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Totgesagte leben länger: Robert Simpsons Symphonien Nr. 5 & 6

Lyrita, SRCD 389 (Vertrieb: Naxos); EAN: 5 020926 038920

Dass die Symphonie tot sei, war sozusagen angesagte Losung einer ganzen Generation von Komponisten, Intendanten, Dirigenten und Musikkritikern. Eine der dümmsten Losungen aller Zeiten, und – so könnte man sagen – „Totgesagte leben länger“. Dieser Versuch der Geschichtsbeeinträchtigung seit Anfang der 1950er Jahre stammt zudem ausgerechnet aus einer Zeit, in welcher einige der größten Symphoniker unbeeindruckt von derartigem ideologischen Quatsch munter weitergewirkt haben – es sei aus der älteren Generation hier nur an Egon Wellesz, Lászlo Lajtha, Sergej Prokofieff, Darius Milhaud, Arthur Honegger, Havergal Brian, Max Butting, Hilding Rosenberg, Willem Pijper, Walter Piston, Roberto Gerhard, Paul Hindemith, Harald Sæverud, Alexander Tansman, Marcel Mihalovici, Alexander Tscherepnin, Carlos Chávez, Ernst Krenek oder Edmund Rubbra erinnert. Und dann natürlich der heute alles überragende Dmitri Schostakowitsch, umgeben von Meistern wie William Walton, Aram Chatschaturian, Eduard Tubin, Karl Amadeus Hartmann, Vittorio Giannini, Michael Tippett, Henk Badings, Sándor Veress, Vagn Holmboe, Daniel Jones, William Schuman oder Witold Lutoslawski. Die meisten werden das wenigste davon kennen, was sich freilich kontinuierlich verändert, denn die ideologischen Barrieren sind längst aufgeweicht. In den folgenden Generationen geht es unverändert so weiter, bis heute wird die Symphonie reich und substanziell gepflegt, wobei gewiss auch zu konstatieren ist, dass sich der Gattungsbegriff generell sehr erweitert hat. Hans Werner Henze, von den deutschen Fachidioten in ihrem geistigen Schrebergärtnertum immer wieder als „letzter Symphoniker“ tituliert (welche Peinlichkeit für die hiesige Musikwissenschaft!), war unter all den Symphonikern seiner Generation beispielsweise eher ein prätentiöser Zwerg, auch wenn er seine Symphonien teils sehr elefantenhäutig instrumentierte (Nr. 7 und 9). Und an dieser Stelle sei nur noch ein Blick auf die Spitze des Eisberges geworfen, also auf die Meister neben und nach Schostakowitsch, die mit einem vergleichbar umfangreichen symphonischen Œuvre hervorgetreten sind: der schwedische Einzelgänger Allan Pettersson mit 16, der sowjetisierte Pole Mieczyslaw Weinberg mit 22, der irophile Brite Robert Simpson mit 11, der St. Petersburger Russe Sergej Slonimsky mit 33 und heute der Finne Kalevi Aho mit bislang 17 Beiträgen.

Äußerster Pol des Unsentimentalen

Unter diesen Serientätern nimmt Robert Simpson (1921–1997) eine einzigartige Position ein. Ohne Umschweife kann man seine Musik als äußersten Pol des Unsentimentalen in der Musik des 20. Jahrhunderts definieren. Er hält sich mit keiner Stimmung, mit keinem Sentiment auf, und sei es noch so verzaubernd und verlockend, wie so oft in seinem Schaffen. Seit geraumer Zeit ist die Gesamteinspielung seiner Symphonien unter Vernon Handley (Hyperion) nicht mehr verfügbar, und daher ist es emphatisch zu begrüßen, dass nun doch noch in seinem Jubiläumsjahr 2021 – mit Unterstützung der Robert Simpson Society – bei Lyrita Records eine CD mit den BBC-Uraufführungsmitschnitten seiner Symphonien Nr. 5 (1972) und Nr. 6 (1977) erschienen ist – diese Werke stehen so ungefähr im zeitlichen Zentrum seines Lebenswerks und bestechen unmittelbar mit der enormen Spannweite des Ausdrucks zwischen harscher, strukturell strikter Offensivkraft und herrlichster lyrischer Introspektion, durchaus in maximalem Kontrastverhältnis zueinander ausgeführt. Dass Simpson sich stark von Haydn und Beethoven, von Bruckner und Carl Nielsen beeinflusst wusste, wird – ganz besonders im Falle Nielsen – hier schnell sinnfällig.

