch zu der einen oder anderen Schlammschlacht ausrücken sehen, aber ihre hohlen Phrasen, die sie mangels tatsächlicher Argumente gezwungen sind fortwährend zu wiederholen, werden sich immer weiter abnutzen. An Furtwänglers Werken werden ihre Attacken zerschellen wie eh und je. Dem Konzertleben, den Tonträgerproduktionen und der Musikwissenschaft dagegen steht ein zahlenmäßig nicht großes, aber dafür umso gehaltvolleres Schaffen zur Verfügung, das diejenigen reich belohnen wird, die sich mit Ernst und Zuneigung seiner Ergründung widmen. Es verdiente eine bessere Pflege als sie ihm im 20. Jahrhundert zu Teil wurde. Tun wir es nicht Lebrecht und seinesgleichen gleich, sondern:

Hören wir dem Komponisten Wilhelm Furtwängler gut zu!

Programmzettel zur ersten Aufführung von Furtwänglers Zweiter Symphonie, die nicht vom Komponisten selbst geleitet wurde. Es dirigierte Rolf Agop (1908-1998).

[Norbert Florian Schuck, Januar 2022]

Kleines Beethoven-Vademecum (4): Beth Levin und Beethovens Tempo

Aldilà Records, ARCD 011; EAN: 9 003643 980112

Was ist ein richtiges Tempo? Eine erschöpfende Antwort auf diese Frage zu geben, über die im Laufe der Zeit eine gewiss nicht geringe Zahl Musiker und Hörer nachgedacht hat, soll im Folgenden nicht versucht werden. An dieser Stelle wollen wir uns darauf beschränken, die Sinne zu schärfen. Als Gegenstand der Betrachtung wähle ich eine einzelne Aufnahme, die mir besonders gut geeignet erscheint, ein Gespür für die Problematik des richtigen Tempos zu entwickeln: 2019 spielte Beth Levin in Baltimore Ludwig van Beethovens Große Sonate für das Hammerklavier B-Dur op. 106. Der Mitschnitt des Konzerts, in welchem die Pianistin neben Beethovens Werk auch Georg Friedrich Händels Suite d-Moll HWV 428 und Anders Eliassons Carosello (Nr. 3 der Stücke, die der schwedische Meister unter dem Gattungstitel „Disegno“ zusammenfasste) zu Gehör brachte, erschien rechtzeitig zum 250. Geburtstag Beethovens 2020 unter dem Titel Hammerklavier Live bei Aldilà Records.

Bekanntlich versah Beethoven den ersten Satz der Großen B-Dur-Sonate mit der Metronomisierung Halbe = 138, und ebenso bekanntlich haben nur wenige Pianisten den Versuch unternommen, den Satz in dieser Geschwindigkeit zu spielen. Arthur Schnabel, Walter Gieseking und Michael Korstick kamen dabei am nächsten an das von Beethoven notierte Tempo heran. Aber sie blieben Ausnahmen. Die meisten anderen wählten ein mäßigeres Zeitmaß. Der Aussage Hermann Kellers, dass „nach [Beethovens Metronomisierung] der erste Satz in einem so unsinnig schnellen Tempo zu spielen wäre, daß dieses Tempo nicht nur kaum ein Spieler erreichen kann, sondern daß dadurch auch der musikalische Inhalt des Satzes völlig zerstört werden würde“ (Hermann Keller: „Die Hammerklavier-Sonate“, Neue Zeitschrift für Musik 1958), hat die Mehrheit der Pianisten vielleicht nicht verbal, wohl aber in der musikalischen Praxis zugestimmt. Da sich das Problem der Realisierbarkeit der Metronomangaben Beethovens auch in anderen Fällen einstellt, wurde oft vermutet, er habe ein defektes Metronom besessen. Auch erscheint es möglich, er habe das Metronom schlicht falsch abgelesen (wie Almudena Martín Castro und Iñaki Úcar Marqués in einer Studie plausibel gemacht haben). Es verhalte sich mit dem Metronom wie es wolle; interessanter dürfte sein, dass Schnabel, Gieseking und Korstick das Ritardando, das Beethoven im achten Takt des Satzes vorschreibt, bereits im vorangehenden Takt vorbereiten, sie mithin also alle empfinden, die Verlangsamung solle nicht plötzlich erst da stattfinden, wo sie tatsächlich laut Notation verlangt wird. Darin bloß eine körperliche Entspannungsreaktion auf die im „korrekten“ Tempo vorgetragenen, vollgriffigen Anfangstakte zu sehen, wäre zu kurz gedacht, schließlich zeigt sich das gleiche Phänomen auch bei Pianisten, die deutlich langsamer spielen (etwa bei Daniel Barenboim, der den Satz in rund 12 ½ Minuten, einschließlich Expositionswiederholung, darbietet). Die Notwendigkeit einer allmählichen Verlangsamung stellt sich bei den Musikern gleichsam von selbst ein. Warum ist das so? Betrachten wir die Takte 7 und 8, so bemerken wir, dass die Musik hier auf eine Dominantharmonie zusteuert und auf dieser kurz inne hält (Fermate). Die Bewegung hin zu dieser Dominante zeichnet sich in Takt 7 bereits deutlich ab. Harmonisch bringt der Takt 8 zu Ende, was sich im Takt 7 (und den vorangehenden Takten) angedeutet hat. Die Pianisten empfinden diesen Zusammenhang und setzen ihn um in Form eines Ritardandos, das an Länge das vom Komponisten vorgeschriebene übertrifft.

Damit ist die Frage aufgeworfen, was sich eigentlich in Notenschrift festhalten lässt. Will Beethoven, dass im Takt 8 des Allegros von op. 106 ein Ritardando gemacht wird, oder will er, dass nur an dieser Stelle ein Ritardando gemacht wird? Spielen die Pianisten richtig, wenn sie bereits in Takt 7 leicht und dann in Takt 8 deutlich verlangsamen, oder spielen sie richtig, wenn Takt 7 im raschen Tempo des Anfangs gespielt und erst in Takt 8 verlangsamt wird? Und wie stark soll das Ritardando in Takt 8 sein? Dazu steht in den Noten nichts. Außer den Ritardandi und den ihnen folgenden A-Tempo-Vorschriften enthält der Satz keine weiteren Angaben zur Gestaltung der Zeitmaße. Damit scheint die Frage geklärt, welches Tempo als das Maßgebliche für den ganzen Satz anzusehen ist, nämlich offiziell Halbe = 138. Aber ist dieser Schluss zwingend?

Sehen wir uns ein Stück aus späterer Zeit an: Die Vierte Symphonie von Jean Sibelius, ein Werk, das einer Epoche entstammt, die zu Tempi und Vortrag stärker differenzierte Angaben anzubringen pflegte als dies zu Beethovens Zeit üblich war. Berühmt ist die Coda des Finalsatzes dieser Symphonie, in der ein Zerfallsprozess auskomponiert wird. Metronomangaben enthält die Partitur nicht, für den ganzen Finalsatz gilt (wie für Beethovens Sonatenkopfsatz) eine einzige Tempovorschrift: „Allegro“. Soll die Coda also gleich schnell gespielt werden wie der Satzanfang? „Nein“, sagt – Jean Sibelius! Nachträglich wiederholt um Metronomangaben gebeten, schrieb der Komponist zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Zahlen auf. Die Coda des Finales bezeichnete er mit einer vom Rest des Satzes abweichenden Metronomisierung. Wer nur die Partitur kennt, kann das nicht wissen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie viele Dirigenten um Sibelius‘ Metronomisierungen wussten. Es findet sich aber kaum einer, der am Ende der Vierten Symphonie das Tempo nicht wenigstens minimal verlangsamt.

Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch die unterschiedlichen Auffassungen der Dirigenten vom Schluss des Kopfsatzes der Achten Symphonie Anton Bruckners (zweite Fassung). Bruckner selbst beschrieb ihn als Sterbeszene: Es sei, als wenn einer einer im Sterben liege, und gegenüber hänge die Uhr, die, während sein Leben zu Ende gehe, immer gleichmäßig fortschlage. Es ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass eine Uhr kein Ritardando mache. In dieser unerbittlichen Gleichmäßigkeit bringen beispielsweise Hans Rosbaud und Jascha Horenstein den Satz zum Abschluss. Hat dann Wilhelm Furtwängler Unrecht, wenn er diese Takte als lang gezogene allmähliche Verlangsamung spielen lässt, oder Sergiu Celibidache, wenn er das Gleichmaß bis kurz vor Schluss durchhält und beim letzten Erklingen des Motivs ein Ritardando anbringt? Muss ein Dirigent, weil der Komponist selbst die Musik so beschrieb, sich verpflichtet fühlen, das Bild von der tickenden Uhr umzusetzen? Man sollte auch bedenken, dass Bruckners Worte aus einem Brief an den jungen Felix Weingartner stammen, den er um eine Aufführung des Werkes bat, und der damals noch ein leidenschaftlicher Anhänger der Programmmusik war. Ein echtes Programm hat Bruckner seiner Symphonie nie beigelegt.

Aber kehren wir zu Beethovens Sonate op. 106 zurück und widmen uns der Einspielung Beth Levins! Ihre Aufführung des Werkes kann man ohne zu untertreiben eine besondere nennen – ich möchte sagen: eine besonders mutige. Die Pianistin vermeidet nämlich metronomisch normierte Tempi und absolut festgelegte Geschwindigkeiten, was vor allem im Kopfsatz zu mitunter sehr starken Temposchwankungen führt. Beethovens Vorgabe „Allegro“ scheint sie aufzufassen als: „ein Stück im Allegro-Charakter“, offensichtlich bedeutet sie ihr nicht, dass ein einzelnes Tempo über den ganzen Satz hinweg durchgehalten werden muss. Würde Levins Aufnahme sich durch nichts anderes als ständige Tempowechsel aus der Masse der Einspielungen herausheben, so wäre sie nicht weiter interessant, ja man würde sie vielleicht als Dokument selbstherrlicher Interpretenwillkür wahrnehmen. Aber das ist sie gerade nicht! Levins Tempi sind keineswegs willkürlich gewählt, sondern lassen sich durchweg aus dem Verlauf der Musik heraus legitimieren. Wir haben oben anhand der Aufnahmen Schnabels, Giesekings und Korsticks feststellen können, dass auch Pianisten, die nach metronomischer Genauigkeit streben, ihr Tempo vorübergehend abwandeln, weil die harmonische Beschaffenheit der Musik ihnen dies als angemessen erscheinen lässt. Beth Levins Tempowahl speist sich aus keiner anderen Quelle. Sie orientiert sich an den tonalen Schwerpunkten der Musik. Die einzelnen Phrasen lässt sie sich auf ein temporäres harmonisches Ziel hin entfalten bzw. von einem Ausgangspunkt weg. Die Geschwindigkeit ergibt sich dabei aus der jeweiligen Situation heraus. So, wie sie unter Levins Händen zu hören sind, haben bestimmte Geschehnisse von der Pianistin eine Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos geradezu gefordert, um besonders deutlich in ihrer Eigenart wie in ihrer Funktion im Zusammenhang des Ganzen erfassbar zu werden. Sei es das Ansteuern eines harmonischen Zentrums oder das Wegstreben von ihm, eine Veränderung in der Beschaffenheit des Tonsatzes, die Darstellung der Wechselwirkung polyphoner Linien: Immer besteht für Beth Levin ein triftiger Grund, das Zeitmaß so zu gestalten, wie sie es tut.

Anhand der ersten Takte des Kopfsatzes soll nun verdeutlicht werden, wie Levin im einzelnen vorgeht. Die akkordisch gesetzten ersten vier Takte nimmt sie nicht sehr schnell, aber vergleichsweise rasch. Dem erstmaligen Durchschreiten harmonischer Zwischenstufen in den nächsten vier Takten widmet sie mehr Zeit, betont die Sequenz, achtet auf die gleichmäßige Viertelbewegung im Bass, und wird, wie ausdrücklich in der Partitur gefordert, noch einmal langsamer, wenn sich die Musik kurz auf der Dominante niederlässt. Wenn die Musik von Takt 5 in Takt 9 eine Oktave höher noch einmal ansetzt, geschieht dies wieder Tempo von Takt 5. Ab Takt 12, wo die eintaktigen Phrasen sich zu zweitaktigen weiten, spielt Levin etwas rascher. Das damit verbundene Crescendo lässt sie vorrangig in der absteigenden Basslinie stattfinden, dadurch deren Sonderstellung gegenüber den anderen Stimmen betonend. Das Periodenende wird mit einem kleinen Ritardando markiert. Die in Takt 17 mit dem Wiedereintritt der Tonika beginnende neue Periode bewegt sich anders als die vorigen. In der rechten Hand wechselt je ein Takt in Halben mit einem in Vierteln (mit verschiedener Begleitung in der linken Hand). Levin hebt dies hervor, indem sie die Takte in Halben geringfügig langsamer nimmt als die Takte in Vierteln; somit ergibt sich von selbst eine Beschleunigung, wenn sich in Takt 25 die Viertel-Bewegung durchsetzt. Ist diese Steigerung in Takt 27 auf ihrem melodischen Höhepunkt angelangt, so beschleunigt Levin noch etwas, wenn die Musik nun in die Tiefe stürzt um ab Takt 31, wenn sie, auf der Domiante angelangt, ohne Harmoniewechsel wieder in die Höhe steigt und dabei leiser wird, deutlich langsamer zu werden. Man könnte, so weitermachend, jede Seite der Partitur mit der Aufnahme abgleichen und fände die Tempowahl der Pianistin stets in der musikalischen Struktur begründet. Das feine Herausarbeiten der Einzelheiten, oft in Verbindung mit verbreitertem Tempo, und der dabei durchweg gewahrte Überblick Beth Levins über den Fortgang der Handlung lassen die ungeheuren Spannkräfte der Musik erst recht hervortreten. Zu jedem Augenblick möchte man sagen: „Verweile doch, Du bist so schön!“, und doch herrscht faustischer Vorwärtsdrang. Selten hört man das Ringen zwischen Rubato und Momentum in einer solchen Deutlichkeit wie hier!

Über die Proportionen des Werkes in Levins Aufnahme mögen hier noch die Spieldauern der einzelnen Sätze Auskunft geben:

Allegro: 12:04 (ohne Expositionswiederholung)

Scherzo: 03:11

Adagio: 17:10

Finale: 14:11

Beth Levins Album Hammerklavier Live ist übrigens nicht nur wegen Beethovens op. 106 empfehlenswert. Auch die Werke der anderen beiden Großmeister laden, abgesehen davon, dass sie größtes Hörvergnügen bereiten, dazu ein, über die Wiedergabe von Musik nachzudenken. Wie geht man damit um, dass Händel seine Klavierwerke nur äußerst spärlich mit Vortragsbezeichnungen versehen hat? – Eliassons Carosello aus dem Jahr 2005 wird weitgehend von einer Drei-Achtel-Bewegung getragen. Die Harmonik prägt klare tonale Zentrierungen aus, ohne dass je sich eine Tonika eindeutig durchsetzt. Beth Levin gibt der Darstellung dieser harmonischen Schwebezustände den Vorzug vor einer konsequenten Umsetzung mechanischer Karussellrotation. Man hört sozusagen ein imaginäres, unwirkliches, erträumtes Karussell, dessen Reiz gerade darin besteht, dass es sich gar nicht gleichmäßig drehen will. Übersteigt hier nicht die Kunst den Trott der profanen Welt? Und gilt nicht letztlich für Levins Beethoven-Darbietung das Gleiche?

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (3): Hans Rosbauds Vermächtnis

SWR Classic, SWR19089CD; EAN: 7 47313 90898

In dieser Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums werden die bei SWR Classic gesammelt herausgebrachten Beethoven-Aufnahmen eines besonderen Dirigenten vorgestellt: Hans Rosbaud.

Den Symphonien Ludwig van Beethovens dürften sich so viele Dirigenten gewidmet haben wie keiner anderen Gruppe von Orchesterwerken irgendeines Komponisten. Man hat also die Wahl zwischen Unmengen an Gesamteinspielungen und Einzelaufnahmen. Nicht selten liegen von einem Kapellmeister alle oder zumindest einige der Stücke mehrmals auf Tonträgern vor. Wie es bei so ungeheuer populären und entsprechend oft aufgeführten Werken kaum anders der Fall sein kann, geht mit der Vielzahl der Interpreten auch eine Vielfalt der Darbietungsweisen einher, die immense Qualitätsunterschiede einschließt. Wer hat nicht alles versucht, mit Beethoven seine musikalische Visitenkarte abzugeben? Als was ist Beethoven im Laufe der Zeit nicht alles präsentiert worden? Man hat ihn auf Hochglanz poliert, gegen den Strich gebürstet, in metronomisch exakten Gleichschritt gebracht und denselben durch Dauerrubato gezielt vermieden. Beethoven ist des Einen Romantiker und des Anderen Klassizist, für Manchen gar ein alles zertrümmernder Revolutionär. Die Symphonien gibt es „sachlich-nüchtern“ ebenso wie hyperemotional. Der eine Dirigent verspricht uns den „Beethoven fürs 21. Jahrhundert“, der andere will den Komponisten gar nicht aus dem 18. – oder was er dafür hält – herauslassen. Für Non-Vibrato-, Non-Legato- und Staccato-Freunde hat man die Symphonien schon aufgenommen, und auch der Heavy-Metal-Beethoven scheint auf dem Wege zu sein. Abseits der großen Konzerthallen und Plattenproduktionen, abseits der Quellen der Tagesmode, finden sich schließlich die regionalen Klangkörper, die auf ihr Wirken hinweisen möchten. Dass sie dazu gern Beethoven wählen, wer möchte es ihnen verargen? Mit den Werken des meistgespielten Symphonikers lässt sich nun einmal gut zeigen, was ein Kapellmeister in der Provinz mit seinem Orchester leisten kann. Angesichts der großen Zahl an Aufnahmen, die im Laufe der Zeit von Beethovens Symphonien gemacht worden sind, kann man sich durchaus fragen, welche Dirigenten den Kompositionen am ehesten gerecht geworden sind.

