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Langer Atem und Polyphonie im Kornspeicher

Der Kornspeicher der Dorfmühle in Lehrberg

Am 28. August 2021 spielte das Streichorchester Symphonia Momentum unter Leitung von Christoph Schlüren im Kornspeicher des Hotels Dorfmühle in Lehrberg die Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bitten, den von Lucian Beschiu für Streicher gesetzten Schlussteil der Motette Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, und das Streichquintett F-Dur von Anton Bruckner als Streichersymphonie.

Mit dem Kornspeicher der ehemaligen Dorfmühle, deren Gebäude nunmehr das Hotel Dorfmühle beherbergen, verfügt Lehrberg, ein Markt in Mittelfranken nahe Ansbach, über eine Spielstätte besonderer Art. Der mit einer Orgel ausgerüstete Konzertsaal dient seit seiner Einweihung im Jahr 2017 als Veranstaltungsort der Lehrberger Mühlenkonzerte, in deren Rahmen es bereits zu einer stattlichen Anzahl an Aufführungen von Chor-, Orgel-, Kammer- und auch Orchestermusik gekommen ist. Die Ereignisse des Jahres 2020 hatten zu einer vorübergehenden Unterbrechung der erfolgreichen Reihe geführt, sodass im Kornspeicher insgesamt 20 Monate lang keine Konzerte stattfinden konnten. Nicht nur aus diesem Grund konnte man höchst gespannt sein auf das Konzert, das die erzwungene Stille am 28. August 2021 beendete und damit hoffentlich den Auftakt zu einem neuen Kontinuum musikalischer Veranstaltungen in Lehrberg gegeben hat.

Das 19-köpfige Streichorchester Symphonia Momentum (fünf erste und vier zweite Violinen, je drei erste und zweite Bratschen, drei Violoncelli und eine Kontrabassistin, die die ihr zugeteilten Stellen profund stützte) brachte unter der Leitung seines Gründers Christoph Schlüren drei Kompositionen zur Aufführung, die nicht nur verschiedenen Epochen angehören, sondern auch ursprünglich verschiedenen Besetzungen zugedacht waren: Die 1823 begonnene und nach dem ersten Satz nicht weiterführte Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll des 14-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, die den Abend eröffnete, wurde als einziges Werk des Programms original für Streichorchester komponiert. Mit Reinhard Schwarz-Schillings Bitten folgte ein Stück instrumental ausgeführter Vokalmusik: Es handelt sich um den Schlussteil der A-cappella-Motette Über die Schwelle op. 76 aus dem Jahr 1975, den der Komponist Lucian Beschiu der Streicherliteratur hinzugewonnenen hat. Das weitaus umfangreichste Stück bildete den Abschluss: Anton Bruckners Streichquintett F-Dur von 1879 war in chorischer Aufführung zu hören, und damit als zweite Streichsymphonie in diesem Konzert. Diese Werke mögen zeitlich weit auseinanderliegen – Mendelssohns Symphoniesatz entstand im Jahr vor Bruckners Geburt, Bruckners Quintett ein knappes Jahrhundert vor Schwarz-Schillings Motette –, und in ganz verschiedenen Schaffensphasen der jeweiligen Komponisten entstanden sein – ein Jugendwerk steht den Kompositionen eines 55- und eines 71-Jährigen gegenüber –, dennoch kam in dieser Vortragsfolge das ihnen Gemeinsame, sie miteinander Verbindende außerordentlich deutlich zum Ausdruck, während das, was sie historisch-stilistisch voneinander trennen mag, in den Hintergrund trat. Neben der formalen Abrundung, der Natürlichkeit, mit welcher sich die Verläufe der Stücke entfalten, als könnte es nicht anders sein, haben sie vor allem den fünfstimmigen Satz als Grundlage gemeinsam. Alle drei Werke entfalten die in ihnen niedergelegten musikalischen Gedanken in meisterhafter Polyphonie.