Universelle Gesetzmäßigkeiten

Exzellent ist hier vor allem die Aufführung der Fünften Symphonie durch das London Symphony Orchestra unter dem damals jungen, bis heute für hohe Qualität bürgenden Andrew Davis (1973). Die in einem 39 Minuten langen, durchgehenden Satz sich artikulierende Gesamtform wird von zwei mächtigen Allegrosätzen gerahmt, die das Zeug haben, das Erbe der Beethoven-Bruckner-Tradition in erneuerter Form weiterzutragen. In der Mitte finden wir ein knappes, unerbittlich treibendes Scherzo, und als langsame Zwischenspiele sind zwei intim verwobene Canoni eingefügt, die in scharfem Gegensatz zu den schnellen Sätzen stehen.

Die Aufführung der Sechsten Symphonie 1980 durch das London Philharmonic Orchestra unter Charles Groves ist, wie auch der Bookletautor bezugnehmend auf die Aussagen des Komponisten bestätigt, viel roher, al fresco. Das 33minütige Werk gliedert sich in zwei große Abteilungen und fesselt mit ungeheuerlichem Momentum. Und obwohl die Aufführung fern einer idealen Erfüllung bleibt, ist diese Aufnahme zumindest für all jene unverzichtbar, die bereits wissen, dass Simpson zu den größten Meistern des 20. Jahrhunderts zählt und es sich lohnt, alles von ihm zu haben: Denn es wird hier die Urfassung der Sechsten gespielt, und Simpson hat zum Beispiel den Anfang in der revidierten Fassung komplett geändert. Natürlich wird diese Musik nicht jedem gefallen – also weder den bequemlichen Traditionalisten, die auf Gefälligkeit Wert legen, noch den besserwisserisch belehrenden ideologischen Fanatikern des dystopischen Post-Holocaust-Bruchs mit jeglicher Tradition –, doch wer sich darauf einlässt, kann sich dem Sog kaum entziehen. Und wenn man das Gefühl hat, sich hier auf ein unerbittliches Rauhbein eingelassen zu haben, dann erlebt man umso überraschter, zu welch subtiler Zärtlichkeit Simpson in der Lage, sobald er die Musik in die ganz und gar ungegenständlichen Gefilde jenseits des forschen Drangs, des unaufhaltsamen Momentum wandern lässt – nicht weniger streng, aber dies ist dann ausschließlich die innere Disziplin, die er niemals vermissen lässt. Simpson liebte die Astronomie, und auch in der Musik vertraute er auf universelle Gesetzmäßigkeiten. Nachdrückliche Empfehlung!

[Christoph Schlüren, Dezember 2021]

Simon Rattles Wechselbad der Gefühle

(c) Stefanie Loos

Wie schon in den letzten drei Jahren blieb auch das Münchner räsonanz Stifterkonzert 2019 seinem Konzept treu, nicht allerneueste Kompositionen vorzustellen – daran herrscht ja in der Hauptreihe der musica viva kein Mangel –, sondern solche Werke, die in den vergangenen Jahrzehnten einen Status quasi „von Bedeutung“ erlangt haben und in München bislang nicht oder selten zu hören waren. Zum ersten Mal unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle war am 2.5.2019 das London Symphony Orchestra in der Philharmonie zu Gast – nicht zuletzt kam man damit der erwartungsgemäß hohen Kartennachfrage entgegen. Das Programm widmete sich drei Komponisten, für deren Werk sich Rattle von Beginn seiner Karriere an immer begeistern konnte: Mark-Anthony Turnage (*1960), Harrison Birtwistle (*1934) und John Adams (*1947).