„Beethoven was a complete artist“, sagt Donald Francis Tovey zu Beginn seiner leider unvollendet gebliebenen Beethoven-Monographie. Ein vollständiger Künstler – damit ist viel mehr gemeint als nur die vollkommene Beherrschung des Handwerks und die Fähigkeit, es souverän im Dienste der Formung musikalischer Gedanken zu gebrauchen. Letztlich war Beethoven auch einer der vielseitigsten Schöpfer musikalischer Charaktere. Wie jedes seiner Sonatenwerke, von den kurzen, zweisätzigen Klaviersonaten bis hin zum cis-Moll-Streichquartett und zur Neunten Symphonie seine individuelle, nur ihm eigene Form besitzt, so haben sie alle auch ihr persönliches Profil, einen bestimmten Grundcharakter, dem sich aber auch weitere Charakterzüge beimischen können – in Form zum Kopfsatz kontrastierender Sätze, wie auch als Kontraste innerhalb der Sätze selbst. Kurzum: Beethovens liebt es, seine Werke als das zu gestalten, was man in der Wortdichtung „runde Charaktere“ nennen würde. Und wie unterschiedlich ist die Grundstimmung der Stücke! Nicht nur stehen beispielsweise das Violinkonzert, das Vierte Klavierkonzert und die Pastorale in mehr oder weniger direkter Nachbarschaft zur Fünften Symphonie und zur Appassionata. Auch Werke, die gewöhnlich aufgrund ihrer Tonart als zusammengehörige Gruppe betrachtet werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als recht verschieden. So redet man gern von Beethovens c-Moll-Stücken als seien die betreffenden Werke einander charakterlich besonders ähnlich. Aber ist es nicht eher erstaunlich, welch unterschiedliche Akzente Beethoven im ersten Satz der Fünften Symphonie und in der Coriolan-Ouvertüre setzt? Und im Streichquartett op. 18/4, und in der Klaviersonate op. 10/1? Oder nehmen wir uns die zahlreichen Werke in F-Dur vor, in welcher Tonart Beethoven ein Viertel seiner Streichquartette komponiert hat. Kinder vom selben Vater gewiss, aber wie hat doch jedes seinen eigenen Kopf!

Dieser Vielgestaltigkeit der Beethovenschen Erfindungsgabe haben große Musiker in ihren Wiedergaben seiner Werke stets Rechnung zu tragen gesucht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Aufführungen spiegeln die individuelle Herangehensweise der Interpreten wieder, doch lässt sich als gemeinsamer Nenner anführen, dass sie alle darauf aus gewesen sind, den Gedankenreichtum, von dem Beethovens Kompositionen zeugen, klingende Wirklichkeit werden zu lassen, den Komponisten als „vollständigen Künstler“ zu präsentieren. Ein Dirigent, der in diesem Sinne mit besonderem Geschick für die Orchesterwerke gewirkt hat, ist Hans Rosbaud (1895–1962), dessen zwischen 1953 und 1962 mit dem Südwestfunk-Orchester Baden-Baden aufgezeichnete Beethoven-Aufführungen von SWR Classic im Jahr 2020 auf sieben CDs veröffentlicht worden sind.

Man hat bereits zu seinen Lebzeiten versucht, Rosbaud Etiketten aufzukleben, ihn in Schubladen einzusortieren – in recht unterschiedliche Schubladen! Rosbaud selbst stellte fest, dass er in Donaueschingen als Modernist galt, in Aix-en-Provence als Mozartianer, in München als Bruckner-Dirigent. Nun, die Leute hatten Recht – wie auch diejenigen Recht hatten, die Rosbaud besonders mit Mahler assoziierten, und auch die, für die er aufgrund seiner von der Deutschen Grammophon produzierten LP mit Orchesterstücken Sibelius‘ ein bedeutender Sachwalter dieses Komponisten war. Ja, Rosbaud war dies alles. Nur eines war er nicht, und wollte es auch nie sein: ein einseitiger Spezialist. Am dauerhaftesten hielt sich nach seinem Tode sein Ruf als Förderer der Avantgarde, was insofern berechtigt war, als dass kein anderer Dirigent sich nach dem Zweiten Weltkrieg so energisch dafür einsetzte, die Werke Schönbergs und seiner Schüler dem Musikleben Deutschlands zurückzugewinnen und kein anderer auf den Donaueschinger Musiktagen so viele Uraufführungen junger Avantgardisten dirigierte, darunter Ligetis Atmosphères und Pendereckis Fluorescences. Auch die Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron (konzertant Hamburg 1954, szenisch Zürich 1957) gehört zu Rosbauds Verdiensten. Allerdings beschränkte sich sein Einsatz für neue Musik keineswegs auf zwölftönige, serielle und postserielle Stücke. So zählen zu den von Rosbaud uraufgeführten Werken ebenso Johann Nepomuk Davids Erste und Karl Amadeus Hartmanns Zweite Symphonie, die jeweils einzigen Symphonien des bayrischen Spätromantikers Heinrich Kaspar Schmid und des im Krieg getöteten Jarnach-Schülers Leo Justinus Kauffmann, sowie die Ouvertüre zu einem frohen Spiel von Joseph Haas. Beinahe wäre er auch Uraufführungsdirigent der Zweiten Symphonie Wilhelm Furtwänglers geworden, doch entschied sich der Komponist letztlich, das Werk selbst als erster herauszubringen.

In einer autobiographischen Skizze (kurz nach seinem Tode 1963 veröffentlicht in: Das musikalische Selbstportrait, hrsg. von Josef Müller Marein und Hannes Reinhardt) schrieb Rosbaud, er sei „im Laufe der Zeit dahinter gekommen, daß all diese verschiedenen Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, sich in Wirklichkeit zu einem Großen und Ganzen ergänzen“. Damit meinte er nicht nur die alte und die neue Musik und ihre verschiedenen Stilrichtungen, sondern auch außermusikalische Wissensgebiete, wie Sprachen (er las Altgriechisch und Latein und sprach fünf lebende Sprachen fließend) und „naturwissenschaftliche Dinge“, wie Kernphysik, die den „leidenschaftlichen Mathematiker“ (wie ihn Müller-Merein nennt) „unendlich fessel[te]n“. Es machte ihn glücklich, sich „immer wieder neue und möglichst schwere Aufgaben“ zu stellen, „die ich lösen will“. Zu diesem Bild eines vielseitig interessierten Menschen passt, dass Rosbaud sich als ausübender Musiker nicht nur auf das Dirigieren beschränkte. So trat er immer wieder auch als Pianist in Erscheinung und hat diesen Teil seines Wirkens durch mehrere Aufnahmen dokumentiert, beispielsweise als Liedbegleiter von Boris Christoff oder Elisabeth Schwarzkopf. Mit Maria Bergmann und den Schlagzeugern Werner Grabinger und Erich Seiler nahm er Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug auf. Zu Beginn seiner Laufbahn komponierte er auch häufiger. Vielleicht würde es sich lohnen, einmal eines der Werke Rosbauds zur Aufführung zu bringen? Es ist jedenfalls denkbar, dass der Schüler Bernhard Sekles‘ auch auf diesem Gebiet Tüchtiges geleistet hat. Ein Klaviertrio von ihm wurde übrigens unter Mitwirkung seiner Mitschüler Paul und Rudolf Hindemith zur Uraufführung gebracht.

Rosbaud wuchs sozusagen nach guter alter Sitte in das Kapellmeisterhandwerk hinein, nämlich als ein Musiker, der beinahe alle Orchesterinstrumente spielen gelernt hatte. Sein Lehrer Sekles stellte ihm deshalb folgendes Zeugnis aus: „Er ist auf diese Weise in der Lage, den einzelnen Orchestermusikern Ratschläge zu geben, wie es heutzutage kaum einem Dirigenten möglich ist. Da sich zu all diesen Eigenschaften eine durchaus ideal gerichtete Gesinnung, eine seltene Begeisterungsfähigkeit und ein stählerner Wille gesellt, nicht zuletzt auch die Fähigkeit, diesen Willen in der bezwingendsten Form durchzusetzen, so ist Hans Rosbaud für jedes Musikinstitut ein unschätzbarer Gewinn.“

Bei jeder Aufgabe, die er sich stellte, ging Rosbaud mit untrüglicher Professionalität ans Werk. Um eine möglichst gelungene Aufführung zu garantieren, scheute er auch vor überdurchschnittlich vielen Proben nicht zurück. Zugleich war er in der Lage, eine ihm neue Partitur in kürzester Zeit zu erfassen. Beide Eigenschaften bewährten sich bei den Uraufführungen von Schönbergs Moses und Aron: Zur Vorbereitung der konzertanten Premiere standen ihm nur wenige Tage zur Verfügung, da er kurzfristig für den eigentlich vorgesehenen Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt eingesprungen war; für die szenische Premiere nahm er sich dann außerordentlich viel Zeit: Laut Kurt Honolka (Knaurs Weltgeschichte der Musik, 1979) modellierte Rosbaud das schwierige Werk in nicht weniger als 324 Einzelproben. „Ehe wir die Partitur nicht vollkommen servieren, werden wir sie nicht beurteilen können!“, hat er bei anderer Gelegenheit einmal geäußert. Dies kann als Maxime seines Arbeitens als ausführender Musiker gelten.

Rosbaud hatte in den 20er Jahren zu den Pionieren orchestralen Musizierens im Rundfunk gehört. In der Nachkriegszeit wurde das Südwestfunk-Orchester Baden-Baden zum Zentrum seines Wirkens, dessen Chefdirigent er von 1948 bis zu seinem Tode war. Ihm zu Ehren wurde das Baden-Badener Aufnahmestudio des Senders in „Hans-Rosbaud-Studio“ umbenannt. (Es ist geplant, diese wichtige Spielstätte deutscher Musikgeschichte 2024 abzureißen.) Einige seiner Aufnahmen mit dem Südwestfunk-Orchester sind seit längerer Zeit auf dem Markt verfügbar, doch erst vor wenigen Jahren wurde damit begonnen, Rosbauds Vermächtnis beim SWR systematisch zu veröffentlichen. Die von SWR-Classic herausgebrachte Reihe hat mittlerweile den stattlichen Umfang von zwölf Folgen erreicht, von denen die Hälfte sechs bis neun CDs stark sind. Man kann Rosbaud erleben mit: Haydn, Mozart, Beethoven, Weber und Mendelssohn, Chopin, Schumann, Wagner, Bruckner, Brahms, Tschaikowskij, Mahler sowie Sibelius. Weitere werden hoffentlich bald folgen. Die Beethoven- und Mahler-Editionen enthalten auch Aufnahmen mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, das von Rosbaud ebenfalls häufig dirigiert wurde.

Als Beethoven-Dirigent ist Rosbaud bei SWR Classic auf insgesamt sieben CDs dokumentiert. Die Edition umfasst die Symphonien Nr. 1–3 und Nr. 5–8 (die Achte findet sich in zwei Aufnahmen von 1956 und 1961), fünf Ouvertüren (Coriolan, Egmont, Fidelio, König Stephan, Leonore III), sowie an konzertanten Werken das Violinkonzert, das Fünfte Klavierkonzert und das Tripelkonzert (mit durchweg hervorragenden Solisten: Ginette Neveu, Robert Casadesus, und dem wie ein Instrument spielenden Trio di Trieste). Eine umfangreiche Werkliste – und doch ein Fragment. Die Vierte und die Neunte Symphonie vermisst man umso schmerzlicher, da Rosbaud (man möchte sagen: natürlich) alle Beethoven-Symphonien im Repertoire gehabt und diese mitunter auch zyklisch in Konzertreihen präsentiert hat. Auch anhand der weiteren Folgen der Edition wird deutlich, dass leider nur von einem Teil der Werke, die Rosbaud dirigiert hat, Aufnahmen auf uns gekommen sind. Von den oben genannten Symphonikern liegen nur im Falle von Brahms alle Symphonien vor (dafür Nr. 1 und Nr. 3 in zwei Aufnahmen). Bei Bruckner und Mahler bietet sich ein ähnliches Bild wie bei Beethoven: Von Mahler fehlen alle Symphonien mit Chor, von Bruckner die Nr. 1. Letzteres Werk möge kurz zum Anlass dienen darauf hinzuweisen, dass einst mehr Aufnahmen Rosbauds existiert haben müssen. So erwähnt Robert Simpson 1950 in der Zeitschrift Music Survey, dass Einspielungen der Ersten, Zweiten, Vierten, Sechsten und Achten Symphonie Bruckners durch die Münchner Philharmoniker unter Rosbauds Leitung vom Third Programme der BBC ausgestrahlt worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks. Was ist aus ihnen geworden? Wurden sie gelöscht, oder darf man hoffen, dass sie sich erhalten haben? Mindestens von einem Werk Beethovens, das in der SWR-Edition nicht enthalten ist, ist eine Aufführung Rosbauds aus früherer Zeit überliefert: 1940 hatte er mit dem Orchester des Deutschlandsenders die Ouvertüre Die Weihe des Hauses aufgenommen.

Aber schauen wir nicht zu lang auf die Lücken, sondern freuen wir uns an dem, was wir haben, denn dies ist letzten Endes eine beträchtliche Anzahl Aufnahmen, sämtlich dargeboten in überragender Qualität. Die ersten beiden Symphonien hat Rosbaud mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester eingespielt, die übrigen in der SWR-Box präsentierten Werke mit seinem Stammorchester vom Baden-Badener Südwestfunk. Hört man hinein, fällt zunächst die Gediegenheit des Orchesterspiels auf. Mit der ihm eigenen Sorgfalt hat Rosbaud in intensiver Probenarbeit die verschiedenen Klanggruppen aufeinander abgestimmt und an keiner Stelle des musikalischen Verlaufs das klingende Ergebnis dem Zufall überlassen. Überall spürt man die genau modellierende Hand eines Musikers, der das Orchester als ein großes, vielstimmiges Instrument begreift und die Möglichkeiten der Artikulation, die es ihm bietet, ausgiebig nutzt. Beethovens Kontrapunkt findet in ihm einen idealen Darsteller, denn Rosbaud ist im polyphonen Satz hörbar in seinem Element. Nicht nur die fugierten Abschnitte kommen wunderbar zur Geltung, auch im schlichter gestalteten Tonsatz behält der Dirigent Nebenstimmen stets im Blick, weiß, dass eine Begleitung eine wichtige zweite Ebene ist, die im Hintergrund deutlich präsent sein muss. Dadurch werden auch die Feinheiten der Instrumentation Beethovens erlebbar. Rosbaud erzeugt einen tiefen, vielschichtigen Orchesterklang, macht deutlich, wie abwechslungsreich Beethoven seine musikalischen Gedanken instrumental eingekleidet hat.

Man kann Rosbaud wohl einen analytischen Musiker nennen, doch trifft man damit nur eine Seite seines Wesens. Dass seine Durchleuchtung von Beethovenschen Instrumentation und Tonsatz so intensiv wirkt, verdankt sich dem Umstand, dass Rosbaud ein untrügliches Empfinden für melodische Entwicklung und damit für Tonalität und Formung besaß. Die erklingende Musik ist stets im Fluss, nimmt eine bestimmte Entwicklung. Nie verliert der Dirigent den Überblick über den Zusammenhang, in welchem die gerade gespielten Töne stehen, ob sie Spannung aufbauen, oder zu einer Entspannungsepisode gehören. Besondere Aufmerksamkeit wendet er Phrasenenden zu, jenen Stellen, die den Übergang von einer musikalischen Sinneinheit zur nächsten markieren. Weniger achtsamen Dirigenten geht gerade hier oft der rote Faden verloren. Rosbaud, der die Musik in großen Zusammenhängen erfasst, führt das Orchester sicher von einer Phrase zur nächsten, lässt die musikalische Handlung als Folge weitgeschwungener Perioden entstehen. Wie Rosbaud mit den Kräften Haus hält, lässt sich gut anhand des Kopfsatzes der Sinfonia eroica nachvollziehen. So entwickelt er zu Beginn nach den zwei Orchesterschlägen, in denen er die Bläser deutlich hervortreten lässt, die Musik in langem Crescendo auf das Sforzato des zehnten Taktes hin. Dieses lässt er nicht als grobe Betonung des ersten Taktschlags eintreten, sondern als nochmaliges kurzes Aufblühen, wodurch der Hauptakzent der Periode auf eine leichte Taktzeit hinübergezogen und die Metrik zusätzlich belebt wird. Danach herrscht spannungsvolles Piano in den deutlich pochenden Streichern. Die „Echoeffekte“ stehen nicht isoliert, sondern sind als Glieder einer langen Melodie wahrzunehmen. Nach Erreichen des Beinahe-Tutti in Takt 23 (fp) achtet Rosbaud darauf, dass die Akkordbrechungen der zweiten Violinen und Celli nicht zugedeckt werden. Die anschließenden, von Synkopen und Sforzati geprägten Takte erscheinen bei aller Schärfe der Artikulation als eine ausgedehnte, gleichmäßige Klangfläche, in welcher die Spannung festgehalten wird, damit sie beim eigentlichen Höhepunkt in Takt 37 umso wirkungsvoller entladen werden kann. Im letzten Takt dieses Tuttis lässt Rosbaud die Lautstärke ganz leicht abschwellen, um den folgenden leisen Abschnitt nicht zu stark abgehoben erscheinen zu lassen. Der Dirigent hat immer im Blick, was als nächstes folgt. Beeindruckend gelingt ihm die Vermittlung zwischen schroffsten Gegensätzen in der Mitte der Durchführung: Auf dem Höhepunkt des ersten Durchführungsteiles werden die schreienden Dissonanzen unerbittlich durch markiertes Spiel betont, und auch im anschließenden Diminuendo der Streicher wird das Marcato bis zum Phrasenende durchgehalten, wenn die Musik ins Piano übergeht, in welchem dann das e-Moll-Thema einsetzt. Der Neuheit dieses zuvor nicht erklungenen Gedankens Rechnung tragend, entlockt Rosbaud seinen Musikern hier ein so inniges Cantabile, wie man es im ganzen Satz noch nicht gehört hat.