Dieses Zusammenwirken voneinander unabhängiger Stimmen hörbar zu machen, ist Christoph Schlüren der rechte Mann. Die Konzerte, die er in den letzten Jahren gegeben hat, sind sämtlich Feste der Polyphonie gewesen. Wie sehr er sich in die Struktur der Werke vertieft hat, zeigte sich in Lehrberg nicht nur an den Aufführungen selbst, sondern auch bei dem Einführungsvortrag, den er vor dem Konzert hielt. Mit knappen, auf den Punkt gebrachten Sätzen umriss er die Thematik des polyphonen Hörens im Allgemeinen und ging dann auf die besonderen Merkmale der Kompositionen ein, wobei ihm zur Verdeutlichung des Gesagten die Stimmführer der Orchestergruppen zur Seite standen.

Polyphonie ist melodische Musik, entwickelt sich aus der Linie heraus. Im Konzert zeigte sich, wie intensiv sie erlebbar wird, wenn die Melodielinien nach den ihnen innewohnenden tonalen Verhältnissen entwickelt und gut artikuliert vorgetragen werden. Die Einleitung des Mendelssohnsschen Symphoniesatzes bereitete angemessen darauf vor: Da hörte man nicht ein bloßes Hintereinander punktierter Motive, sondern einen großen melodischen Verlauf, der kontinuierlich Spannung aufstaute, welche sich dann blitzartig im ersten Thema des Allegros in Bewegungsenergie verwandelte. In der damit beginnenden Doppelfuge, deren Ereignisfolge wesentliche Eigenschaften eines Sonatensatzes aufweist – eine völlig organische Verschmelzung klassischer und barocker Formungsprinzipien gelingt dem jugendlichen Komponisten hier! –, hörte man jeden Einsatz der Themen genau. Alle Stimmen verstanden sich darauf, deutlich das Wort zu ergreifen, wenn es verlangt wurde, und vereinten sich zu einem veritablen kontrapunktischen Sturmwind. Die Themenkombinationen wurden in ihrer Eigenschaft als Momente gesteigerter Aktivität trefflich erfasst, was gerade dem Schlussteil des Satzes zugutekam. Der Energie, mit der das Orchester zu Werke ging, entsprach seine Fertigkeit im Spiel. Die Brillanz, mit der die Musiker Mendelssohns rasantes Allegro meisterten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem höchsten technischen Ansprüchen genügenden Klangkörper zu tun hatte.

Schwarz-Schillings Motettensatz evoziert mit seinen subdominantischen Harmoniefolgen eine Stimmung der Introspektion und Rückschau. Aus dieser entsteht gleichsam ein vorbarocker Stil auf Grundlage einer dem frühen 20. Jahrhundert entstammenden Harmonik. Die Musiker lösten in dieser sehr ruhig und verhalten vorzutragenden Musik die Aufgabe, auf ihren Instrumenten zu „singen“ und einen vollen Chorklang zu erzeugen, aus welchem keine Stimme über Gebühr heraussticht, durchweg überzeugend.