Man kann ja über die Akustik der Philharmonie im Gasteig denken, was man will. Dass zumindest einige Gastdirigenten damit überhaupt nicht zurechtkommen konnten, ist hingegen eine Tatsache. Über die Jahre haben sich für mich einige Lieblingsplätze herauskristallisiert, von denen ich mir jedenfalls einbilde, dort ein einigermaßen durchsichtiges und „gerechtes“ Klangbild serviert zu bekommen. Meine Karte für Donnerstag führt mich allerdings just in einen Block, den ich bislang zum no go erklärt hätte. Und obwohl Sir Simon die Philharmonie lange gemieden hat, scheint er in diesem vom Münchner Publikum heißerwarteten Konzert keinerlei Probleme mit dem Raum zu haben. In der Pause machen allerdings auch einige Leute ihrem Ärger Luft, die sich mit der – verglichen mit den Münchner Philharmonikern – gänzlich anderen Aufstellung keineswegs anfreunden möchten und glauben, nur die Kontrabässe zu hören, deren Pulte sich bei Rattle direkt rechts entlang des Podiums reihen.

Musikalisch ist das Konzert dann ein wirkliches Highlight. Simon Rattle scheint es zu genießen, gleich drei höchst anspruchsvolle Werke von noch lebenden Komponisten präsentieren zu dürfen, die ihm offensichtlich sehr ans Herz gewachsen sind. Der jüngste, der Brite Mark-Anthony Turnage, dessen internationaler Durchbruch u.a. dem Erfolg seiner Kammeroper Greek bei der ersten Münchner Biennale 1988 zu verdanken ist, war unmittelbar danach vier Jahre lang Composer in Association beim City of Birmingham Symphony Orchestra – mit Rattle als Chefdirigent. Dort lernte er, auch mit einem großen Orchesterapparat virtuos umzugehen. Die ursprüngliche Version von Dispelling the Fears als Schlussnummer des großen Zyklus Blood on the Floor für Jazz Quartett und Ensemble steht allerdings deutlich klarer für Turnage-typische klangliche Eigenheiten als die dann doch etwas künstlich aufgeblähte Konzertfassung für zwei Trompeten und volles Symphonieorchester (1994-95). Die beiden Solisten Philip Cobb und Gábor Tarkövi bewältigen ihre bis zum halbwegs versöhnlichen Schluss antagonistisch angelegten Partien grandios, besonders das Spiel mit – scheinbar – unterschiedlichen Distanzen; wo’s jazzig wird, ist das wirklich berührend und erinnert an B. A. Zimmermanns Trompetenkonzert Nobody knows de trouble I see. Insgesamt ist aber schon dieses Werk eher ein Nachtstück, düster wie ein Film Noir, dessen unberechenbarer Untergrund jenseits von Gut und Böse von Rattle faszinierend zelebriert wird. Jeder noch so kleine Effekt „sitzt“ punktgenau und evoziert eine Klangwelt voller Empathie.

Ganz klar als langsames, immerhin halbstündiges Nocturne erweist sich Harrison Birtwistles The Shadow of Night (2001). Das Stück ist natürlich ungleich komplexer als Turnage, aber beim genauen Hinhören nicht unbedingt schwerer verständlich. Man trifft, ähnlich wie in Bartóks Nachtmusiken, auf eine Welt freier, scheinbar unkontrollierbarer Natur – auch hier mit eingestreuten Vogelrufen der Holzbläser –, die im Sinne von Melancholie der Seele Raum für Selbstreflexion gibt. Dabei bezieht sich der Komponist auf Motive bei Dowland, Dürer und Chapman. Rattles Dirigat bleibt immer sehr klar, präzise und energisch, aber zugleich von entwaffnender Lockerheit. Der dramaturgisch logische Aufbau der Riesenpartitur mit den für Altmeister Birtwistle so unverkennbaren Steigerungswellen und einzelnen instrumentalen Glanzlichtern – auch wieder oft die Trompeten –, wirkt minutiös geplant und erschließt sich musikalisch fast bruchlos. Die Homogenität des Streicherklangs der Londoner ist überragend, macht das Geschehen weicher und stimmungsvoller, als man es bei den ebenso vorhandenen, üblichen Härten Birtwistles erwarten möchte. Dieses Stück lässt den Rezipienten keine Sekunde los, die Anspannung geht an die Grenzen des Ertragbaren, wenn man die ganzen einmaligen, fein erarbeiteten klanglichen Finessen (Schlagzeug!) an sich heranlässt.