Rosbaud lässt sich im allgemeinen Zeit. Er hat offensichtlich die von Beethoven nachträglich den Werken hinzugefügten Metronomzahlen nicht als verpflichtend empfunden, konnte denjenigen Dirigenten nachfolgender Generationen also kein Vorbild sein, die sich anschickten, diese Vorgaben „historisch informiert“ in die Praxis umzusetzen. Dass die einst herrschenden Zweifel an der Richtigkeit der Beethovenschen Metronomangaben in jüngerer Zeit erneut aufgekommen sind – die These Almudena Martín Castros und Iñaki Úcar Marqués‘, dass Beethoven Mälzels Metronom schlicht falsch abgelesen und deswegen durchweg zu rasche Tempi notiert hat, hat einiges für sich –, sollte zum Anlass genommen werden, von der Idee, es gäbe absolut richtige Tempi, die in jeder Aufführungssituation unbedingt zu beachten wären, Abstand zu nehmen, und die Tempowahl eines Dirigenten danach zu beurteilen, in wie fern damit der Dramaturgie des aufgeführten Werkes Rechnung getragen wird. Dass Rosbaud gemessene Tempi kein Selbstzweck sind, zeigt sich anhand der Einleitung zur Siebten Symphonie, die er, verglichen mit den Eröffnungen der Ersten und Zweiten, ziemlich zügig dirigiert, und im zweiten Satz dieses Werkes, der ein echtes Allegretto ist. Seine Zeitmaße erscheinen im Hinblick darauf gewählt, wichtige Details zur Geltung zu bringen und den Zusammenhalt aller Abschnitte des jeweiligen Satzes zu gewährleisten. Darum sind sie „richtig“. Das relativ breite Grundtempo des Finales der Fünften Symphonie beispielsweise (10 Minuten ohne Wiederholung) bewährt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird es dem hymnischen Charakter der Hauptthemen gerecht, zum andern ermöglicht es, die Geschwindigkeit in der Coda zum Presto zu beschleunigen, ohne dass es dabei übereilt zugeht. Die letzten Takte der Symphonie, in denen vielen Dirigenten im wahrsten Sinne des Wortes der Atem ausgeht, erfüllt Rosbaud bis zum Schluss mit Spannung. Überhaupt fasst er rasche, laute Werkschlüsse nie als Anhängsel auf, in denen sich die Musiker tumultuarisch gehen lassen dürfen. Immer weiß er seinen Orchestern gegen Ende noch ungeahnte Kräfte zu entlocken, die deutlich machen, dass er seine Aufführung gezielt auf diese Momente hin angelegt hat: Man höre etwa, wie prachtvoll sich die Schlüsse der Zweiten Symphonie, der Leonoren- und der Egmont-Ouvertüre entfalten, wie erhaben Beethoven hier klingt!

Rosbaud wird oft als ein „sachlicher“ Dirigent bezeichnet. Wenn man darunter einen bloßen Notenwiedergeber versteht, der sich nicht um das schert, was im Notentext nicht steht, so wäre das eine Fehleinschätzung. Berechtigt erscheint das Wort, wollen wir darunter einen Musiker verstehen, der der Sache, also dem Werk, auf den Grund geht, um dessen Eigenarten zur Geltung zu bringen, der – um Rosbauds eigene Worte zu benutzen – die Partitur „vollkommen serviert“. Was aber lässt sich unter einer solchen Vollkommenheit anderes denken, denn eine meisterhafte Komposition als einen „runden Charakter“ erfahrbar zu machen? An Rosbauds Beethoven-Einspielungen fasziniert letztlich vor allem, dass der Dirigent tatsächlich die Vielseitigkeit dieser Musik zu erfassen sucht und sie nicht durch einseitige Interpretation einebnet. Das zeigt sich namentlich an der immer wieder begegnenden Mischung „harter“ und „weicher“ Artikulation, die komplexe Szenarien schafft, etwa wenn im Allegretto der Siebten Symphonie der gleichförmige Grundrhythmus des Satzes hart und markant, die darüber erklingende Melodie aber ausgesprochen gesanglich gespielt wird, oder im Fugato des Trauermarsches der Eroica das Gegeneinander von Staccato und Legato deutlich hörbar ist. Im Trio der Achten Symphonie – nach einem in seiner Mischung aus Derbheit und Grazie wunderbar getroffenen Menuett – entlockt der oft als nüchtern verschrieene Dirigent den Hörnern und Klarinetten Töne wärmster Waldesromantik, zu kernigen Triolen der Celli. Wie hoch steht diese Kunst über dem handwerklich präzisen, aber geistlosen Töneaufsagen der Gielen und Boulez (die Rosbaud auch als Schönberg-Dirigent weit überragt) einerseits und dem oberstimmen-, meist violinbetonten, mit verschwommener Begleitung unterfütterten Weichspülstil eines Karajan anderseits!

Man kann SWR Classic gar nicht genug danken für die Veröffentlichung dieser Beethoven-Aufnahmen. Sie dokumentieren das von ebenso großer Sorgfalt wie Einfühlsamkeit geprägte Musizieren eines außerordentlichen Dirigenten, der im besten Sinne ein Sachwalter der von ihm aufgeführten Werke gewesen ist. „Beethoven was a complete artist“ – wer ihn als solchen kennen lernen möchte, dem seien die Rosbaud-Aufnahmen wärmstens ans Herz gelegt.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Herbert Blomstedts wahre Glücksmomente

Am Donnerstag, 9. 11. 2021, und am Freitag, 10. 12. 2021, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Herbert Blomstedt Beethovens Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 Eroica, sowie das in Deutschland fast nie zu hörende 2. Klavierkonzert d-Moll op. 23 des schwedischen Spätromantikers Wilhelm Stenhammar. Solist war Martin Sturfält, der das Werk schon mehrfach mit Blomstedt aufgeführt hat. Unser Rezensent besuchte das Konzert am Donnerstag.

Photo © Astrid Ackermann

Derzeit herrschen bei größeren Kulturveranstaltungen in München harte Bedingungen: Wegen der hohen Corona-Inzidenz dürfen etwa die Konzertsäle nur zu 25% ausgelastet werden. Das Publikum muss geimpft oder genesen und zusätzlich getestet sein (2G+). Für private Veranstalter rechnet sich sowas eigentlich gar nicht mehr, so dass es momentan viele Konzertabsagen gibt. Der Herkulessaal mit nur 300 gleichmäßig verteilten Gästen ist denn auch ein eher trauriger Anblick. Den Zuhörern am Donnerstag bot sich allerdings ein Ohrenschmaus allererster Güte: Wenn der mittlerweile 94-jährige Herbert Blomstedt das Podium betritt, ist Hochspannung garantiert, und es wäre um jedes ausgefallene Konzert mit ihm mehr als schade. Nicht nur seine offensichtliche, geistige Frische ist fast schon ein Kuriosum. Auch körperlich ist die Präsenz des Dirigenten unglaublich: Nach wie vor im Stehen und seit etlichen Jahren ohne Taktstock formt Blomstedt – in seinen Bewegungen zwar ökonomisch, aber völlig locker und präzise – jede Phrase, kontrolliert insbesondere die Entwicklung der Dynamik vorausschauend, dabei bis ins Detail. Die noch immer runden und suggestiven Bewegungen seines rechten Armes führen gerade Crescendos, seien sie kurz und heftig oder eher ausladend, in einer Klarheit, die selbst für einen erfahrenen Klangkörper unmissverständlich und hilfreich bleibt. Mit Augen und Ohren hellwach, reagiert er blitzschnell und wendet sich sofort an die entsprechenden Musiker, wenn sein Eingreifen nötig scheint. Von der Probenarbeit hört man nur höchstes Lob; und das musikalische Ergebnis ist wieder überragend.

Seit einigen Jahren setzt sich der schwedische Maestro für das Werk seines Landsmannes Wilhelm Stenhammar (1871–1927) ein, des wohl bedeutendsten Spätromantikers dort, dessen Wurzeln sowohl bei Brahms, mehr noch in der Liszt-Nachfolge und bei Wagner zu verorten sind. Selbst ein exzellenter Pianist mit großer „Pranke“, machte der vor allem als Dirigent das Orchester in Göteborg zum führenden schwedischen Klangkörper. Unter seinen wenigen Orchesterwerken ragt das 2. Klavierkonzert (1904–1907) besonders heraus. Knapp halbstündig, vereint es in einem durchgehenden Satz die symphonische Viersätzigkeit, jedoch in mehrfacher Hinsicht verschränkt und ungewöhnlich – anstatt eines Trios hören wir z. B. im Scherzo Vorgriffe auf das Adagio. Wie in Busonis Konzert von 1904, sind die Rollen von Solist und Orchester bereits merklich anders verteilt als im üblichen Virtuosenkonzert des 19. Jahrhunderts. Das Orchester ist nicht Begleiter des Solisten, sondern – zumindest im Anfangsabschnitt – erklärtermaßen der Feind. Gibt sich das Klavier hier – trotz hochvirtuosen und vollgriffigen Satzes – weitgehend lyrisch, so bleibt das rhythmisch markante, abstürzende Kopfmotiv mit Oktavsprung und scharfkantigen, kleinen Sekunden ausschließlich dem Orchester vorbehalten, das damit dauernd dazwischenfährt. Damit nicht genug: Der Solist spielt in d-Moll und der Paralleltonart, das Orchester versucht ihn immer wieder, ins einen Halbton tiefere cis-Moll hinabzuziehen; zuletzt muss sich der Pianist zweimal hintereinander gewaltsam aus diesem quasi Schwitzkasten befreien. Bedenkt man, dass die Uraufführung von einer Frau gestaltet wurde, geradezu eine MeToo-Geschichte. Das Scherzo wirkt dann auch eher wie eine Flucht, klanglich an Saint-Saëns erinnernd. Ziemlich beste Freunde wird man erst im Finale – D-Dur mit imperialer Geste.

Martin Sturfält, der sich bestens mit Stenhammars Musik auskennt und auf CD die Konzerte Adolf Wiklunds eingespielt hat, gestaltet dieses echte Drama enorm wirkungsvoll. Ihm gelingen feinstes Passagenwerk ebenso wie massivste Akkordkaskaden, kraftvoll, aber ohne je grob zu werden. Der spannende mehr Kampf als Dialog macht allen Beteiligten Spaß, das Aufbäumen, Abwehren und dann wieder verträumtes Abdriften in teils folkloristisch anmutende Lyrismen bringt Sturfält mit Überzeugung und Empathie für diese unterschätzte Musik herüber – bis zum grandiosen Schluss. Blomstedt sorgt dabei für die perfekte Balance. Das Publikum ist zu Recht völlig hingerissen von dieser „Entdeckung“: ein in München längst mal wieder überfälliges, unbedingtes Plädoyer für die skandinavische Musik.

Dass Blomstedt die Klassiker (Beethoven, Mozart, Brahms, Bruckner) meisterhaft beherrscht, ist seit Jahrzehnten bekannt und bei Beethoven durch zwei Gesamtaufnahmen – mit der Staatskapelle Dresden und jüngst dem Leipziger Gewandhausorchester – hinreichend dokumentiert. Umso faszinierender, dass der Dirigent im Konzert keineswegs in Routine verfällt, sondern bei allem Überblick und Wissen die Musik jedes Mal mit absoluter Hingabe neugestaltet. Eines seiner Geheimnisse für die Eroica scheint dabei die Einheit des Tempos zu sein: Im Gegensatz zu anderen Kollegen jenseits der Achtzig, die in aller Regel im Alter merklich langsamer werden, wählt Blomstedt nun häufig sogar schnellere Tempi als früher. Bei der Dritten hält er sich im Kopfsatz an die gedruckte Metronomangabe von 60 für den ganzen Dreivierteltakt. Das ist verdammt flott. Heute scheint ihn dieser Pulsschlag durch die ganze Symphonie zu tragen. Noch eine Spur schneller nimmt er den berühmten Trauermarsch – meilenweit von dem fetten Pathos entfernt, das noch vor 40 Jahren üblich schien. Die 60 bleiben dann für das Scherzo – hier für jeweils zwei Takte – und ebenso das Grundtempo (Halbe!) des Finales maßgebend. Michael Gielen hat dieses Prinzip schon lange versucht umzusetzen; nicht selten kam jedoch das Sezieren einer Leiche dabei heraus.

Bei Blomstedt bleibt Beethovens Musik bei aller Durchsichtigkeit quicklebendig, denn trotz der unglaublichen Sogwirkung allein des Tempos gönnt der Maestro ihr punktgenau zarte, nie aufgesetzte Agogik, verhindert so stets ein Abdriften ins Mechanische. Selten hat man eine derart eindringliche Durchführung des Kopfsatzes mit einem höchst leidenschaftlichen dritten Thema gehört, so mit dem vermeintlichen Helden des zweiten Satzes mitgelitten – bis zum Zerfall des Themas am Schluss. Phänomenal der unerbittliche, drängende Aufbau des Fugatos, das hier die letztlich tödliche Katharsis einleitet; dasselbe gilt für das kleine Fugato im Finale. Und nicht nur die drei Hörner des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks liefern im Trio des Scherzos ein wahres Kabinettstückchen ab – alle Solisten haben heute einen wirklich guten Tag. Nur so erscheint schließlich die lange, orgiastische Schlusssteigerung angemessen, gar absolut notwendig. Danach sind alle glücklich: die Musiker, der Maestro und das Publikum, das standing ovations gibt, die wohl nur aus Rücksicht auf den Dirigenten, der nach jeder Applauswelle, ganz Gentleman, vom Podium abgeht und erneut auftritt, dann irgendwann einmal enden – ein in jeder Hinsicht denkwürdiger Abend.

[Martin Blaumeiser, 10. Dezember 2020]

Boris Giltburg und Beethovens Klaviersonaten

Naxos, 9.70310; EAN: 7 30099 73101 0

Die vierte CD von Boris Giltburgs unlängst entstandener Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten bei Naxos enthält mit den Sonaten Nr. 12 bis 15, der „Trauermarsch“-Sonate, den beiden Sonaten „Quasi una fantasia“ sowie der „Pastorale“ also, einige Marksteine von Beethovens Sonatenkosmos.

Anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag hat der Pianist Boris Giltburg im Jahre 2020 alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Video aufgenommen; nur unwesentlich später sind die Tonspuren dieser Aufnahmen bei Naxos auch auf CD veröffentlicht worden. Dabei ist jeder Satz ein einziges Take, kommt also ohne Schnitte aus. Die Mehrzahl der Sonaten hat Giltburg für dieses Projekt neu einstudiert, vorher waren offenbar nur neun von ihnen fester Bestandteil seines Repertoires. Die vierte CD aus dieser Reihe zeigt ihn als einen kompetenten Interpreten von Beethovens Sonaten, der in der Totale empfehlenswerte Lesarten dieser Werke liefert.

Den einleitenden Variationssatz der Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 interpretiert Giltburg ruhig und mit Wärme und bringt die noble Lyrizität des Themas angemessen zur Geltung. Leider kommt allerdings in der vierten Variation der Kontrast zwischen Legato in der rechten und Staccato in der linken Hand zu kurz, da Giltburg auch in der rechten Hand am Ende der Legatobögen tendenziell staccatiert. Ausnehmend gut gefällt mir sein Scherzo, das er rasch und mit Sinn für die dynamischen Kontraste spielt und dabei die Steigerung bis hin zum energischen Schluss des Scherzoteils exzellent abbildet. Problematischer erscheint der Trauermarsch: Giltburg scheut hier das Zeremonielle; vom ersten Takt an ist klar, dass er diesen Satz vorrangig introvertiert, ja fast schon versonnen versteht, was zusammen mit einem eher langsamen Grundtempo die Musik manchmal etwas auf der Stelle treten lässt. Diese Beobachtungen unterstreicht auch der Trioteil, dessen „Gewehrsalven“ Giltburg recht vorsichtig begegnet. Das Finale wiederum knüpft wieder stärker an den zweiten Satz an, sicher etwas zurückgenommener, wie es eben in der Natur dieses Satzes liegt, aber eben doch im Grundsatz gelöst; ein stimmiger Abschluss dieser Einspielung.