Bruckners Streichquintett teilt mit den Symphonien seines Komponisten die expansive Anlage und weitgehend auch den formalen Grundriss. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass alle Themen des Quintetts aus dem Geiste der Streichinstrumente erfunden sind. Besonders fällt dies im Kopfsatz auf, dem lyrischsten und zartesten, den Bruckner geschrieben hat, und seinem einzigen, der im Dreiertakt steht. Nichtsdestoweniger verzichtet der Komponist auch in diesem Werk nicht auf großangelegte Steigerungen, lautstarke Höhepunkte und abrupte Wechsel zwischen forte und piano, sprich: auf prägende Stilmittel seiner symphonischen Tonsprache. Eine Darbietung des Quintetts als Symphonie für Streichorchester liegt nicht zuletzt deshalb nahe. Mit rund einer Stunde war Schlürens Aufführung die längste, die ich je von dem Werke hörte, aber sie war auch die spannungsreichste. Der Dirigent nahm sich die Zeit, die zahlreichen Schönheiten des Werkes präzise herauszuarbeiten. Das kontrapunktische Miteinander, namentlich Bruckners bevorzugtes Tonsatzmodell mit einer tragenden Stimme als Hintergrund, um die sich die anderen Stimmen ranken, wurde in all seinen Varianten erlebbar gemacht. Dabei behielt Schlüren immer den Überblick über den Verlauf der Musik, war sich an jeder Stelle sicher, wie er diesen Moment als Teil des Gesamtgeschehens darzustellen habe – eine Sicherheit, die sich hörbar auf die Musiker übertrug und ihnen ermöglichte, stimmige Rubati auszuführen, in denen der Grundpuls der Musik bei aller Freiheit im Tempo noch vernehmbar nachklang. So entfalteten die Violinen und Bratschen wunderbar ihre breit gezogenen, durch den Raum schwebenden Achtelfolgen zu Beginn der Durchführung im ersten Satz und führten in der ähnlich gestalteten Rückleitung zur Reprise ebenso sicher wieder ins Hauptzeitmaß zurück. Schlürens umsichtige Tempogestaltung kam besonders dem Finale zu gute, dessen Anfang und Schluss eine selten zu hörende melodische Geschlossenheit ausstrahlten und nicht, wie leider in zu vielen Aufführungen, übereilt wirkten – lebhaft bewegt muss nicht gehetzt heißen. Die ungewöhnliche Bogenform des Satzes erfasste Schlüren als ein allmähliches Vordringen zum Kern, nämlich dem wuchtigen Fugato in der Mitte, nach dessen beruhigtem Abklingen die Musik in umgekehrter Reihenfolge zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Der gleiche Prozess einer Intensivierung mit anschließender Entspannung wurde im Scherzo deutlich gemacht, das sich ebenfalls in seiner Mitte verlangsamt. Zum Höhepunkt des ganzen Konzerts geriet das Adagio des Quintetts, das sich voll innerer Ruhe in großen Bögen entfaltete. Der Beschaffenheit dieser Bögen konnten die Zuhörer bis in die kleinsten Phrasen nachspüren: Man hörte genau, wie die Melodien die metrischen Schwerpunkte berührten, sich von ihnen lösten und sich sammelten, um auf die jeweils nächsten zuzusteuern. Der wahre Takt dieser Musik wurde vernehmlich: nicht das metronomische Klopfen, wohl aber das musikalische Atmen.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Ideales Musizieren

Zwölf Jahre lang hat Lavard Skou Larsen als Chefdirigent die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein geleitet und in dieser Zeit aus einem Klangkörper auf gutem Regionalniveau ein Weltklasseorchester geformt. Nun dirigierte Skou Larsen sein letztes Konzert als Chefdirigent im Neusser Zeughaus mit Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre, dem Violinkonzert von Robert Schumann mit der britischen Solistin Priya Mitchell, der Uraufführung eines kleinen Streicherwerks des hochbegabten jungen rumänischen Komponisten Lucian Beschiu und der Symphonie in h-moll D 759, der ‚Unvollendeten’, von Franz Schubert.

Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre ist eines der heikelsten Werke der gesamten Orchesterliteratur, und nicht zufällig ist sie neben der Fledermaus-Ouvertüre von Johann Strauß jr. DAS Standardstück bei Probedirigaten. Lavard Skou Larsen ließ die langsame Einleitung sehr geschmeidig und mit verhaltener Kraft erstehen, der Allegro-Hauptsatz kam mit einer unglaublich fesselnden Mischung von prickelnder Brillanz, Leichtig- und Wendigkeit, erdverbundener Kraft und artikulatorisch so unvorhersehbarer wie unwiderstehlich bezwingender Eleganz zur Entfaltung. Das Stück entstand wie aus einem Guss unter Herausarbeitung all der Mannigfaltigkeit der Details, und auch nur der Anflug eines Gefühls für physikalische Länge konnte sich bei dem durchgehenden Spannungsbogen nicht einstellen. Die ganze Musik schien in einem einzigen Moment zu entstehen und ihren Bau zu errichten. So kann und sollte Mozart sein, und doch frage ich mich, wann ich ihn so gehört habe – auch übrigens, was die Auffächerung der überwältigend sinnlichen Farbenpracht betrifft. Das Stück allein hätte gereicht, um die Hörer, die nach einem tieferen Sinn in der Musik suchen, glücklich zu entlassen. Doch es ging natürlich weiter…