Dass dies Teile des Publikums – in diesem Konzert sitzen nicht nur die allseits bekannten Gesichter, auf die man bei den musica viva Orchesterkonzerten im Herkulessaal trifft – überfordert hat, die möglicherweise nur wegen Rattle gekommen sind, zeigt sich an den leicht gelichteten Reihen nach der Pause. Schade – denn gerade jetzt wird ein Stück dargeboten, das man ohne rot zu werden als „Orchesterkracher“ bezeichnen darf. John Adams‘ Harmonielehre bedient sich gnadenlos, aber auch mit unvergleichlicher Intelligenz in der Musikgeschichte. Schon hier (1985) bilden die der amerikanischen minimal music entlehnten Pattern eben doch weitaus geschickter und kunstvoller gestrickte klangliche Netze als bei Philip Glass & Co. Und sie sind auch nur ein Aspekt von Adams‘ Musik, die nicht nur ihrem typischen West-Coast-Klang frönt, sondern tatsächlich eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der freilich immer noch tonalen Harmonik ist – bis auf das auf den Kopf gestellte Zitat aus Mahlers Zehnter. Aber auch Wagner und Debussy tauchen in diesem Klangmeer auf, indem sowohl das Adams-erfahrene LSO wie auch das Publikum vierzig Minuten lang genüsslich baden darf. Und selbst von Schönberg, gegen den eigentlich der Titel polemisieren soll, hat Adams gelernt, wie man à la Gurrelieder Bläsergruppen homogenisiert. Auf das hochpräzise Zusammenspiel seines Orchesters – das schnell gefährlich ermüden kann – darf sich Rattle fast blind verlassen; seine Klangregie ist aber schon einmalig: Absolut zwingend, wie er die manchmal langsamen und stetigen wie auch die abrupten harmonischen Farbwechsel durch hochdifferenzierte Dynamik unterfüttert, den hyperaktiven Apparat im Fortissimo bis zur Extase hochpumpt, im Mittelsatz (The Amfortas Wound) zu tiefstem Ernst und schmerzlichem Aufschrei konzentrieren kann. Diesem Sog kann sich wirklich niemand im Saal entziehen: Der Schlussapplaus gerät zum Triumph für Sir Simon und sein Londoner Orchester, das sich bei diesem Münchner Konzert anscheinend sichtlich wohl fühlt.  

[Martin Blaumeiser, 5.5.2019]

Was Tschaikowski wünschte

Nimbus Records, NI 7104; EAN: 0 710357 710421

Tschaikowski Symphonien 5 & 6, Voyedova; London Symphony Orchestra, Yondani Butt (Leitung)

Auf zwei CDs spielt das London Symphony Orchestra unter Yondani Butt späte Orchesterwerke von Pjotr Tschaikowski: Die letzten beiden Symphonien e-Moll op. 64 und h-Moll op. 74, die „Pathétique“, sowie die symphonische Ballade Voyedova op. 78.

Nach neun Jahren Abwesenheit vom Dirigentenpodium kehrte Yondani Butt 2009 wieder zum London Symphony Orchestra zurück und hinterließ uns in den letzten fünf Jahren seines Lebens eine Reihe hochqualitativer Aufnahmen von Beethoven, Brahms, Schumann, Wagner, Tschaikowski und von französischer Musik. 2012 entstand vorliegende Einspielung von Tschaikowskis späten Orchesterwerken.

Yondani Butt dirigiert das London Symphony Orchestra gewissenhaft und nüchtern, er treibt nicht in Pathos davon, entzieht sich aber auch nicht der Gefühlswelt von Tschaikowski. Die Musik des Russen beschäftigt sich viel mit einfachen Emotionen, zutiefst menschlichen Gedanken und Empfindungen. Eben dies versucht Butt in seinem Spiel umzusetzen, verkünstelt die Linien entsprechend nicht durch willkürliche Rubati. Butt ist kein Romantiker, der in der Musik schwelgt, sondern ein Sachwalter, der die Klangwelt erfasst und umsetzt. Dies birgt den Nachteil, dass wir von den Aufnahmen keine übermäßig-genuinen Inspirationen erwarten können und nicht unentrinnbar gefesselt werden vom Strom der Musik – dafür aber sind die Aufnahmen auf durchweg hoher Qualität ohne Schwankungen. Darüber hinaus sind sie fein reflektiert, so dass sich alles auf dem richtigen Platz befindet. Präzise weiß Butt um die Gesetze von Spannung und Entspannung, kontrastiert und fügt zusammen, hält die langen Sätze formal zusammen. Es gibt absolut nichts, was im Fluss der Musik stört – die Musiker stellen sich in den Dienst des Komponisten und bilden sein Werk ab, wie er es in den Noten wünschte.