Insgesamt sehr gut gelungen wirkt Giltburgs Lesart der Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur op. 27 Nr. 1, der ersten beiden der „Quasi una fantasia“-Sonaten. Die spezielle Stimmungslage des einleitenden Andante irgendwo zwischen einer von vagen Andeutungen erfüllten Traumwelt von fast kindlicher Schlichtheit und plötzlichem Allegro-Aufschwung, der aber nichtsdestotrotz ebenfalls eher präludierend wirkt, fängt Giltburg gut ein; das Mysterium und die klangfarbliche Differenzierung etwa aus Daniel Barenboims jüngsten Zyklus findet man hier zwar nicht, doch die Charakteristik dieses Satzes bildet Giltburgs Interpretation schlüssig ab. Sehr gut auch der zweite Satz, dessen Dreiklangsbrechungen Giltburg zunächst fahl dahinhuschend, dann eruptiv realisiert und zu einer eindrucksvollen Kulmination am Schluss führt. Auch die übermütige Vitalität und Spielfreude des Finales fängt Giltburg überzeugend ein, der b-moll-Höhepunkt (in etwa ab Takt 118) könnte allerdings etwas machtvoller geraten.

Die Klaviersonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2, die „Mondschein-Sonate“ also, versteht Giltburg eher nüchtern, objektiv, nahezu klassizistisch. Dies zeigt bereits ihr erster Satz, den Giltburg mit knapp fünfeinhalb Minuten eher flüssig nimmt. Geheimnisvolles, ahnungsvolle Stille wird man in dieser Interpretation indes eher nicht finden. Stimmig(er) erscheint diese Lesart im intermezzohaften zweiten Satz, obwohl hier etwa in den Takten 9 bis 16 ein ganz ähnliches Problem auftritt wie bereits im Kopfsatz der Sonate Nr. 12 beschrieben, denn auch hier nivelliert Giltburg in gleicher Weise den Unterschied zwischen Legato rechts und Staccato links. Dies ist umso irritierender, da er die entsprechenden Staccati (wiederum rechts) ab Takt 27 zum Teil überspielt. Am problematischsten erscheint mir Giltburgs distanzierter Ansatz jedoch im Finale. Exemplarisch für seine Lesart etwa, dass er das Sforzato-Gis in Takt 14 (wie auch seine Entsprechung in der Reprise) eigentlich sogar eher abschwächt als hervorhebt. Auch zum Beispiel den Zweiunddreißigstelarpeggien kurz vor Schluss geht der Charakter einer Kulmination weitgehend ab. So kommt Giltburgs Mondschein-Sonate in toto ziemlich gemäßigt daher; die Extreme, die dieses Werk kennzeichnen, das Drama, das der Schlusssatz sein kann, sind in dieser Aufnahme höchstens zu erahnen. Für mich damit die am wenigsten überzeugende Interpretation auf dieser CD.

Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 15 D-Dur op. 28, der „Pastorale“, fällt auf, dass Giltburg bei einem tendenziell zügigen Grundtempo relativen großzügigen Gebrauch von Rubato macht. Auf diese Weise hebt er zum Beispiel das vorsichtige Tasten im Pianissimo ab Takt 63 mit an Pizzicati gemahnenden Staccato-Vierteln in der linken Hand sehr schön hervor, aber auch das langsame „Entstehen“ des zweiten Themas wie im Fluss kommt gut zur Geltung. Die Grundhaltung ist lyrisch, aber Giltburg behält sich immer wieder punktuelle Steigerungen vor; das Crescendo kurz vor dem Ende (ab Takt 446) kostet er deutlich aus. Fließend gestaltet er auch große Teile des zweiten Satzes. Ähnlich wie bereits zuvor bemerkt ist allerdings die Artikulation nicht immer konsequent; von einem sempre staccato in der linken Hand wie von Beethoven zu Beginn gefordert kann nicht immer die Rede sein, und beim Dreitonsignal, das den D-Dur-Teil durchzieht, verzichtet Giltburg offenbar bewusst sogar auf jegliches Staccato und interpretiert dieses Motiv fast burschikos. Stringenter gestaltet ist das Scherzo, im Trio hätte Giltburg allerdings die wechselnde Begleitung in der linken Hand etwas stärker in den Vordergrund stellen können. Gut gelungen auch das von Giltburg insgesamt entspannt und mit Sinn für Bukolik interpretierte Finale. Ähnlich wie in der Mondschein-Sonate nimmt Giltburg auch hier einige Sforzati eher zurückhaltend, was in diesem Kontext aber weniger problematisch erscheint.

Natürlich ist die Anzahl der Aufnahmen von Beethovens Klaviersonaten enorm, und entsprechend könnte die Konkurrenz zu Giltburgs Aufnahmen größer kaum sein. Anhand der vorliegenden CD würde ich seine Einspielungen nicht in der Spitze verorten. Wohl aber erhält man gute bis sehr gute, hörens- und bei aller Detailkritik insgesamt empfehlenswerte Aufnahmen dieser Werke, deren Stärken weniger im Abgründigen als eher im Lebhaften, Agilen, Diesseitigen liegen. Der Klang ist ordentlich, aber nicht überragend, da eher gedeckt als räumlich-durchhörbar.

[Holger Sambale, September 2021]

„Ich übe, gebe mein Bestes und bete um Klarheit.“

Der saarländische Pianist Marlo Thinnes hat vor allem mit seiner gemeinsam mit Ingolf Turban eingespielten Gesamtaufnahme aller Violinsonaten Beethovens im Frühjahr 2021 viel Aufsehen in der Presse erregt. Das CD-Box-Set war auch für den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ nominiert. Thinnes ist aber auch als Solokünstler aktiv und legt nunmehr sein bereits zweites Album als Solist vor. Dabei überrascht manches – von der Werkauswahl bis hin zur Repertoiregewichtung. So ergaben sich die Fragen an den Pianisten fast von selbst. Marlo Thinnes gibt im Gespräch mit the-new-listener.de interessante Einblicke in den Entstehungsprozess seines neuen Albums mit Werken von Beethoven, Liszt, Fauré, Ravel und Viñes.

Herr Thinnes, Sie haben im Frühjahr eine viel beachtete Gesamtaufnahme der Beethoven-Violinsonaten mit dem Münchner Geiger Ingolf Turban aufgenommen. Wie kam es dazu?

Unser gemeinsamer Produzent Joachim Krist brachte uns im Frühjahr 2018 zusammen. Ihn reizte dieses Projekt schon seit Jahren. Er wollte die Sonaten zyklisch mit Musikern seiner Wahl für das Label „telos“ im Portfolio haben. Ich bin glücklich, dass ich einer der beiden Musiker sein durfte, die dieses Prestige-Projekt stemmen durften.

Wie hat sich die Zusammenarbeit mit Ingolf Turban gestaltet? Er ist ja als Alben aufnehmender Musiker schon sehr lange im Geschäft, während Sie vor der Zusammenarbeit mit ihm gerade erst ein Debütalbum herausgebracht hatten?

Das ist richtig. Bis auf verschiedene Rundfunk- und Videoproduktionen war bis zum damaligen Zeitpunkt nur ein offizielles Album von mir auf dem Markt: „Ombre et Lumiére“, übrigens auch bei telos music erschienen.

Die Zusammenarbeit mit Ingolf war spannend, professionell und vor allem menschlich sehr angenehm. Die Proben in München, bei denen auch unser Produzent manchmal zugegen und dann fordernd und formend beteiligt war, brachten vielversprechende Ergebnisse. Bald fanden wir zu einer gemeinsamen Sprache, die Beethovens Duktus auf ideale Weise zum „Sprechen“ zu bringen schien.

Auf Ihrem neuen Album geht es nun mit Beethoven weiter, was aber überrascht, ist, dass Sie sich dabei für eine Beethoven-Bearbeitung entschieden haben. Wie kam es zu der Idee, eine der Sinfonie-Transkriptionen aufzunehmen, die Franz Liszt für Klavier gesetzt hat?

Mit diesen Transkriptionen kam ich bereits vor 10 Jahren in Kontakt, als ich eingeladen wurde, im Rahmen eines Festivals – quasi als Auftragsprogramm – die Zweite und Sechste der neun Sinfonien in der Bearbeitung für Klavier Solo aufzuführen. Die restlichen wurden damals unter drei weiteren Pianisten aufgeteilt. Das war ein Abenteuer und eine Entdeckungsreise, die bleibende Eindrücke hinterließen.

Spätestens seit dieser Zeit war ich dem Beethoven-Bazillus verfallen. Und so war es ganz selbstverständlich, dass seine Musik in den letzten Jahren zunehmend in meinen künstlerischen Fokus rückte: Ein Marathon mit allen Klaviersonaten, den ich mir mit einem Pianistenfreund teilte (jeder übernahm 16 Sonaten), die eben bereits erwähnte Aufführung und Gesamteinspielung der Violinsonaten mit Turban, Lecture-Recitals mit der Hammerklaviersonate usw. zeigen in diese Richtung. 

Da ich also durch diese wunderbaren Sinfonie-Transkriptionen die Chance hatte, auch interpretierend als Pianist am sinfonischen Schaffen Beethovens teilhaben zu können, das ich seit jeher verehre, war doch jetzt die Zeit, genau das zu tun.

Man könnte sagen, das Album ist vom Programm her zweigeteilt: Ein „Hauptwerk“, das einen Großteil der Spielzeit für sich verbucht, und mehrere (vom Umfang her) kleinere Werke. Bei so einer Konstellation passiert es leicht, dass Hörer die von der Spielzeit her kürzeren Werke als „nebensächlich“ einstufen, oder?

Das glaube ich nicht. Ich würde die Platte eher als ein zweiteiliges Konzertprogramm betrachten. Nach der großen Aufmerksamkeit, die die Beethoven-Transkription fordert, braucht’s danach einen Ausgleich, einen anderen musikalischen Duktus, andere Farben, leichtere  Bedeutungsschwere; besonders, wenn man die Platte ganzheitlich – sozusagen in einem Guss – hört.

Das war natürlich etwas überspitzt formuliert, denn es würde wohl niemand auf die Idee kommen, beispielsweise Ravels „Jeux d’eau“ als Bagatelle einzustufen. Aber liegt in Ihrer Programmkonstellation nicht die Gefahr eines Ungleichgewichts? Oder anders formuliert: „Wiegen“ Liszt, Ravel, Fauré und Viñes zusammen so schwer wie Beethoven?

Zusammen allemal. Aber ich glaube nicht, dass man sich diese Frage überhaupt stellen sollte. „Wie ein Konzertprogramm“ so titelte vor kurzem ein Fachmagazin über diese Einspielung. Genau das ist es. Abwechslungsreich, bunt und spannend – durchaus mit Gedankenzusammenhang, wenn man das Booklet erklärend zur Hand nimmt. Dieses Programm auf die Bühne gebracht, wird auch ganz unterschiedlichen Ansprüchen gerecht werden. Mir jedenfalls hat es persönlich viel Spaß gemacht, auch mal wieder außerhalb von „Integralem“ zu wandeln…

Bei Ihrer Interpretation geben Sie für alle Werke alles, das hört man dieser Aufnahme auf jeden Fall an. Wie bereiten Sie sich auf eine Klavieraufnahme vor?

Ich übe, versuche immer mein Bestes zu geben und bete um Klarheit – nicht nur in der Musik.

Spielen Sie auch bei einer CD-Aufnahme aus dem Gedächtnis? Ich kenne Pianisten, die spielen live aus dem Gedächtnis, bevorzugen bei einer Aufnahme aber, die Noten vor Augen zu haben.

Die Noten bei einer Aufnahme vor Augen zu haben, ist immer gut, obwohl ich live eigentlich aus dem Gedächtnis spiele. Bei einer Aufnahme – besonders wenn man einen kompetenten und fordernden Producer hat, der sehr kritisch ist, auch spannender Austausch über Interpretationen im Tonraum beim Abhören herrscht – ist die Partitur dein bester Freund in Aufnahmesessions.

Mögen Sie die Situation einer CD-Aufnahme? Manche Künstler fühlen sich „im Studio“ ja sehr wohl, andere betrachten eine Aufnahme eher als eine Art lästige Pflichtübung, um ein Album am Markt zu haben.

Wenn man gut vorbereitet ist, dann kann es trotz der nicht immer stressfreien Situation Freude machen, kann aber auch sehr zermürbend sein. Nirgendwo lernt man als Musiker mehr über sich und seine Interpretationen als im Studio und bei der Nachbereitung. Jedes Geräusch – sei es ein Quietschen des Stuhls, ein zu lautes Atmen, Mitbrummen – jede Note, jede Unachtsamkeit klingt überdeutlich, und das macht es manchmal schwer, sich freizuspielen. Glücklicherweise hatte ich bis jetzt immer ein wunderbares Aufnahmeteam, das es mir ermöglichte, schöne Interpretationen zu liefern und einzufangen.

Sie sind einer der wenigen klassischen Pianisten, die sich auch im Jazz-Sektor tummeln: Zusammen mit Ihrer Frau sind Sie Teil der Gruppe Venerem Early Art Music. Dabei entsteht eine Melange aus Musik der Renaissance und des Barock mit Jazz. Wie kam es dazu?

Meine Frau wusste um meine Vergangenheit. Vor über 25 Jahren bestand das Musizieren für mich vor allem aus Improvisieren, Arrangieren, gelegentlichem harmlosem Komponieren, vor allem für das Akkordeonorchester meines Vaters, das ich inklusive der Musikschule damals übernahm. Auch hatte ich Mitte der Neunziger eine Band formiert, die ausschließlich Eigenes zu Tage förderte, komponierte in meinem Studium Kadenzen, entwarf Transkriptionen für Klavier Solo. Das hat immer Freude gemacht, doch habe ich diese affairs de coeur  aufgegeben, da Anfang des neuen Jahrtausends die Ausbildung zum professionellen Pianisten aufzehrend und fast rücksichtslos in den Lebensmittelpunkt rückte.

Meine Frau bohrte ziemlich lange, bis ich Anfang 2019 endlich soweit war, mich darauf wieder einzulassen – nun in besonderer Besetzung und mit dem Ziel, Alte Musik neu zu erfinden.

Warum Alte Musik? Meine Frau, die Sopranistin Laureen Stoulig-Thinnes, ist Barocksängerin und spezialisiert auf diesem Gebiet. Warum besondere Besetzung? Einen guten Freund aus alter Zeit, der professioneller Bassist ist, wollte ich unbedingt dabei haben. Die Kunst beim Arrangieren bestand nun für mich darin, elektronischen Bass, Klavier, Gesang und Percussion so zusammenzubringen, dass in dieser kleinen Besetzung ein interessantes, polyphones und volles Klangbild, sozusagen ein individueller Sound mit eigenem Gesicht, entsteht. Das ist gelungen. Das Debütalbum von „Venerem early art music“ ist seit einigen Monaten am Start, wird in der Fachpresse sehr gut besprochen und die Formation wartet auf wieder offene Bühnen. 

Obwohl das Klavier ein typisches „Jazz-Instrument“ ist, scheint es mehr klassische Geiger zu geben, die ihre Nase in den Jazz gesteckt haben als Pianisten. Gibt es eigentlich einen Grund dafür, warum so wenige klassisch ausgebildete Pianisten gibt, die sich mal im Jazzgenre versuchen?

Vielleicht ist der Wunsch und der Mut zum Risiko sich mit Eigenem in einem anderen musikalischen Umfeld zu betätigen – und auch hier ein adäquates Niveau zu halten und damit zu überzeugen – bei vielen nicht da.

Bei mir brauchte es ja auch die Inspiration (m)einer Muse.

[Das Interview führte René Brinkmann]

Mit makelloser Technik im Dienst am Ganzen

SWR Classic, SWR19097CD; EAN: 7 47313 90978

SWR Classic hat in den letzten Jahren eine stattliche Reihe von CDs veröffentlicht, auf denen die Zusammenarbeit Friedrich Guldas mit dem Südwestrundfunk während der 50er-, 60er- und 70er-Jahre dokumentiert ist. Daran knüpft die vorliegende Doppel-CD an, auf welcher Gulda mit Frédéric Chopins Préludes op. 28 und zwei Variationswerken Ludwig van Beethovens, den chaconneartigen Variationen c-Moll WoO 80 und den Diabelli-Variationen op. 120, zu hören ist. Die Aufnahmen entstanden 1953 und 1968.

Dass Friedrich Guldas Ruf sich in späteren Jahren vor allem auf seine Bach-, Mozart- und Beethoven-Aufführungen, sowie sein Wirken als Jazzmusiker gründete, sollte nicht den Ruhm vergessen machen, den er zu Beginn seiner Pianistenlaufbahn als Chopin-Spieler genoss. Chopins Balladen, Sonaten und Préludes bildeten zunächst gar einen der Grundpfeiler seines Repertoires. Die 24 Préludes op. 28 spielte er 1947 als 17-Jähriger zum ersten Mal öffentlich und setzte sie in den folgenden Jahren regelmäßig auf seine Programme. Für den SWR nahm er den Zyklus am 11. April 1953, kurz vor seinem 23. Geburtstag, auf. Die lange Lagerungszeit der Bänder mag die klangliche Qualität der Einspielung etwas beeinträchtigt haben, aber die überwältigende Frische, die einem aus den Tönen hier entgegenschlägt, lässt diesen kleinen Makel als vollkommen vernachlässigenswert erscheinen.