Das Violinkonzert von 1853 ist Robert Schumanns letztes großes Orchesterwerk, und der gravitätische Allegro-Kopfsatz gehört zum Überwältigendsten, was der bald darauf geistiger Umnachtung anheimgefallene Komponist an Symphonischem zu Papier brachte. Priya Mitchell fasst das Konzert sehr frei auf, im Agogischen insgesamt dann doch zu frei, wodurch sich eine durchtragende Spannung nicht einstellen kann und den Reizen unterschiedlicher Momente sehr eigentümlichen Ausdruckswillens geopfert wird. Freilich hatte ihr Spiel vor allem im äußerst zart realisierten langsamen Satz unbestreitbaren Zauber. Im Finale konnte von restloser technischer Beherrschung nicht die Rede sein, doch das ging auch schon berühmteren Solisten so bei diesem in der Schreibweise für die Geige extrem sperrigen und angesichts der gelegentlich halsbrecherischen Schwierigkeiten auch etwas undankbaren Konzert. Hier muss durch innere Substanz wettgemacht werden, was an äußerem Glanz nicht zu erzielen ist, und dafür braucht es nicht nur Poesie, sondern vor allem auch die Vision und Kraft zur Umsetzung des Ganzen. Und da wäre dann zu wünschen, dass die Solistin bei ihren Extravaganzen nicht nur ihre Stimme im Auge hätte, sondern auch das orchestrale Geflecht mit seiner herrlich durchbrochenen Polyphonie. Dass dies nicht wirklich durchgehend entstehen konnte, lag an den vielen Haken, die sie schlug, und bei denen ihr Lavard Skou Larsen und seine Truppe mit schier unfassbarer Behändigkeit folgte wie eine Raubkatze, die ihre Beute in jedem Moment fassen könnte – mit der Einschränkung, dass diese Katze sich hier als Beschützerin erweist, die die Solistin auch im extremen Pianissimo durchklingen lässt.

Nach der Pause kam das Lento rubato für Streichorchester des 1986 geborenen Rumänen Lucian Beschiu zur Uraufführung. Er hätte für sein im Kern und in allen Nuancen so zauberhaftes wie eigenständiges Werk keine liebevolleren und souveräneren Ausführenden finden können als die Deutsche Kammerakademie mit ihren Solisten Sebastian Casleanu (Violine), Danka Nikolic (Bratsche) und Milan Vrsajkov (Cello) unter der mit seinen Musikern zu vollendeter Einheit verschmelzenden Leitung Skou Larsens. Was für eine Musik schreibt Beschiu? Seine Harmonik hat ihren absolut unverkennbaren Eigenton, und sie bildet die Grundlage der ganzen Entfaltung melodischer Gestalten, rhythmisch-metrischer Finessen, feinsinnig kontrastierender Charaktere. Die Musik hat etwas wundervoll Schwereloses, Lichtes, Transparentes, Zerbrechliches und zugleich stets Fließendes, geradezu Engelhaftes, und sie spricht mit einem unschuldig beseelten Ton, als hätte sie es überhaupt nicht nötig, sich gegen die hochtrabende Konkurrenz zeitgenössischer Avantgarde und Populärklassik zu behaupten – etwa nach dem Motto: Macht ihr doch, was ihr wollt, ich bewege mich unsichtbar zwischen euren Mauern hindurch. Stilistisch könnte man Einflüsse von John Foulds zu erkennen meinen (in den raumgreifenden Quintparallelbewegungen und melodischen Spiegelungen, aber auch in der Luzidität des Tons und Ausdrucks überhaupt), und mancher mochte vielleicht an Ravel denken, vielleicht auch ein wenig an des Komponisten rumänische Heimat, deren Melancholie gegen Schluss ohne jede Wehleidigkeit für ein Tröpfchen mehr Dunkelheit sorgte, vielleicht sogar ein bisschen an Béla Bartók. Doch all das sagt eben nicht aus, wie die Musik von Beschiu ist – es mag höchstens als Orientierungshilfe dienen, um zu ahnen, ob sie einem gefallen könnte. Das Neusser Publikum war – wie auch das Orchester – restlos begeistert von dieser großen Überraschung, die statt imponierend auftrumpfen zu müssen ganz aus ihrer Tiefe der Substanz schöpft. Zweimal tritt der langsameren Grundbewegung eine Art walzernd beschleunigte Bewegung entgegen, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, und beim zweiten Mal erwirkt diese den Übergang in die Schlussphase. Wir können jedenfalls berichten, dass hier ein großer Komponist auf den Plan getreten ist, von dem – vielleicht ja gerade für die symphonische Gattung – noch ganz Großes erwarten dürfen.