[Oliver Fraenzke, Juni 2018]

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Was soll man dazu noch sagen?

LSO Live, LSO0770; EAN: 8 22231 17702 9

Valery Gergiev dirigiert das London Symphony Orchestra live mit den ersten beiden Symphonien (den beiden ohne programmatischen Titel) von Alexander Scriabin. Die Solisten im Finale der an Beethovens Neunte angelehnten ersten Symphonie sind Ekaterina Sergeeva (Mezzo-Sopran) und Alexander Timchenko (Tenor), es singt der London Symphony Chorus.

Es gibt Aufnahmen, über die ließen sich Romane schreiben, es könnten seitenweise Kritikpunkte aufgelistet werden, es könnte die Musikalität und die feine Abstimmung ausführlich gelobt werden – und dann gibt es Aufnahmen, die verweigern sich geradezu einer schriftlichen Fixierung der gehörten Beobachtungen. Ein Paradebeispiel dessen ist die hier vorliegende Doppel-CD mit den ersten beiden, höchst ambitionierten Symphonien Scriabins mit Valery Gergiev und dem London Symphony Orchestra.

Es ist gerade heraus zu formulieren: Diese beiden Aufnahmen grenzen an absolute Perfektion. Das Orchester spielt mit selten zu hörender Reinheit und Sauberkeit, die Musiker sind bestens aufeinander abgestimmt und der entstehende Klang ist von feingliedrig luzider Durchsichtigkeit. Wenn nicht auf Lappalien wie eine gelegentlich etwas zu schwach vernehmbare Nebenstimme mit potentiell größerer Aussagekraft oder dem leicht verwaschenen Rhythmus im vierten Satz der ersten Symphonie (eigentlich keine Kleinigkeit, doch gibt es aktuell kein mir bekanntes A-Orchester, welches den rasend punktierten Rhythmus präziser spielen könnte) herumgeritten werden soll, lässt sich absolut nichts Negatives über diese Live(!)-Einspielungen sagen, die mit eindrucksvoller Klangkontrolle und uhrwerkhafter Präzision prunken. Die beiden Solisten Ekaterina Sergeeva und Alexander Timchenko passen sich vorzüglich in das instrumentale Gerüst ein und brillieren mit glasklarer und innerlich erfühlter Linienführung. Der Einsatz des Chores, hier des London Symphony Chorus, erregt immer wieder Gänsehaut, unweigerlich wird der Hörer erinnert an das grandiose Finale von Beethovens Neunter und gleichzeitig ist es solch eine transzendentale Welt, die mit allen Mitteln der beginnenden 20. Jahrhunderts erschaffen ist, dass eine unvergleichliche Symbiose entsteht, der man sich nur hingeben kann.

Und obgleich es definitiv eine der besten Aufnahmen dieser Symphonien auf dem Markt ist, bin ich nicht vollkommen glücklich mit ihr. Warum? Meine Antwort ist, dass die Aufnahme dermaßen perfekt einstudiert und kaltschnäuzig auf Brillanz getrimmt ist, dass ihr damit auch die Seele herausgeschnitten worden ist. Vor lauter Reinheit spricht mich dieser Scriabin nicht mehr an, die Musik hat ihre wendige und pathetische Aussagekraft verloren, steht nur mehr da wie ein prototypischer französischer Garten aus der Retorte, wunderschön und über alle Zweifel erhaben, und doch des Lebens beraubt.

Lediglich das grandiose Chorfinale der Ersten kann durch Eintreten der menschlichen Stimme auch die Menschlichkeit zurückholen, die zuvor und auch in der Zweiten hermetischer Vollendung makellos polierten Schönklangs als Selbstzweck geopfert wurde.

[Oliver Fraenzke, September 2016]