Für Gulda war Chopin ein „männlicher, ritterlicher“ Komponist. Er empfand keinerlei Bedürfnis, die Werke des Meisters mit jener Patina aus willkürlichen Temposchwankungen und verschwommener Rhythmik zu überziehen, mit welcher weniger einsichtsvolle Pianisten dem romantischen Geist dieser Musik Rechnung zu tragen streben. Stattdessen zeigte er, dass die Größe Chopins – des Romantikers, der das Vokabular der Virtuosen- und Salonmusik seiner Zeit vollkommen transzendiert und dadurch fähig gemacht hat, Träger wahrer Leidenschaft und tragischer Handlungen zu sein – namentlich dann zur Geltung kommt, wenn man die Konturen dieser Musik durch Disziplin im Rhythmischen und stringente Tempi schärft. Gulda versucht nicht, Chopin einen „Ausdruck“ aufzuzwingen. Ihre Ausdruckskraft erhalten die Préludes dadurch, dass er Chopins Meisterschaft im Formen, seine Fähigkeit, durch kleinste Veränderungen den Verlauf der Musik voranzubringen, verdeutlicht – eben jene Eigenschaft, die Chopin mit Johann Sebastian Bach gemeinsam hat. Durch subtile Rubati, unaufdringliche Beschleunigungen und Verlangsamungen, die stets im Einklang mit den harmonischen Ereignissen geschehen, macht Gulda die Entfaltung der Chopinschen Melodiebögen immer wieder zu einem Erlebnis. Ebenso kommt unter seinen Händen die Vielschichtigkeit des Tonsatzes zur Geltung. Sehr deutlich pflegt er Melodien hervorzuheben, die sich in raschen Figurationen verstecken. Die makellose Technik, mit der der Pianist dies alles leistet, wird dabei im Grunde zur Nebensache: Sie geht vollkommen im Dienst am Werk auf.

Die gleichen Vorzüge lassen sich für die 15 Jahre später, am 6. November 1968 aufgezeichneten Variationszyklen Beethoven anführen. Die 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll WoO 80 – eigentlich müsste man sagen: Beethovens Chaconne – spielt Gulda mit einem Brio, das vom ersten bis zum letzten Takt fesselt. Mit nicht einmal achteinhalb Minuten ist seine Einspielung eine der schnellsten, die es von diesem Stück gibt. Bei aller Ausrichtung auf Vorwärtsdrang wirkt sie dennoch nicht übereilt, da Gulda es trotz sehr hohem Tempo schafft, die dynamischen und artikulatorischen Kontraste, die Beethoven nicht nur zwischen den einzelnen Variationen, sondern auch häufig innerhalb derselben auskomponiert hat, herauszuarbeiten.

Auch in Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 gehört Gulda zu den schnellen Pianisten. Das ganze Werk, mit allen vorgeschriebenen Wiederholungen, bringt er in 46 Minuten zu Ende. Gulda fasst den Zyklus, wie die ganz anders gearteten c-Moll-Variationen, offensichtlich als ein zusammenhängendes Ganzes auf, nicht als Suite von knapp drei Dutzend Charakterstücken. Seine rhythmische Präzision, sein wacher Sinn für melodische Entwicklungen und seine Sicherheit in der Darstellung des kontrapunktischen Zusammenwirkens der einzelnen Stimmen erweisen sich hier als nicht minder vorteilhaft als im Falle der anderen Werke. Auch die dynamischen Kontraste kommen trefflich zur Geltung. Die ausgedehnte Largo-Variation (Nr. XXXI) spielt Gulda so zart, dass man beinahe meinen könnte, er hätte ein Clavichord unter den Fingern. Die anschließende Fuge klingt sehr straff, das Hauptthema wird bei jedem Erscheinen markant herausgehoben. Graziös, aber mit allem Gewicht, das dem Finale eines solch umfangreichen und vielgestaltigem Werkes zukommt, trägt Gulda die abschließende Menuett-Variation vor.

Für die Veröffentlichung dieser Aufnahmen, die Friedrich Gulda als vorzüglichen Vermittler der Werke Chopins und Beethovens zeigen, kann man SWR Classic nur dankbar sein.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Ein Glaubensbekenntnis an die Musik

Zum Neustart der Klassikreihe im Bürgerhaus Eching spielen der Violinist Denis Goldfeld und die Pianistin Sofja Gülbadamova am 3. Juli 2021 ein hoffnungsvolles Programm fast ausschließlich in Dur. Sie eröffneten den Abend mit Schuberts Violinsonate D-Dur D 384, worauf Beethovens 8. Violinsonate in G-Dur op. 30/3 folgte. Nach der Pause fügten die Musiker ein modernes Werk, welches nicht auf dem Programm stand: Ein Andante Tragico der Komponistin Lera Auerbach, das für die Künstler ein Sinnbild der durchlittenen Coronapandemie darstellt. Als Hauptwerk des Abends spielten Goldfeld und Gülbadamova die Erste Violinsonate op. 78 von Johannes Brahms, rundeten mit dessen Scherzo aus der F.A.E.-Sonate ab.

Welch ein seltsamer Augenblick für uns Zuhörer, auf einmal wieder im Konzertsaal zu sitzen – und wie viel seltsamer noch für die auftretenden Musiker, die nun teils über ein Jahr nicht mehr vor Publikum standen. Das Erlebnis war somit in jeder Hinsicht ein Besonderes. Und dies wurde bei Künstlern wie Zuhörern spürbar: Als die Musik anhob, so waren wir wie in einer Parallelwelt, gebannt von den Klängen. Es fühlte sich zugleich vertraut an und dann fast neuartig. Denis Goldfeld und Sofja Gülbadamova rangen im positivsten Sinne um die aufsteigenden Emotionen, die gerade bei Komponisten wie Schubert und Brahms doppelbödiger kaum sein könnten. Doch gewannen sie den Kampf insofern, als dass sie sich nicht überrumpeln ließen von der geballten Macht der ertönenden Großformen, sondern es schafften, diese zu kanalisieren und dem Publikum zu vermitteln, ja zu verkünden. Denis Goldfeld schwelgte sichtbar auf den Tönen, kontrollierte sie empfindsam im Entstehen und stellte jede Zelle seines Körpers in den Dienst der Musik, was seinem Spiel größtmögliche Sinnlichkeit und Purität verlieh: Echter, ungekünstelter Ausdruck in jeder Schwingung. Sofja Gülmadamova verkörperte eine andere Herangehensweise: Sie näherte sich vom Bild auf die Gesamtform den einzelnen Passagen, um nie den Zusammenhang zu verlieren. Aller äußerlichen Virtuosität schwor sie ab, erwägte gar jede ihre Bewegungen, die nur der Tongebung gelten sollten. In der Symbiose der beiden Künstler verschwammen die unterschiedlichen Grundzüge zu einer durch und durch funktionierenden Einheit. Die Musiker gaben ihr Innerstes preis, was das Erlebnis dieses Konzerts umso intensiver und intimer gestaltete, den Zuhörer vollends in das Geschehen integrierte. Der gemeinsame Atem, der sich in 20-jähriger Kammermusikpartnerschaft etablierte, der nach dieser Pause nun wieder außergewöhnlich erschien, sprang auch auf das Publikum über.

Wohl dauerte es aus Sicht des Publikums teils noch, sich auf diese Situation neu einzustellen, aber spätestens im Mittelsatz der Beethoven-Sonate war auch der Letzte vom Alltag befreit in den Wogen der Musik gefangen. Diejenigen, die sich schon früher aus der normalen Welt zu lösen vermochten, erlebten vom ersten Ton an Großes: Die jugendliche D-Dur-Sonate Schuberts, mit 19 Jahren geschrieben, enthielt schon den Kern des späteren Melodik-Großmeisters, behielt dennoch unter den Fingern Gülbadamovas und Goldfelds die jugendliche Frische und Heiterkeit – wenngleich die scheinbare Fröhlichkeit bereits hier teils gebrochen erscheint. Der Kopfsatz von Beethovens G-Dur-Sonate brodelte und begehrte auf, konnte aber in seiner übermannenden Energie von den Musikern gebändigt werden, was uns davor bewahrte, von den Tönen überrannt zu werden. Im erwähnten Mittelsatz blieb die Zeit stehen, so dass man sprechen möchte: „Verweile doch, du bist so schön.“

Die Intimität noch gesteigert setzten Goldfeld und Gülbadamova in der zweiten Hälfte mit einem zeitgenössischen Werk von Lera Auerbach an, traten in Zwiegespräch mit den Tönen, die teils grelle Dissonanzen aufflammen ließen, dann aber auch wieder beschwichtigende Dur-Harmonien verwendeten, um den Kontrast aus Niedergeschlagenheit und Hoffnung zu extremisieren. Alles, was die Musiker über die Corona-Pandemie gerne sagen wollten: Es war in diesen Tönen. Die „Regenliedsonate“ op. 78 von Brahms folgte, die zwar in Dur geschrieben steht, wohinter sich aber ein tragisches Schicksal verbirgt, nämlich der Tod von Brahms‘ Patenkind Felix Schumann. In ihrer Ansprache nannte Sofja Gülbadamova sie ein „Lächeln durch die Tränen hindurch.“ Diese Musik zu beschreiben, entzieht sich nun doch letztendlich dem verbal Ausdrückbaren; es hätte ein Foto gebraucht vom Ausdruck auf den Gesichtern der Musiker nach der letzten Note – zutiefst betroffen, aufgerüttelt, erschüttert und doch friedlich –, um den entschwundenen Moment zu rekapitulieren.

[Oliver Fraenzke, Juli 2021]

Gesanglich und nobel

Aparté, AP238; EAN: 5 051083 162159

Fabrizio Chiovetta hat für Aparté die drei letzten Klaviersonaten Ludwig van Beethovens (E-Dur op. 109, As-Dur op. 110, c-Moll op. 111) aufgenommen.

Nachdem er in den letzten Jahren je eine CD mit Werken Bachs, Mozarts und zeitgenössischer osteuropäischer Komponisten vorgelegt hatte, widmet sich der schweizerische Pianist Fabrizio Chiovetta mit der vorliegenden Einspielung erstmals dem Schaffen Ludwig van Beethovens. Das Programm besteht aus den um die Jahreswende 1821/22 kurz hintereinander entstandenen drei letzten Klaviersonaten opp. 109–111.

In den Sonaten op. 109 und op. 110 gelingen Chiovetta sehr ausgewogene Kopfsätze, was nicht zuletzt an seiner Fähigkeit zu kantablem Spiel liegt. Sein Anschlag ist nie grob, auch die kraftvoll vorzutragenden Abschnitte wahren die Noblesse. Die langen Melodiebögen im Moderato des op. 110 entfalten sich unter seinen Händen ungezwungen und ganz natürlich. Im Kopfsatz des op. 109 begreift er Beethovens Tempowechsel zwischen Vivace (Anfangsthema) und Adagio (Seitensatz) völlig zurecht nicht als Aufforderung, dem Stück ein zerrissenes Erscheinungsbild zu verleihen. So richtet er die Eingangstakte gezielt derart aus, dass sie im Beginn des Seitensatzes ihren Höhepunkt finden, und hält in den Adagio-Takten die Spannung aufrecht, indem er das metrische Schwer-Leicht-Gefälle hörbar macht. Chiovettas dezente Rubati verwischen nie das jeweilige Grundtempo und wirken im Kontext stets geschmackvoll. Die raschen Mittelsätze beider Sonaten haben den nötigen Schwung. Zu Beginn des Allegro molto von op. 110 ließe sich der „Frage-und-Antwort“-Effekt noch etwas stärker herausgearbeitet denken. Dafür überzeugt der rezitativische Beginn des Schlusssatzes der gleichen Sonate umso mehr. In der Fuge behält Chiovetta durchweg die Übersicht über das polyphone Geschehen.

Angesichts der andernorts so trefflich eingesetzten Gesanglichkeit verwundert die Art ein wenig, mit der Chiovetta die Themen der finalen Variationssätze von op. 109 und op. 111 vorträgt. Beide wirken vergleichsweise statisch, da dem Pianisten die einzelnen Zählzeiten der Takte offenbar wichtiger sind als die Gewichtung der Takte untereinander. Allerdings verschwindet in beiden Sätzen dieser Eindruck sofort mit der ersten Variation, wenn der Komponist beginnt, die Melodie mit stärkerer Binnenbewegung zu füllen. Ansonsten lässt sich über Chiovettas Darbietung der Variationen nur Gutes sagen. Dies gilt auch für den ersten Satz des op. 111. Im Bezug auf die Einleitung ist namentlich der Spannungsaufbau in der zweiten Hälfte samt zielgerichteter Überführung ins Allegro zu nennen. Im Allegro selbst zeigt sich der Pianist erneut als meisterhafter Tempogestalter, der die sanfteren Episoden bruchlos in ein ansonsten unwiderstehlich stringentes Gesamtgeschehen einzufügen weiß.

Im Großen und Ganzen bietet Fabrizio Chiovettas Auseinandersetzung mit den letzten Beethoven-Sonaten also sehr erfreuliche Ergebnisse. Die Anfang 2020 aufgenommene und im Herbst desselben Jahres erschienene CD gehört ohne Zweifel zu den gelungenen Beiträgen zum Beethoven-Jubiläum.

[Norbert Florian Schuck, März 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (2): Gedanken zu Artur Schnabels Beethoven-Aufnahmen

Sonaten 1-3: Naxos 8.110693; EAN 0636943169322
Sonaten 4-6 & 19-20: Naxos 8.110694; EAN 0636943169421
Sonaten 7-10: Naxos 8.110695; EAN 0636943169520
Sonaten 11-13: Naxos 8.110756; EAN 0636943175620
Sonaten 14-16: Naxos 8.110759; EAN 0636943175927
Sonaten 17, 18, 21: Naxos 8.110760; EAN 0636943176023
Sonaten 22-26: Naxos 8.110761; EAN: 0636943176122
Sonaten 27-29: Naxos 8.110762; EAN: 0636943176121
Sonaten 30-32: Naxos 8.110763; EAN 00636943176320
Eroica-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110764; EAN 0636943176429
Diabelli-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110765; EAN 0636943176528
Klavierkonzerte 1-2: Naxos 8.110638; EAN 0636943163825
Klavierkonzerte 3-4: Naxos 8.110639; EAN 0636943163924
Klavierkonzert 5 und Cello-Sonate 2: Naxos 8.110640; EAN 0636943164020

Artur Schnabel war der erste Pianist, der Aufführungen sämtlicher Klaviersonaten Ludwig van Beethovens auf Schallplatte festgehalten hat. Oliver Fraenzke, Gründer unseres Magazins, Herausgeber der Kammermusik-Reihe Beyond the Waves im Verlag Musikproduktion Jürgen Höflich und selbst Pianist, stellt diese diskographische Großtat in der zweiten Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums vor und legt dar, warum sie nach wie vor für die Darbietung Beethovenscher Klaviermusik Referenzstatus besitzt. (d.Red.)

Betrachtet man Beethovens Klavierwerk, so kommt man kaum um die Aufnahmen Artur Schnabels herum, die weit oben in der Liste der Referenzaufnahmen stehen, als Zyklus betrachtet wohl sogar mit an deren Spitze. Sicherlich gibt es zahlreiche andere großartige Aufnahmen von Beethovens Tastenwerk, so beispielsweise durch Eduard Erdmann oder Arturo Benedetti Michelangeli, doch kaum einer von den Pianisten diesen Ranges näherte sich dem Komponisten derart systematisch in der Gesamtheit seines Schaffens. Aus den 1920er-Jahren existieren Konzertprogramme Schnabels, die zyklische Aufführungen aller Beethoven-Sonaten belegen; in den 1930er-Jahren empfand Schnabel schließlich die Aufnahmetechnik als ausreichend gereift, um mit den Sonaten, Klavierkonzerten, den Diabelli- und den Eroicavariationen und einigen anderen Werken ins Studio zu gehen, wobei er die Abbey Road Studios in London für das Großprojekt auserkor.

In der Auswahl seines Repertoires galt Artur Schnabel als unerbittlich: Ausschließlich die Werke nahm er auf, die laut eigener Aussage besser sein, als ein Mensch sie spielen könne. Dies führte dazu, dass er beinahe ausschließlich Werke der Epoche um die Wiener Klassik spielte, inklusive Brahms und Schubert. Letzteren entdeckte Schnabel gemeinsam mit Eduard Erdmann wieder und konzertierte als einer der ersten mit dessen Sonaten, die zuvor wenig verstanden waren. Der Fokus auf die vergleichbar alte Musik mag vor allem deshalb verwundern, da Schnabel auch als Komponist in Erscheinung trat und dort zu den Neuerern zählte. Beeinflusst vom Durchbrechen der Tonalität und den Ideen Schönbergs schloss Schnabel sich den Fortschrittlern an, bewegte sich in den Kreisen von Ernst Křenek, Philipp Jarnach und Hans Jürgen von der Wense, der zweifelsohne zu den radikalsten Tonsetzern der Zeit zählte und in seiner ganzen Art sowie seinem vielseitigen Wirken revolutionierte. Schnabel betitelte seine Werke allgemein mit klassischen Bezeichnungen wie Sonate, Quartett oder Symphonie, doch inhaltlich hatten sie zumeist wenig mit diesen Gattungen gemein.