Danach Schuberts Unvollendete, und hier möchte ich einfach nur sagen, dass sich eine großartigere Aufführung dieses so viel gespielten – und so oft unzulänglich langweilig oder überzogen schroff dargebotenen – Meisterwerks kaum vorstellen lässt. Mit innigster Gesanglichkeit umgarnten die lyrischen Themen, die dramatischen Umbrüche kamen mit einer elementaren Wucht so überraschend, dass es war, als erklänge die Musik zum ersten Mal. Also sozusagen noch eine Uraufführung, indem das scheinbar Bekannte so unvorhersehbar und dabei vollkommen logisch aus den innewohnenden Kräften entwickelt, das Ganze offenbarend entstand, dass einfach kein Platz war für den relativierenden Geist – denn: Egal, wie schnell oder langsam es gewesen sein mag, die Dimension der Zeit wurde aufgehoben, die Beteiligten gingen vollkommen im Dienst an der Musik Schuberts auf, die seelische Regionen eröffnet, von denen das heutige Musikleben in seiner Veräußerung in der Regel nicht einmal mehr träumt. Es sei nur am Rande erwähnt, dass das Orchesterspiel in allen Belangen auch von grandioser Makellosigkeit war, dass das klein besetzte Orchester einen ungeheuer dichten, runden Klang entfaltete, und dass die Soli von Oboe und Klarinette uns unmittelbar ins Reich reinsten Zaubers entführten, das nicht den Streichern allein vorbehalten war. So kann also auch heute musiziert werden, als stünde hier ein Furtwängler, Talich, de Sabata oder Celibidache.

Als Zugabe brachte Skou Larsen ein ‚Gebet’ von seinem brasilianischen Landsmann Alberto Nepomuceno (1864-1920), das einst sein gleichfalls dirigierender Vater für Streichorchester gesetzt hat: eine wehmütige Kantilene der Violinen wird vom Tutti-Pizzicato begleitet, und im Schlussklang vereinigt man sich zum arco. Schöner, edler, verinnerlichter, aber auch innerlich belebter kann man das nicht spielen. Danach stimmte das Orchester in den Applaus hinein Piazzolla an, Lavard Skou Larsen entwand dem exzellenten Konzertmeister spontan die Geige und ging noch einmal völlig in seinem Element auf. Diesen Mann wird man vermissen, und wir können nur mutmaßen, was ihn bewogen hat, nach zwölf so einmalig erfolgreichen Jahren die Deutsche Kammerakademie zu verlassen und sich anderen Aufgaben zuzuwenden. Er hat Neuss zu einem idealen Ort der Musik werden lassen, und das Publikum dankte es ihm und seinem wunderbaren Orchester mit auch bei entlegensten Programmen ausverkauftem Saal in den Abonnementkonzerten. Immerhin: zum Abschied sagte Skou Larsen mit schelmischem Seitenblick auf einen weltweit prominenten kalifornischen Gouverneur ‚Hasta la vista’…

[Annabelle Leskov, Mai 2017]

Verborgenes in ungeahntem Glanz

Am 5. März 2017 dirigiert Christoph Schlüren im Zeughaus Neuss die Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein mit den Aquarelles op. 43 von John Foulds, eine von ihm und Lucian Beschiu erstellte Streicherfassung von Anders Eliassons Klavierstück Carosello (Disegno no. 3) und Paul Büttners Streichersymphonie nach dem Streichquartett g-Moll. Zudem ist Beethovens drittes Klavierkonzert mit der Pianistin Beth Levin, die ihr Deutschland-Debut als Orchestersolistin gibt.

Es sind Namen, die nicht alltäglich auf den Programmen zu finden sind: John Foulds, Anders Eliasson und Paul Büttner. Gleich drei vergessene oder nie wirklich etablierte Komponisten aus unterschiedlichsten Traditionen und Epochen eint das heutige Programm im Zeughaus Neuss, zusammen mit dem deutschen Orchester-Debut der amerikanischen Pianistin Beth Levin, deren CDs allesamt selten erreichte Qualität repräsentieren, gleich vier Gründe für diese weite Reise von München aus. Es haben sich die richtigen Musiker gefunden für diesen Abend mit der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein, welche unter ihrem Chefdirigenten Lavard Skou Larsen bereits unzählige missachtete Komponisten auf die große Bühne gebracht haben (diese Saison unter anderem Bernard Stevens, Szymon Laks, Florent Schmitt, Nicolas Flagello und Peter Seabourne), und Christoph Schlüren, dessen zielgerichteter Einsatz für Randrepertoire eine beachtliche Zahl substanzieller Komponisten dem endgültigen Vergessen entreißt.

Nicht nur, dass diese Gegenströmung zu unserer heutigen Verengung des Konzertrepertoires auf immer weniger Standardwerke zu würdigen und zu unterstützen ist, nein auch die dahinter steckende musikalische Erschließung und die Qualität des Konzertvortrags sind überragend.

Die wahrscheinlich größte und erfolgreichste der bisherigen Entdeckungen Christoph Schlürens ist John Herbert Foulds, der um die Wende zum 20. Jahrhundert als Individualist wirkte und verschiedenste Einflüsse mit englischer Volksmusik und indischem Raga kombinierte. Eine Vielzahl an Aufführungen und Einspielungen von Foulds’ Musik sind Schlüren zu verdanken, ebenso die von Lucian Beschiu übernommene Urtextedition in einer bei der Musikproduktion Höflich München erschienene Edition von Foulds’ Werken. Das Programm beginnt mit seinen Aquarelles (Music-Pictures Group II) op. 32, die eigentlich für Streichquartett gesetzt sind. Sunny & Amiable (not frivolous) ist das erste der Stücke, „In Provence. Refrain Rococo“ überschrieben, ein aufgeweckt-heiterer Satz mit herrlicher Melodieführung und ausgewogenem Verhältnis an Gegenstimmen. „The Waters of Babylon“ von 1905 ist das Herzstück der Aquarelles, ein getragener Satz von unvorstellbarer Schönheit, gerade wenn die Wasserspiegelungen durch reflektierende Außenstimmen so bildhaft dargestellt werden, zwischen welchen die Mittelstimmen „not too clearly articulated“ rhythmisch entgegenwirken. In diesem Satz erscheinen auch Vierteltöne von unfehlbarer Wirkung, als würde der Boden wegfallen. Das Finale „Arden Glade. English Tune with Burden“ existiert auch in Klavierfassung, ein heiter springendes Stück, welches Schlüren später noch einmal als Zugabe dirigierte. Klare Tempovorstellungen und Bewusstsein über jede einzelne Stimme und deren Zusammenwirken prägen Dirigat und Spiel. Die Musiker haben Freude an der Musik und das ist unverkennbar, sie können selbst mit dieser nicht bekannten Musik sogleich mitreißen und überzeugen.

Mit leidenschaftlicher Inbrunst begegnet Beth Levin dem dritten Klavierkonzert Ludwig van Beethovens. Sie legt alles in ihren Part, körperlich, intellektuell und emotional ist sie voll beteiligt. Das klangliche Resultat ist überwältigend, selten wirkte Beethoven so unmittelbar, energiegeladen und leidenschaftlich wie am heutigen Tag. Im ersten Satz ist endlich auch einmal die linke Hand ein lebendiger und vollwertiger Widerpart, der zweite Satz ist von unerhörter Getragenheit und klanglicher Auskostung, und das Finale sprudelt so siegreich und enthusiastisch, dass es gar nicht unberührt lassen kann. Das Orchester hat die schwierige Aufgabe hierbei, in der kleinen Streicherbesetzung (die Streicherfassung ist von Vinzenz Lachner) dem großen Steinway standzuhalten und zudem die schwierige Raumakustik auszugleichen – was mit Bravour und einigen dynamischen (für den Hörer Gewinn bringenden) Tricks gelingt.