Geboren wurde Artur Schnabel am 17. April 1882 in Kunzendorf, Galizien, das heute zum südöstlichen Teil Polens gehört. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen als jüngstes von drei Kindern einer jüdischen Textilhändler-Familie auf. Er zog noch als Kind mit der Mutter und seinen Geschwistern nach Wien, wo er 1890 als Pianist debütierte und dort wohnhaft blieb, selbst als seine Familie vier Jahre später wieder in die Heimat zurückzog. Er wurde Schüler von Anna Jessipowa, die als „Madame Essipoff“ bekannt war, und nach deren Scheidung Schüler ihres Exgatten Theodor Leschetizky, einer der namhaftesten Lehrer der Zeit und Mitbegründer der heute sogenannten russischen Klavierschule. Eusebius Mandyczewski unterwies Artur Schnabel in Musiktheorie und gab ihm Kompositionsunterricht; durch ihn kam er auch in Kontakt mit einigen der großen Komponisten der älteren Generation wie unter anderem Johannes Brahms, wobei scheinbar wenig Austausch zwischen den etablierten Meistern und dem jugendlichen Aufsteiger stattgefunden hat. Um die Jahrhundertwende zog Schnabel nach Berlin und heiratete 1905 Therese Behr. Therese Behr-Schnabel wirkte als Altistin, trat oft auch mit ihrem Ehemann auf. 1909 kam Karl Ulrich auf die Welt, der sich selbst als Pianist einen Namen machte und gemeinsam mit seinem Vater einen Großteil des vierhändigen Repertoires einspielte, 1912 folgte Stefan Artur, welcher in Amerika Schauspieler wurde. (Bereits 1899 war Schnabel Vater einer vorehelichen Tochter geworden, Elisabeth Rostra.) Nach Hitlers Machtergreifung 1933 flüchtete die Familie in Vorahnung unmittelbar nach England, verbrachte die Sommer jedoch in Tremezzo. Als der Krieg unausweichlich schien, emigrierten die Schnabels 1939 in die USA, die Schwestern folgten – die Mutter blieb in Österreich, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort im gleichen Jahr zu Tode. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Tremezzo zurück, Artur verlebte dort seine letzten Jahre und starb am 15. August 1951 in Morschach in der Schweiz.

Die für seine Entwicklung bedeutsamsten Jahre dürften nach der fundamentalen Ausbildung in Wien wohl diejenigen in Berlin gewesen sein, wo Schnabel in regem künstlerischen Austausch mit einigen der bedeutendsten Komponisten und Musikern gewesen ist sowie den Durchbruch als konzertierender Pianist errang. Einer der wahrscheinlich zentralsten Einflüsse dürfte der durch den vierzehn Jahre jüngeren Eduard Erdmann gewesen sein: die beiden lernten sich vermutlich 1920 kennen, als Erdmann sich gerade als einer der zentralsten Vertreter der Szene Neuer Musik etablierte, mit Aufführungen u.a. seines Lehrers Heinz Tiessens, Scherchens, Bergs, Schönbergs etc. von sich Reden machte. Erdmann sah Schnabel gewissermaßen als eine Art Lehrer, befolgte insbesondere seine Lebensratschläge und nahm wichtige Anschauungen Schnabels an. Und doch handelte es sich um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Schnabel schätzte Erdmann besonders auch als Darbieter seiner eigenen Werke und übernahm als Komponist seinerseits musikalische Inspirationen von seinem Kollegen. Schubert entdeckten sie gemeinschaftlich wieder und zurückblickend schuf sogar Erdmann die tiefgründigeren Aufnahmen dessen Klavierwerks (insbesondere der letzten Sonaten und der Impromptus). Zu Beethoven bemerkte Erdmann allerdings, dass keiner dessen Sonaten so verstand, wie Schnabel es tat, und er selbst nichts hinzuzufügen hätte. Aus diesem Grund weigerte sich Erdmann, Beethovens Sonaten aufzunehmen, solange Schnabel lebte: erst 1953 spielte er, bereits als von der Kriegszeit gezeichneter Mann mit schwindender manueller Technik, nicht aber geistiger Durchdringung, die Pathétique ein.

Schnabels Beethoven-Aufnahmen entstammen seinen reifen Jahren: Die meisten fallen in die Zeit seiner frühen 50er, als sich die Erfahrungen seiner bereits über 40 Jahre währenden Karriere längst in einem gesetzten, bewussten und ausgeglichenen Spiel manifestiert haben. Schnabel blieb durch den regen Austausch in Berlin frisch und lebendig und stand den musikalischen wie technischen Neuerungen gegenüber stets offen. Jede der Aufnahmen zeugt von intensiver und vor allem präzise detailverliebter Beschäftigung mit ausnahmslos einem jeden dieser Werke. Schnabel vertrat genaue Werktreue und so setzte er die Partituren minutiös um. Dabei spielte er allerdings nüchterner, distanzierter, als es beispielsweise Erdmann tat. Nichtsdestoweniger fehlt auch die emotionelle Seite der Werke nicht und die Musik funkelt vor Lebendigkeit und Frische. Als Zyklus betrachtet zeugen die Einspielungen vor allem von einem: umfassender Menschlichkeit. Schnabel stellt Beethoven nicht als wilden, zerzausten Berserker da, der die Regeln brach und als Raptus das Aufsehen auf sich zog, so wie man es von neueren Einspielungen viel zu leidlich kennt, sondern zeigt ihn als vielschichtige, ausgeglichene Persönlichkeit, dessen kompositorische Ausbrüche stets integriert werden in ein komplexeres Ganzes. Beethoven wird uns sympathisch.

Technisch stechen besonders Schnabels Feinheiten des Anschlags hervor, seien es die schimmernden Läufe oder die geräuschhaft schnellen Triller, vor allem aber stockt einem der Atem, sobald Schnabel Pianissimo spielt. Über lange Strecken bannt der Pianist den Höher durch sein weltfremdes, gedämpftes Spiel in den ruhigsten Passagen, hält die Spannung bis zum Zerreißen in der Schwebe und bringt die Zeit zum Stillstand. Mit dieser Basis spannt er große Kontraste und eröffnet ein gewaltiges Spektrum an Farben und Möglichkeiten, die zu einem unerhört formbezogenen Spiel führen, was uns selbst die weiten Flächen der letzten Sonaten mühelos nachvollziehen lassen.

In keiner Sekunde buhlt Schnabel dabei um Aufmerksamkeit, sondern spielt lediglich für den Komponisten, für die Noten und für den verständigen Hörer, der nicht geblendet werden will, sondern der Musik zuliebe hört. Entsprechend könnten Hörer, die sich an den Effekt neuerer Aufnahmen gewöhnt sind, irritiert werden von der Leichtigkeit, Lebendigkeit und unprätentiösen Herangehensweise an diese Werke.

In den Beethovenaufnahmen seien besonders die getragenen Sätze hervorzuheben, die Schnabel enorm langsam nimmt, dabei aber zu keiner Zeit schleppt, so dass in der Wirkung die Zeit still zu stehen scheint und dennoch in gemächlichem Maße prozessiert. Seine beachtliche Fingertechnik stellt der Pianist nie zur Schau, kehrt sie im Gegenteil teils sogar unter den Tisch, um umso mehr Platz für musikalische Ausgestaltung zu gewinnen. Natürlich gibt es kleinere Fehler oder Ungenauigkeiten im Vergleich zum neueren (auch Live-)Aufnahmen, was ich jedoch nicht als Manko sehe, denn auch sie stehen für die menschliche Seite der Musik. Zudem nimmt man sie gerne in Kauf für solch ein durch und durch musikalisches, ausgewogenes und formbewusstes Spiel, das auch die längsten Sätze als Ganzes erfasst.

In den frühen, Beethovens Lehrer Haydn gewidmeten Sonaten vollzieht Schnabel den Stilentwicklungsprozess pianistisch nach, stellt sie in Haydn’scher Feinheit des Spiels dar. Schon in der beginnenden f-Moll-Sonate sticht sein brillantes Staccato-Spiel hervor, durch das die Noten zwar sehr kurz, aber dennoch mit Hall und Volumen kommen. Auch die Sforzati wägt Schnabel sauber ab, bezieht sie stets auf die aktuelle Grunddynamik. Im Adagio hören wir bemerkenswerte Pedalisierung, das Finale gestaltet er etwas freier. Die folgende A-Dur-Sonate beginnt ausgesprochen fröhlich und locker geradlinig, was den ganzen Satz durchgeht, der in dieser Heiterkeit verweilt – hier wirken neuere Darbietungen doppelbödiger und zwiegespaltener, doch Schnabel setzt seine Ansicht stimmig um. Das Largo gestaltet er herrlich zweischichtig, nimmt die Melodie als reinen Gesang mit einer Art Streicherbegleitung. Das Finale erscheint wenig virtuos, dafür umso sanglicher mir subtilen Freiheiten, das Grazioso hären wir so wörtlich wie selten sonst. Die umfangreichere C-Dur-Sonate nimmt Schnabel klassisch fein und ausdrucksstark, intensiviert die Kontraste. Sehr sympathisch erscheint mir, dass selbst Schnabel mit der Trillerbewegung im Thema zu kämpfen hat: hieran dürfen sich alle Pianisten erfreuen, die selbst um dieses Detail gerungen haben. Im Adagio erleben wir, wie laut Pausen sprechen können und schmerzlicher rufen als die Noten an sich; der Mollteil changiert zwischen Zweifel und Hoffnung, Aufbegehren und Resignation: Momente der Gänsehaut. Das Scherzo springt gelöst herum, dabei wirkt vor allem das Trio völlig unprätentiös, was angesichts des Notensatzes einem Wunder gleicht – dafür fokussiert Schnabel sich auf die Bassführung. Wieder leichtfüßig kehrt das Finale ein, wobei Schnabel jedes der Motive in klaren Bezug setzt und so einen roten Faden durch den vielgliedrigen Satz zieht.

Schreiten wir etwas zügiger durch die darauffolgenden Sonaten, konzentrieren uns nur auf ein paar besonders auffällige Stellen. Aus der siebten Sonate op. 10/3 sticht der Largo-Mittelsatz hervor, der so enorm langsam gespielt wird, dass Schnabel jede einzelne Note mit Bedeutung füllen muss. Er setzt sie um wie eine Cellostimme; die Qualität jeden Anschlags übersteigt hierbei, so meint man zumindest, die physikalischen Möglichkeiten eines Klaviers. Im Rondo glänzt die Unterstimme, flächig klangmalerisch unterstreicht sie die Melodie, bleibt dabei in jeder Note verständlich. Die Pathétique weitet erneut die Kontraste, das Fortissimo findet seine Grenze an Robustheit und Lärmen, ohne dabei hart oder geschlagen zu wirken. Im Hin und Her, Drängen und Zurückhalten des Beginns intensiviert Schnabel die Spannung, löst sie erst im Allegro, wo er unerbittlich nach vorne zieht und ein ewiges Precipitato-Gefühl evoziert. Der Mittelsatz trumpft wieder durch seine Kantabilität auf, präsentiert romantischen Flair in klassischem Gewand. Das Finale gewinnt schließlich die lang ersehnte Leichtigkeit und Gelöstheit, auf die die ganze Sonate abzielt, beruhigt das Gemüt nach der enormen Spannung der Vorausgegangenen. Eines der wenigen Details, die mir in Schnabels Darbietungen unverständlich erscheinen, finden wir im Finale der E-Dur-Sonate op. 14/1: warum beschleunigt Schnabel auf das Crescendo? Dies unterminiert die geradlinige Fröhlichkeit des Satzes. In der folgenden G-Dur-Sonate besticht einmal mehr der Mittelsatz, trotz der kurzen Staccati hebt Artur Schnabel die Melodie in den Vordergrund und gestaltet sie kompromisslos aus. Das Scherzo avanciert zu einer aufsehenerregenden Gradwanderung zwischen operettenhafter Stimmung und düster-gespenstischem Satz, in der Kürze der Motive beinahe fragmentarisch wirkend.

Die stilistische Auswägung der mittleren Sonaten ist allgemein erwähnenswert. So ist beispielsweise die sogenannte „Mondschein“-Sonate überhaupt nicht so romantisierend gespielt, wie man sie heute viel zu oft hören muss, sondern besticht durch gehaltenes, dabei durchgängiges Tempo, das die Wirkung auf die Spitze bringt und über lange Strecken die eiserne Spannung aufrechterhält. Umso vorwärtsdrängender das Finale, welches beinahe aggressiv aufstößt und die Sforzati wie Aufschreie hervorblitzen lässt. Die folgenden Sonaten integrieren zusehends mehr orchestrale Farben in das Klavier: während das Andante der „Pastorale“ wieder einen Beweis für brillante Zweistimmigkeit mit feinsinnigem Staccato liefert, erscheint das Adagio der G-Dur-Sonate op. 31/1 bereits völlig orchestral mit Holzbläserstimmen als Melodie und dichter Streicherbegleitung. Im Finale der Pastoral-Sonate denken wir dafür, eine Harfe zu hören. In der 31/1 ist noch der Beginn zu erwähnen, der fast wie ein Scherzo daherkommt, keck virtuos, und doch ohne jegliche Form der Zurschaustellung. Wie bereits bei der Sonata quasi una fantasia, so nimmt Schnabel auch die „Sturm“-Sonate op. 31/2 keineswegs klischeehaft romantisch, er treibt die Spannung nicht durch Rubato unnötig in die Höhe, sondern lässt die Noten durch Präzision und ausgewogenen Anschlag durch sich sprechen. Das Finale stellt den bisherigen Höhepunkt von Schnabels vielseitiger Staccatokultur dar. Die Es-Dur-Sonate op. 31/3 gehört zu den Sonaten, die unbedingt mehr zu entdecken sind. Schnabel setzt sie in unendlicher Schönheit um mit augenzwinkernden Details, in springender Heiterkeit mit wohl dosierten Proportionen. Die technischen Anforderungen des Scherzos stellt er vollends in den Dienst der musikalischen Ausgestaltung; das Presto nimmt er rasend schnell, bleibt fein und technisch unscheinbar. In der „Wandstein“-Sonate op. 53 gilt es, sich die Ressourcen einzuteilen, um die Form zu bewältigen, was Schnabel durch langes Beharren in den unteren Dynamikstufen und graduellen Aufbau realisiert und so den gesamten Bogen des Satzes musikalisch ausfüllt. Im Adagio zählt dagegen jeder Ton, jede subtile Wendung wird adäquat unterstrichen, ohne sie überzubetonen. Der Beginn des Rondos schwebt förmlich über allen Wolken, so surreal wirkt das Pianissimo in Schnabels Händen.

In den späten Sonaten spreizen sich die Kontraste bis zum Zerbersten auf, dabei wird die Aussage auf ihre Weise kompakter. Ich würde mich hüten, diese Werke einer „Epoche“ zuzuordnen, denn dieser Stil ist ausschließlich später Beethoven und nichts sonst. Jede Sonate steht monumental für sich alleine in der Musikgeschichte und verlangt nach unbefangenem Herangehen, enormem Bewusstsein und musikalischer Imaginationsgabe. Schnabel blüht hier voll auf und kreiert einen Höhepunkt der Klavierkunst. Besonders die langsamen Passagen wirken wie Wunder, vollendeter Tastengesang und unendlich fein abgestufte Dynamiknuancen bereiten den Weg, die „himmlischen Längen“ zu bewältigen, die durch seine facettenreiche Artikulation und die überirdischen Pianissimopassagen (besonders -triller) bis ins Letzte ausgestaltet werden. Die flirrenden Begleitungen raunen orchestral ausgestaltet, während die Oberstimme schwebt, stets im Bewusstsein über Form und Proportion.

Die Klavierkonzerte Beethovens nahm Artur Schnabel gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung Malcolm Sargents auf. Das Klavier erscheint dabei auf das Orchester klanglich abgestimmt, verliert dabei nicht seine Distanz und seinen individuellen Klang, wirkt entsprechend wie ein wohl dosierter Kontrapunkt. Schnabel übernimmt eine reiche Palette an Orchesterfarben aufs Klavier, nutzt ebenso aber die rein klavierspezifischen Klangfarben, um das Zusammenspiel durch unterschiedliche Facetten zu bereichern.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Beethoven zu entdecken

Antes Edition, BM319316; EAN: 4 014513 038241

Für die Antes Edition spielt Anna Adamik Werke Ludwig van Beethovens ein. Auf dem Programm stehen die Sonaten Nr. 17 „Der Sturm“ op. 31/2 in d-Moll und Nr. 31 in As-Dur op. 110, die berühmte Bagatelle „Für Elise“ a-Moll WoO 59 sowie ein selten zu hörender Schatz: Zwölf Variationen A-Dur über den russischen Tanz aus dem Ballett „Das Waldmädchen“ von Paul Wranitzky WoO 71.

Kurz nach dem Jahreswechsel des Beethoven-Jahrs gibt es doch noch eine neue beglückende Beethoven-Aufnahme, gespielt von Anna Adamik. Sie glänzt in den berühmten Sonaten, doch der Höhepunkt bleibt die Einspielung der Waldmädchen-Variationen, ein gänzlich unbekanntes, charmantes Werk von 1796, also kurz nach den ersten publizierten Opera geschrieben. Das schlichte Thema Paul Wranitzkys verarbeitet Beethoven auf ganz heitere, kecke Art, changiert erstaunlich oft zwischen Dur und Moll und zieht aus den subtilsten Details größten Reiz. Besonders liebevoll behandelt er den unauffälligen Oktavsprung in der zweiten Themenhälfte, der ihn zur Verwendung größerer Intervalle in mehreren Abwandlungen verleitet. Obgleich virtuos, protzen die Variationen nicht durch technische Zurschaustellung, bestechen dafür durch Leichtigkeit, Beschwingtheit und Wechselhaftigkeit. Die einzelnen Variationen dauern je unter einer Minute, dafür beschließt Beethoven das Werk mit einer überdimensionalen Coda, die wie eine Phantasie das Thema auf die Probe stellt, bis es zuletzt einen friedlich-versöhnlichen Schluss findet.

Den für Beethoven geradezu untypisch lockeren, genießerischen Schwung kostet Anna Adamik in ihrer Aufnahme aus, streichelt die Tasten förmlich in den Pianissimo-Passagen und verleiht den Läufen bronzenen Glanz. Die Sprünge in den Variationen I und X schloss die Pianistin besonders ins Herz und füllt die großen Distanzen zwischen den Tönen musikalisch aus. Wie Kleinode behütet Adamik jede Variation für sich und holt ein Maximum an Leichtigkeit und Aussagekraft aus ihnen heraus in Mozart’sch verfeinerter Anschlagskultur.