Als ein Musiker, der sich allen Schubladen und Einordnungen entzog, kann Anders Eliasson bezeichnet werden. Er schuf ein eigenes tonales System, wirkte nach einzigartigen Regeln und hörte auf die Töne selbst, denen er beim Komponieren folgte, sich als Persönlichkeit nach Möglichkeit heraushielt. So entstanden freie und doch stringente Formen im ständigen Fluss – wie er sagte: Musik sei wie H2O, fließend, das habe er „bei Bach“ gelernt. Ein ständiges Voranschreiten und Weiterentwickeln ist auch das Grundprinzip des Disegno no. 3 mit dem Titel Carosello, von Christoph Schlüren und Lucian Beschiu aus der Klavierfassung für Streicher gesetzt. Das Publikum ist für solch eigenwillige Musik erstaunlich aufmerksam und gespannt, nur wenige werden unruhig und eine Person verlässt für die letzten drei Minuten des Werks gar den Raum, eine unnötig störende Geste der Missachtung. Diesen Wenigen sei nachdrücklich geraten, wirklich aktiv zuzuhören und die weichgezeichneten Hörgewohnheiten zu überdenken, denn nur so lässt sich Neues, Ungewöhnliches entdecken. Eben solches wie Eliasson, dessen Harmoniefolgen von so überirdischer Durchschlagskraft sind, dessen Melodien eine ewige Metamorphose durchleben – dessen Musik einen Moment der Unaufmerksamkeit nicht verträgt, und die so tief- und abgründig ist, dass sie ihre Wirkung bei gutem Zuhören eigentlich überhaupt nicht verfehlen kann. Die Streicherfassung des komplexen Carosello wird kongenial aus der Taufe gehoben, die Einzelstimmen sind total aufeinander abgestimmt und der Fluss ist so natürlich und organisch, als wäre es eine Improvisation.

Zurück ins frühe 20. Jahrhundert führt Paul Büttner, der wichtigste Schüler von Felix Draeseke, noch mehr als sein Lehrer aus den Konzertprogrammen verschwunden. Die zu hörende Streicher-Symphonie (nach dem Streichquartett g-Moll) entstammt der Hochzeit des Komponisten, wenige Jahre zuvor entdeckte Arthur Nikisch – damals einer der angesehensten Dirigenten überhaupt – seine dritte Symphonie und Büttner „boomte“. Es entstand neben anderem die vierte Symphonie, die erste Violinsonate und eben besagtes Streichquartett von 1916, allesamt substanzielle Werke in profiliertestem Stil. Der Ruhm hielt nur kurz, spätestens durch die aufsteigenden Nationalsozialisten wurde er aufgrund seiner jüdischen Ehefrau Eva aus den Sälen verbannt. Das Streichquartett zeugt von einem ganz eigenen und unverkennbaren Stil, der sich in die Tradition von Beethoven, Schubert, Bruckner, Brahms, Draeseke, aber auch Strauss und vielleicht etwas Wagner und Mahler eingliedert. Spannend ist seine formale Anlage aus drei Hauptstücken, die durch zwei Zwischenspiele (im übrigen nicht weniger gekonnt oder inspiriert) getrennt werden. Ein ähnliches Prinzip nutzte Büttner später für die in seinen letzten Jahren im Versteck komponierte zweiten Violinsonate, zwischen deren vier Hauptsätzen sich zwei „Auseinandersetzungen“ einfügen. Nun darf das Orchester mehr noch als bei bei Beethoven unter Beweis stellen, auch symphonische Ausmaße formal zu überblicken und als Einheit darzustellen, was unter Christoph Schlüren mühelos gelingt. Die Korrelation der Phrasierung und der Dynamik ist einheitlich und schweißt zusammen, was zusammen gehört. Die Energie wird nicht frühzeitig überstrapaziert und bleibt auch nicht zu lange unten, sie folgt dem musikalischen Strom und passt sich diesem an. Von Willkür ist keine Spur und ebenso wenig von Verstaubtheit oder Trockenheit, die Musik wird aktualisiert und geschieht unmittelbar vor unseren Augen, als würde sie erst gerade entstehen. Unter den fließend weichen Bewegungen Christoph Schlürens, die aus der Körpermitte entspringen und sich in die Arme wie in Antennen fortsetzen, formt sich ein Klang von inniger Ruhe, Bewusstsein und Lebendigkeit – eine Liebeserklärung an die Musik.

[Oliver Fraenzke, März 2017]