Die späte As-Dur-Sonate nimmt Anna Adamik sanglich und gefühlsmäßig involviert, behält dabei die Feinheit der früheren Werke. Im Adagio findet sie enormen Tiefgang und lässt die Zeit stillstehen, die Fuge weiß sie gerade hinsichtlich der kontrapunktischen Stimmführung zu bewältigen, ohne aus ihrem geistig-emotionellen Fokus geworfen zu werden. Was ihrer Darbietung noch gut tun würde, wäre in diesem Spätwerk etwas Abgeklärtheit, möglicherweise sogar mit leichtem Hang zum Vergeistigten – denn noch wirkt die Sonate zu real und bodenständig für ihren übersinnlichen Gehalt.

Ein stetiges Hin und Her, Für und Wieder, Drängen und Innehalten durchflutet Anna Adamiks Aufnahme der Sturm-Sonate in d-Moll. Wellenförmig gestaltet die Pianistin den Strom im Kopfsatz aus, wägt die kontrahierenden Kräfte nuanciert ab und liefert so einen von vorne bis hinten stimmigen Gesamteindruck. Im Mittelsatz hält sie vollkommen inne und lässt jeden Klang für sich wirken, ohne dabei die Horizontale zu vernachlässigen: also steht die Sonate niemals still, während wir parallel jeden Akkord genießen können. Im Finale fasziniert die wiederkehrende Leichtigkeit und besonders das Staccato, das wie ein Streicher-Pizzicato die notwendige Kürze und die nachhallende Schwingung der Saiten verbindet und so orchestralen Effekt auf das Klavier zaubert.

So handelt es sich hier um eine vollkommen empfehlenswerte CD, die lediglich ein wenig hallig aufgenommen scheint, was allerdings nicht allzu sehr stören mag. Die Einspielungen überzeugen durch ihre Unbeschwertheit und ihren menschlichen Zugang, zeigen die unprätentiöse und entgegenkommende Seite Beethovens auf und zeugen so von intensiver und unbefangener Beschäftigung mit seiner Musik.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

„Darmsaiten offenbaren einfach mehr Farbe…“

… ein Gespräch mit der spanischen Geigerin Lina Tur Bonet

Lina Tur Bonet ist nicht nur eine gefeierte Barockgeigerin, sondern bringt allen Stilepochen dieselbe Neugier entgegen. Immer geht es darum, den Klang der Zeit zu verstehen und sich diesen mit den spezifischen Instrumenten zu eigen zu machen. Mittlerweile liegen circa ein Dutzend Soloaufnahmen von ihr vor – ebenso zeugen sieben Produktionen mit ihrer Gruppe MUSIca ALcheMIca von einer hohen Produktivität als Ensembleleiterin. Jetzt hat sie sich zusammen mit der Pianistin Aurelia Visovan ans Thema “Beethoven” heran begeben. Auf dem Programm der neuen CD steht zum einen dessen Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”, die ja eigentlich ganz anders heißen sollte, wenn es um den wahren Widmungsträger dieser virtuosen Komposition geht. Das andere große Werk dieser Aufnahme markiert das Gegenteil davon: Beethovens letzte Violinsonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow” ist ein Spätwerk in Reinkultur. Nach einer vielbeschäftigten Zeit mit zahlreichen Konzerten fand Lina Tur Bonet Zeit für ein ausgiebiges Gespräch.

Sie genießen vor allem als Barockmusikerin einen herausragenden Ruf. Wie fügt sich jetzt eine Beethoven-Aufnahme in dieses Bild?

Ich bin sehr breit aufgestellt. Ich habe schon viel Romantik und modernes Repertoire gemacht, unter anderem auch eine Bartók-CD. Ich spiele sowohl auf historischen Instrumenten wie auf einer modernen Geige.

Ihr Schwergewicht bildet aber dennoch das Spiel auf historischen Instrumenten?

Auf jeden Fall. Ich habe sogar Bartók auf Darmsaiten gespielt, denn das war üblich zu seiner Zeit. Noch wichtiger ist die Auswahl eines Bogens, wie er zur Entstehungszeit einer Komposition üblich war. Gerade bei der Bartók-Aufnahme habe ich verschiedene Varianten ausprobiert. Die Wahl fiel schließlich auf eine Kombination aus drei Darmsaiten plus der höchsten E-Saite aus Stahl. Das war in Europa zu dieser Zeit verbreitet. Ich will gar nicht bewusst „historisch“ agieren, sondern habe einfach festgestellt, dass dies perfekt für die Musik ist.

Was können Darmsaiten mehr?

Darmsaiten sind nicht so stark im Klang, aber haben dafür viel mehr Obertöne. Wie diese sich mischen, das offenbart mehr Farbe und eröffnet viele neue Möglichkeiten. Es treten mehr Konsonanten im Spiel hervor, gerade weil der Klang nicht so „rund“ ist wie mit Stahlsaiten. Letztere etablierten sich, weil die Säle größer geworden sind. Darmsaiten haben mehr Farbe. Vorausgesetzt, man ist in der Lage, mit Flageolett und Portamenti zu experimentieren.

Erschließen sich dadurch neue Aspekte der Komposition?

Auf jeden Fall. Ich kann vieles, was der Komponist sagen wollte, besser verstehen.

Wie verbessern diese Saiten das Verstehen?

Das Spiel auf Darmsaiten fördert das Verständnis für die Aufführungspraxis ungemein. Die Affekte, die der Komponist wollte, kommen besser durch. Und zwar nicht nur die Farben, sondern auch die Sprache. Gerade, weil Darmsaiten viel besser die Konsonanten einer musikalischen Sprache entfalten – fast so, wie in der Vokalmusik. Nikolaus Harnoncourt spricht hier von Klangrede.

Was bedeutet Ihnen Rhetorik in der Musik?

Ich spüre in der Musik, ob die Sprache eines Komponisten deutsch, italienisch oder französisch ist. Solche feinen Unterschiede nachzuempfinden funktioniert auf Darmsaiten ungleich besser. Auch wenn der Original-Klang oft roher anmutet als auf Stahlsaiten. Dafür wirken plötzliche Forte-Ausbrüche viel unmittelbarer. Um dies herauszustellen, gerade bei Beethoven, kam auf der neuen Aufnahme auch ein Bogen aus der Zeit Beethovens zum Einsatz. Das hat mir geholfen, die Striche, wie sie bei Beethoven üblich waren, besser zu verstehen.

Was macht einen historischen Bogen aus?

Die Geige hat sich über die Jahrhunderte nicht so sehr verändert, aber der Bogen umso mehr. Beim historischen, heute üblichen Bogen geht die Kurve nach oben, sie ist also konvex. In der Klassik seit 1750 hat sich der Bogen dann verändert, die Form wechselte zu konkav. Das ermöglicht mehr Druck auf der Spitze, dadurch wurde alles gleichmäßiger im Sinne von Egalität. Ein Bogen aus der zeitgenössischen Praxis offenbart einfach mehr Kraft und Artikulation. So etwas erzeugt ein starkes Aha-Gefühl.

Barockmusik hat viele Freiräume, die Sie ja bekanntermaßen gerne auch improvisatorisch ausschöpfen. Beethoven jedoch setzt viele Vortragsbezeichnungen und überlässt anscheinend so wenig wie möglich dem Zufall. Empfinden Sie hier einen Widerspruch?

Nicht unbedingt. Zwar hat Beethoven immer sehr genau geschrieben, was er wollte. Gleichzeitig ist Freiheit seine Sache und wir wissen, dass er gerne improvisiert hat. Er war ja auch froh, dass Bridgetower in den Kadenzen der A-Dur-Sonate drauflos improvisiert hat.

Wie setzen Sie sich mit dem Komponisten als Menschen in seiner Welt auseinander?

Ich will die Partitur möglichst gut kennen und lese sehr viel über den Kontext eines Werkes. Ebenso recherchiere ich, wie damals gespielt wurde. Ich habe auch die zeitgenössischen Fingersätze erforscht. Wie war das Leben eines Komponisten? Beethoven war ein Revolutionär, der wusste, dass er etwas großes für die Musik macht. Und es blieb diese reiche, innere Welt, als er selbst nicht mehr hören konnte. Das alles inspiriert mich sehr.

Warum haben Sie gerade diese beiden Sonaten miteinander kombiniert?

Das Cover der CD ist schwarz und weiß, das soll die zwei unterschiedlichen Seiten von Beethoven illustrieren. Diese Sonaten widerspiegeln zwei Welten. Wir waren uns zunächst nicht sicher über die Kombination. Wir wollten auf jeden Fall die Kreutzer-Sonate aufnehmen und haben dann an alle möglichen Kombinationen gedacht. Die zehnte Sonate war die einzige, die wesentlich später komponiert wurde. Sie spiegelt also einen anderen Moment aus Beethovens Leben wieder. Sie atmet eine viel tiefere innere Ruhe. Beethoven war zu dem Zeitpunkt schon taub. Die daraus resultierende Ausschließlichkeit seiner innerlichen Gefühle fasziniert. Überhaupt werden so viele Stücke Beethovens immer ein Rätsel bleiben. Man denke hier auch an die späten Quartette – diese pure, reine, innerliche Musik.

Nach welchen Ausgaben erarbeiten Sie die Musik? Sind die Phrasierungen schon festgelegt?

Wir haben immer nach originalen Partituren gearbeitet. Es handelt sich um Noten von Geigern aus dieser Zeit – es geht aber nicht darum, diese zu kopieren, sondern stattdessen, sich zu etwas neuem inspirieren zu lassen und sich hier neue Freiheiten zu nehmen.

Sie begeben sich forschend in die Entstehungszeit einer Komposition hinein, zugleich sind Sie eine Musikerin aus dem Heute, die für ihr Publikum mit Leidenschaft und Temperament spielt. Wie geht das zusammen?

Wir spielen heute die Musik im Jahr 2021 und lassen Dinge aus unserer Zeit leben. Das schließt viel Respekt und eine große Neugier vor den Komponisten nicht aus. Dieses ganze Studium, dass wir für eine Aufnahme auf uns nehmen, gibt mir sehr viel und ich habe das Gefühl, dass dass Publikum dies auch schätzt und hören kann.

Das rockt ja manchmal richtig, wie Sie spielen. Was passiert emotional in einem Konzert?

In einem Konzert ist nicht zu hören, wie viel Arbeit da wirklich drin steckt. Ich versuche immer, ganz viel zu geben, denn ich glaube, dass die Musiker damals auch ganz viel gegeben haben. Es lässt sich wohl sagen, Vivaldi war ein echter Rockmusiker. Es gab noch keine Rockmusik, aber es gab dieselben Gefühle wie heute.

Wollen Sie Vorurteile revidieren, etwa in Bezug auf Alte oder auch klassische Musik? Konzerte von Ihnen suggerieren ja das Gegenteil von bildungsbürgerlicher Erstarrung.

Für Beethoven gilt so etwas auch. Die Uraufführung der Kreutzersonate muss extrem wild gewesen sein. Es wurde spontan fast vom Blatt gespielt. Ich lasse mich für mein Tun gern auch von heutiger Musik inspirieren. Dann stelle ich mir vor, was Beethoven und Vivaldi damals schaffen wollten. Ich glaube, die wollten alles andere als ein steifes Setting. Solche Gedanken inspirieren mich und ich lege Wert auf Kollegen, die diese Lust teilen. Aber im Konzert oder auf einer Aufnahme loslassen zu können, braucht eine gründliche Vorarbeit.

Wie sind Sie auf Ihre Partnerin Aurelia Visovan gekommen?

Wir haben uns vor ca. 1,5 Jahren in Wien kennengelernt, haben uns dann getroffen und ein paar Sonaten gespielt. Wir konnten uns dann schnell auf viele Dinge einigen, zum Beispiel auch auf die bevorzugte Notentext-Grundlage. Hier fiel die Wahl auf die neue Ausgabe. Wir haben Konzerte gemacht und es wurde klar, dass wir eine Platte machen wollen. Es blieb spannend von der ersten Probe bis zur Aufnahme.

Wie kam es zu diesem Titel? War ursprünglich „Sonata Mulattica“ anstelle von „Sonata Lunatica“ geplant? Was hat es damit auf sich?

Es sollte erst „Mulattica“ heißen. Beethoven hat alles sehr schnell herunter geschrieben und eine Widmung mit folgendem Wortlaut hinterlassen: „Sonata mulattica Composta per il Mulatto Brischdauer, gran pazzo e compositore mulattico“. Dieses Wortspiel bezog sich auf den Widmungsträger, den Afroeuropäer (bzw. „Mulatten“) George Bridgetower, den Beethoven hier als „Musikverrückten“ (= Lunatico) tituliert. Dann gab es Streit mit Bridgetower und er hat es ausradiert und die Sonate dem Geiger Rodolphe Kreutzer gewidmet. Kreutzer – übrigens der bekannteste Geiger seiner Zeit – hat die Sonate nie gespielt, weil er sie für zu schwierig hielt. Bridgetower war den Rest seines Lebens darüber beleidigt, da die Sonate ja eigentlich „seine“ Sonate war.

Das Video zu Ihrer vorigen Aufnahme „La Belezza“ zeugt nicht minder von Ihrer unstillbaren Neugier auf den historischen Kontext.

Mich interessiert, wie sich Menschen benommen haben und wie sie gelebt haben. Es gibt sehr viele Schlüssel, um dadurch die Musik zu verstehen. Auf „La Belezza“ geht es um einen breiteren Kontext, um die ganze Vielfalt in der Musik des 17. Jahrhunderts. Die Titel habe ich alle ausgewählt. Es sind wunderbare Stücke. Diese Epoche war eine schwierige Zeit mit vielen Problemen, es gab Epidemien, Hunger, Wetterkatastrophen, Korruption. Und trotzdem hat sich so viel wunderbare Musik ausgebreitet. Es zeigt, dass gerade in schlimmsten Zeiten die Menschen das beste von sich geben. Menschen haben immer neue Wege gesucht, sich auszudrücken. Hinzu kommt der interessante Umstand, dass die CD am 20. März 2020 herausgekommen ist. Das war in dem Moment, als es mit der Covid-Epidemie gerade losging. Es war ein sehr großer Zufall, dass gerade dann diese CD heraus kam.

Sie haben diese Aufnahme mit Ihrem festen Ensemble MUSIca ALcheMIca aufgenommen. Wie haben Sie diese Aufnahme erlebt?

Es war sehr schön, das aufzunehmen und viel improvisieren zu können. Es war wie eine dreitägige Jazz-Jamsession. Wir haben gar nicht mehr gesprochen, sondern nur noch gespielt. Es war wie eine Reise durch viele Länder und es war immer aufs Neue faszinierend, zu sehen, wie die Musik ist. Ich liebe diese Musik und ich glaube, das ist auch zu hören.

[Das Interview führte Stefan Pieper]

CD
Beethoven: Sonata Lunatica
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”
Sonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow”

Lina Tur Bonet: Violine
Aurelia Visovan: Klavier

Beethoven des Jahres

Aldilà Records, ARCD 011; EAN: 9 003643 980112

Beth Levin spiele am 29. Juni 2019 ein denkwürdiges Konzert, welches aufgenommen wurde und nun bei Aldilà Records als CD erschien. Auf dem Programm dieser live-CD steht die Dritte Suite für Clavier in d-Moll HWV 428 von Georg Friedrich Händel, Carosello (Disegno Nr. 3) von Anders Eliasson und die Klaviersonate op. 106 in B-Dur von Ludwig van Beethoven, welche als Hammerklaviersonate Geschichte schrieb.

Zugegeben, das Beethovenjahr 2020 war recht enttäuschend. Wo Konzerte fehlen, mangelte es nicht an Aufnahmen vor allem im Bereich der Klaviermusik. Einige wagten sich an Gesamtzyklen, die wie so meist nur selten vollständig befriedigen; andere spielten kleinere Auswahlen, die aber doch meist aus den altbekannten Werken bestehen. Es gab zwar unter den Aufnahmen viel Gutes, nicht aber wirklich Neues, was unseren Blick auf den Jubilar nachhaltig prägen würde. Man blieb bei den Konventionen, beim Bewährten, und nahm es nicht auf sich, über den Tellerrand hinauszublicken. Die große Ausnahme stellt die CD mit Beth Levin dar, welche die Hammerklaviersonate B-Dur op. 106 in einer Liveaufnahme präsentiert.

Ein Werk wie die Hammerklaviersonate in unserer heutigen Zeit als Liveaufnahme herausgeben zu wollen, wirkt beinahe wie Irrsinn. Denn wie soll man dieses Mammutwerk mit einer Länge von etwa 45 Minuten und gespickt mit technischen wie musikalischen Hürden durchgehend auf reproduktionswürdigem Niveau bewältigen? – Oder sollten wir es umgekehrt sehen: Muss man es sogar auf eben diese Weise aus einem Guss entstehen lassen, um Geschlossenheit zu erreichen und gesamtmusikalischen Sinn zu entfalten?

Beth Levin zeigt sich vom ersten Ton an als eine der eigenständigsten, temperamentvollsten und souveränsten Pianistinnen unserer Zeit. Sie hat eine eigene Stimme am Klavier und bleibt stets sie selbst, so kann man sie beim Hören unmittelbar identifizieren – und dies ist heute mehr als außergewöhnlich. Levin durchdringt die Musik intellektuell wie menschlich, fokussiert sich dabei auf die Einmaligkeit der Darbietung und des Erlebens der Musik. Sie gibt die Musik nicht wieder als Nacherzählung oder als Berichterstattung, sondern – selbst vollständig involviert – als im Moment passierendes, unwiederbringbares, und auf diese Weise atemberaubendes Geschehen. Sofern es dabei nötig ist, greift sie in den Notentext ein; doch ist keine der Abänderungen willkürlich, sondern dient nur der Stimmigkeit und Gesamtheit der Darbietung. Jede Note sprüht vor Innbrunst und Lebendigkeit, von persönlicher Aussage. Technik, Fingerfertigkeit und Virtuosität stehen dabei im Hintergrund, sind lediglich nötige (wenngleich perfekt gelenkte) Transportmittel für den Ausdruck.

Auf ein impulsives Werk wie die Hammerklaviersonate projiziert, offenbaren sich ganz neue Facetten und Aspekte dieses Meisterwerks, die sich einer Beschreibung entziehen und nur hörbar verstanden werden können. Unvorstellbare Magie verströmt vor allem der Adagiosatz, in dem wir teilweise vollständig das Gefühl von Zeit und Raum wie den Boden unter unseren Füßen verlieren und nur getragen werden durch den fragilen Duktus der Musik. „Verweile doch, du bist so schön“, Mephisto hätte Faust nur diesen Satz vorzuspielen brauchen – doch schon ist die Musik fortprozessiert und der Moment vergangen, was hier wie kaum woanders für eine gewisse mitschwingende Melancholie verantwortlich ist.

Nicht weniger nehmen die raschen Sätze gefangen. Die Randsätze packen durch impulsive Akzente, wild aufbäumende und doch im Zaum gehaltene Klangkaskaden und herbe Kontraste, die Beth Levin fein austariert und bis an die Grenzen spannt, nie jedoch darüber hinaus. Fast zu kurz erscheint dagegen das kleine Scherzo, doch eben in der Flüchtigkeit liegt der Witz und Beth Levin triumphiert über diese Wirkung des allzu Vergänglichen.

Komplettiert wird das Programm durch zwei konträre Werke anderer Epochen: Händels d-Moll-Suite und Eliassons Disegno Nr. 3 mit dem Titel „Carosello“. Die d-Moll-Suite wirkt ganz schlicht, klar und offen, Levin spielt die Musik des unterrepräsentierten Bach-Zeitgenossen in tiefster Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Weit weniger stürmisch als bei Beethoven zaubert sie so einen gänzlich anderen Glanz auf die für das Cembalo konzipierte Musik, sonor und doch zerbrechlich in ihrer Zartheit. Bei Eliasson zeigt Beth Levin unerhörtes Gespür für Harmonik: der 2013 verstorbene schwedische Komponist schuf ein ganz eigenes Tonalitätsmodell, undurchdringbar komplex und nicht intellektuell zu verstehen – wohl aber musikalisch zu durchdringen, wie hier bewiesen wird. Und tatsächlich wird die Partitur beim Hören plötzlich verständlich und wie ganz selbstverständlich folgen wir dem Lauf der harmonischen Strukturen. Mit vollendet verfeinertem Anschlag holt Beth Levin auch die dezentesten Zwischentöne aus den Tasten hervor, farbenreich und vielseitig. Die Gesamtheit des Stücks hat sie stets im Sinn und so geleitet sie uns sicher durch die vielen Verstrickungen jedes dieser Stücke, so dass wir sie hinreißend in Gänze erleben.

[Oliver Fraenzke, Januar 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (1): Über magische Anziehung – Rainer Aschemeiers Gedanken zum Streichtrio op. 3

2020 jährt sich Ludwig van Beethovens Geburtstag zum 250. Mal. Bekanntlich ist nur das Datum seiner Taufe, der 17. Dezember 1770, gesichert; geboren wurde er wahrscheinlich am Tag zuvor. Zur zeitlichen Festlegung eines Gedenkjahres bieten sich mehrere Möglichkeiten. Orientiert man sich an der bloßen Jahreszahl ohne Rücksicht auf Monat und Tag, so stellen wir fest, dass mit dem Jahrestag von Beethovens Geburt das Gedenkjahr bereits beinahe vorbei wäre, fast als hätte man es mit dem 249. Geburtstag des Meisters beginnen und mit dem 250. enden lassen. Gehen wir also – auch angesichts der beklagenswerten Zustände des Jahres 2020 und in Hoffnung auf ein besseres 2021 – den anderen Weg, und nehmen wir die runde Wiederkehr des Tages, an welchem die Existenz Ludwig van Beethovens erstmalig beurkundet wurde, zum Anlass, das Gedenkjahr beginnen zu lassen. Das heute beginnende Beethoven-Jahr 2020/21 begeht The New Listener mit der Veröffentlichung eines „Kleinen Beethoven-Vademecums“. In loser Folge werden unter dieser Rubrik Essays und Rezensionen erscheinen, die sich als persönliche Wegweiser der jeweiligen Autoren durch Beethovens Schaffen, die Aufnahmen seiner Werke oder die Literatur zu Leben und Werk verstehen.

Im ersten Beitrag hat unser Gastautor Rainer Aschemeier das Wort, um von dem Zauber zu berichten, mit dem ein bestimmtes Werk Beethovens ihn seit der ersten Begegnung in seinen Bann schlägt: das Streichtrio Es-Dur op. 3. Rainer Aschemeier begann seine berufliche Laufbahn beim Verlag Bibliographisches Institut und F.A. Brockhaus, wo er als promovierter Geograph das Weltatlasprogramm mitgestaltete. Er wechselte zur Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG), wo er bis 2011 die Lektorate Geo-, Natur- und Musikwissenschaft leitete. Nach einer Phase der Selbstständigkeit, in der er für viele namhafte Buchverlage (u.a. Springer Science/Spektrum, Brockhaus, DUDEN, Tessloff, Dorling Kindersley usw.) arbeitete und musikjournalistisch als Autor und Rezensent u.a. für die Magazine Crescendo, Applaus und concerti sowie für das Feuilleton des „Mannheimer Morgen“ tätig war, wechselte er zum Musikvertrieb NAXOS Deutschland GmbH, wo er von Januar 2015 an für mehr als fünf Jahre die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortete. Seit März 2020 ist Rainer Aschemeier Inhaber seiner eigenen PR-Agentur klassik21. (d. Red.)

Es gibt Kunstwerke, die werden umso rätselhafter, je mehr man versucht, sie zu ergründen. Beispiele hierfür gibt es in allen Kunstgattungen, und natürlich auch in der Musik. Es handelt sich dabei um Werke, die neben einer perfekten kompositorischen Umsetzung eine ganz bestimmte, magische Ausstrahlung entwickeln, wenn sie auf gewissenhafte und empathische Interpreten treffen. Eine Ausstrahlung, die ins Innerste vorzudringen vermag und die verständlich macht, warum so viele Menschen Musik als „Schlüssel zur Seele“ wahrnehmen.

Zugegeben, solche Ausführungen sind heute unmodern. In unserer Zeit, in der wir es gewohnt sind, nur an das zu glauben, was sich greifen (und somit begreifen), belegen und vermessen lässt, erliegen wir der Illusion, dass es uns weiterbringt, wenn wir komplexe Phänomene auf ihre Datenbasis reduzieren. Wir erliegen der Illusion, dass wir dadurch dem Verständnis dieser Phänomene irgendwie näherkommen, und es scheint eine Vorgabe geworden zu sein, dass allzu menschliche Regungen wie Gefühle, Begeisterung, aber auch Zweifel und Verunsicherung nicht in diesen Kosmos der Durchdringung des Unbegreiflichen gehören.

Für mich gibt einige, es sind vielleicht eigentlich nur zwei, drei Handvoll Werke der sogenannten klassischen Musik, die mich wie magisch immer wieder anziehen, die mich förmlich zu rufen scheinen. Bei jenen Werken, wo ich glücklich genug war, sie schon in der Kindheit zum ersten Mal hören zu dürfen, geschah dies nicht selten vom ersten Augenblick an. Doch dieser „Effekt“ ist nicht vergänglich. Auch heute noch passiert es mir – trotz der Repertoireflut, in der ich mich professionell bewege –, dass ich auf musikalische Werke stoße, die gleich beim ersten Hören etwas in mir zum resonieren bringen, gegen das ich mich nicht wehren kann. Das Werk „ruft“ mich, und dies, so bin ich mir sicher, wird bis zu meinem eigenen physischen Ende nicht nachlassen.

Wenn dies eintritt, bin ich nach anfänglicher, fast naiver Begeisterung erst einmal ganz verwirrt: Was genau „ruft“ mich da? Was spricht da aus diesem Werk zu mir? Was gibt es da zu entdecken?

Natürlich führt dann der erste Schritt meist zur musikwissenschaftlichen Fachliteratur. Man möchte Umstände, Zeit und Struktur der Komposition besser kennenlernen. Doch ebenso wenig, wie es eine Gedichtinterpretation vermag, den Zauber eines Hölderlin-Gedichts zu erklären, gelingt es mir, anhand musikwissenschaftlicher Texte dem Zauber von Musik näherzukommen.

Es ist dann, als bekäme ich den Bauplan des Taj Mahal in die Hand und würde nun anhand dieses Bauplans das Gebäude genau studieren dürfen. Natürlich wäre das ein Gewinn, und so ist es auch, wenn man den architektonischen Aufbau eines Musikstücks kennenlernt eigentlich immer. Doch letztendlich wäre ich trotzdem dem „Zauber“ nicht nähergekommen.

Solch ein Stück ist für mich das – in erschütternder Bescheidenheit – „Divertimento“ getaufte Streichtrio in Es-Dur KV563 von Wolfgang Amadeus Mozart. Es gehört zu seinen reifen Kompositionen im Umfeld der letzten drei Sinfonien und darf getrost als einer der höchsten Gipfel der Kammermusik betrachtet werden. Mozart erkannte vielleicht, dass seine Zeitgenossen das Werk kaum wertschätzen, geschweige denn verstehen würden, und er verschenkte es an seinen Freund und Hauptgläubiger Puchberg. So kam das bedeutende Werk einige Jahre nicht ans Licht und wurde erst ein Jahr nach Mozarts Tod 1792 gedruckt.

Noch in jenem Jahr muss nach aktueller Forschungslage der damals 22-jährige Ludwig van Beethoven auf das Werk gestoßen sein, und es muss wohl auch ihn „gerufen“ haben. Es ließ ihm offenbar keine Ruhe. In relativ kurzer zeitlicher Abfolge komponierte Beethoven, beginnend wohl noch in Bonn, nicht weniger als fünf Streichtrios, von denen er eines (Op. 8) vielleicht in direkter Anlehnung an Mozart „Serenade“ benannte.

Von den nachfolgenden Generationen wurden diese Streichtrios höchstens noch am Rande wahrgenommen. In der Rückschau sehen wir eben zuerst die höchsten Gipfel der „musikalischen Achttausender“, die berühmten Sinfonien, die Klavierkonzerte, das Violinkonzert, die späten Streichquartette die berühmten Klaviersonaten, den „Fidelio“ und all die anderen großen Werke, die Beethoven zum bedeutendsten Komponisten seiner Generation gemacht haben.

Doch im Abendlicht, wenn die Sonne schräg steht, dann glänzt da am Horizont von Beethovens Jugend ein Gipfel besonders hell zwischen all den Zinnen der späten Meisterwerke: Es ist das allererste Streichtrio, das der junge Beethoven schrieb. Es steht – ebenso wie Mozarts Meisterwerk – in Es-Dur und trägt die Opuszahl 3.

Es ist eines jener Werke, die mich sofort gepackt haben, als ich es das erste Mal hörte. Ich erinnere mich, dass ich das Stück auf CD kennenlernte. Als Student mit notorisch klammem Geldbeutel griff ich zu einer Aufnahme, die ich damals als „Gelegenheit“ wahrnahm: Sämtliche Beethoven-Streichtrios zum Minipreis beim Label „Brilliant Classics“ in der Einspielung des „The Zurich String Trio“, bestehend aus Boris Livschitz, Zvi Livschitz und Mikael Hakhnazarian. Es sollte sich als einer der besten Käufe in meiner Laufbahn als Sammler erweisen. Ich habe danach noch viele Aufnahmen dieses Stücks gehört, auch mit den vermeintlich „ganz großen“ Namen der Szene, doch bis heute vermag es nur die Aufnahme des „Zurich String Trio“ mich so in den Bann zu ziehen wie damals, als ich das Stück zum ersten Mal hörte.

Ich würde mir nie herausnehmen wollen, den größten Komponisten seiner Epoche psychologisieren zu können, doch mein Eindruck war stets: Wir erleben hier angesichts des übergroß erscheinenden Vorbilds Mozarts einen sozusagen verunsicherten, vortastenden Beethoven, der doch – vielleicht sogar nicht einmal besonders bewusst – gleich mit seinem ersten „Wurf“ in der Gattung alles richtig gemacht hat. Insbesondere die ersten beiden Sätze des Stücks sind unbedingt auf Augenhöhe mit Mozart und vermögen es, Mozarts unvergleichlichem Meisterwerk nicht nur etwas Ebenbürtiges zur Seite zu stellen, sondern in mancher Hinsicht noch einen „draufzusetzen“. Für die beiden Menuette in Beethovens Op. 3 haben die Musikwissenschaftler meist nur Floskeln übrig wie „konventionell“, „klassisch“, usw. Und natürlich: von der Architektur her sind beide – abgesehen vielleicht von dem seltsam „stotternden“ Duktus des dritten Satzes – nicht sonderlich außergewöhnlich. Sie sind aber wichtig für das gesamte Werk, stehen genau da, wo sie sollen und machen das Meisterwerk zum „Gesamtkunstwerk“. Zudem verbindet Beethoven hier Welten, die zu seiner Zeit unvereinbar schienen: Das erste Menuett folgt eindeutig einem höfischen Vorbild, während das zweite Menuett eher ein derber Ländler ist, und mit einem Mittelteil daherkommt, der durch seine Bordunbässe so klingt, als würde ein Dorf-Fiedler in Begleitung einer Drehleier aufspielen. Dies ist übrigens nicht die einzige Stelle in Beethovens Op. 3, an der das gewisse „Dudelsack-Feeling“ aufkommt. Schon im ersten Satz gibt es atemberaubend schöne Stellen mit Bordunbegleitung.

Zwischen diesen beiden Tanzsätzen wirkt das sehnsuchtsvolle Adagio wie eine romantische Szene am Rande festlichen Trubels. Es ist dies der Satz, der fast zu schön wirkt. Die Kantabilität seines beinahe aristokratisch anmutenden Hauptthemas verleitet viele Interpreten, auch das Zurich String Trio, zum Einsatz von reichlich emotionalisierendem Vibrato. Doch die romantische Innigkeit, die bei unbedachter Darbietung leicht ins biedermeierliche abrutschen könnte, beinhaltet auch eine schmerzvolle Seite. Und mehr als einmal fällt die vorbildlich „wienerklassische“ Musik aus dem Rahmen und dann ist es – in bester Mozart-Manier – wie ein völlig unvermittelter Stich ins Herz, der in nur einem kurzen Augenblick das ganze Leid der Welt zu transportieren scheint.

Im Finale greift Beethoven die tänzerische Stimmung des zweiten Menuetts auf und führt jeden Interpreten dieser Musik anhand eines zunächst vermeintlich harmlosen Hauptthemas durch etliche Virtuositäten und spieltechnische Hürden – ein „Kehraus“-Finale, wie es im Buche steht! Man kann sich selbst auf CD den Publikumsapplaus vorstellen, der dieser Tour de Force folgen müsste.

Und so bin ich zuletzt doch selbst der Versuchung unterlegen, Musik zu beschreiben, die ich selbst nicht im Ansatz verstehe, die ich wohl auch nie letztendlich verstehen werde. Es ist ein weiterer, zum Scheitern verurteilter Versuch der Annäherung an Musik, die mich einfach nicht loslässt und die mir immer wieder neu und interessant vorkommt, die das Kunststück fertigbringt, dass man sich in ihr selbst gespiegelt fühlt, auch wenn das natürlich anmaßend ist – doch wehren kann ich mich dagegen trotzdem nicht.

Im Jahr von Beethovens 250. Geburtstag hätte ich mir gewünscht, dass gerade die weniger bekannten Facetten dieses unzweifelhaft genialen Komponisten einmal etwas stärker in den Fokus gerückt würden. Nach meinem Eindruck hatte das in zurückliegenden „Jubiläumsjahren“ für manche Komponisten sehr gut funktioniert, am besten vielleicht zuletzt bei Mozart, Schumann und Mahler. Die Mehrzahl der bisherigen Beiträge zum „Beethoven-Jahr“ waren bis auf wenige Ausnahmen aber geprägt von recht offensichtlichen Ansätzen und vielen Redundanzen.

Es gab nur wenige Interpreten (wie z.B. Boris Giltburg, Hanna Shibayeva oder Sophie-Mayuko Vetter), die sich wirklich getraut haben, sich mit ihrer ganzen, eigenen Persönlichkeit in den Dienst des Beethoven-Jahrs zu stellen und vor allem auch mitzuteilen, welcher kreative, vor allem aber auch emotionale Prozess mit einer solchen konzentrierten Beschäftigung mit einem Komponisten im Jahr seines 250. Geburtstags einhergeht.

Es liegt deshalb an jedem selbst, Beethoven immer wieder neu zu entdecken und sich nicht darauf zu verlassen, was zu einem Jubiläumsjahr präsentiert wird. Musik ist frei. Es muss nicht gegessen werden, was auf den Tisch kommt! Die Diskografie ist im Falle Beethovens so reich wie bei kaum einem anderen Komponisten. Man kann sich sehr gut sein eigenes Süppchen daraus kochen.

[Rainer Aschemeier, Dezember 2020]