Violinwerke von Arvo Pärt stehen auf dem Programm dieser CD. Gemeinsam mit dem Estnischen Nationalsymphonieorchester unter Paavo Järvi spielt die Violinistin Viktoria Mullova Fratres (1991) ein, ebenso „Darf ich …“ für Violine, Röhrenglocken und Streicher (1995/1999), die Passacaglia (2003) und das Doppelkonzert Tabula Rasa (1977), wozu sie sich den Geiger Florian Donderer mit ans Boot holt. Zum Schluss hören wir noch „Spiegel im Spiegel“ für Violine und Klavier, letzteres gespielt von Liam Dunachie.
Heute zählt Arvo Pärt zu den beliebtesten und meistgespielten Komponisten der Gegenwart. Seine Musik fesselt den Hörer durch ihren meditativen und zutiefst spirituellen Fluss, in dem man sich schwerelos treiben lassen kann. Die Popularität Pärts ist zu einem guten Stück dem lettischen Geiger Guido Kremer zu verdanken, der sich früh die die Musik des Esten einsetzte.
Während der 70er-Jahre erforschte Pärt die mittelalterliche Kirchenmusik und fand heraus, dass es ausreiche, wenn nur eine einzige Note schön gespielt werde. Die Magie der Einfachheit bezauberte Pärt und er begann, die simpelsten Strukturen wie Dreiklänge oder besondere Tonalitäten durchzuexerzieren. Die einzelnen Noten oder Klangereignisse erschienen Pärt dabei wie Glocken, weshalb er den neuen Stil als Tintinnabuli-Stil bezeichnete. Die ersten Werke, die er Ende des Jahrzehnts in diesem Stil schrieb, strapazieren die Schlichtheit und Linearität noch bis an die Grenzen – oder sogar darüber hinaus. Eine entsprechende Gradwanderung stellt es für die Musiker dar, die hier zu hörenden Werke „Spiegel im Spiegel“ und „Tabula rasa“ auszufüllen. Es verlangt ungeheure Dichte des Spiels, Bewusstsein über jede noch so kleine Nuance und Schattierung. Das Estnische Nationalsymphonieorchester unter Paavo Järvi und Viktoria Mullova können die Spannung in Tabula rasa für lange Zeit halten, den ersten Satz bringen sie in eine nachvollziehbare Form und auch beim zwanzigminütigen „Silentium“, dem zweiten Satz, bleibt der Hörer lange Zeit gebannt. Doch ganz überbrücken können sie die Strecke nicht bis zum Schlusston, nach etwa drei Viertel verebbt die mitziehende Energie allmählich. Da „Spiegel im Spiegel“ im direkten Anschluss steht, fällt es dem Hörer schwer, sich noch einmal auf solch eine innig-meditative Reise einzulassen.
Die Grundidee des Tintinnabuli-Stils behielt Arvo Pärt bis heute bei, wenngleich er den Stil weiterentwickelte. Die Minimalisierung auf das Allereinfachste reichte nicht aus, auf Dauer den Hörer zu bannen; aus diesem Grund musste Pärt neue Wege finden, um einmal aufgespannte Klangräume nicht wieder einbrechen zu lassen. Pärt blieb dabei, seine Musik gemächlich schweben zu lassen und ihr einen spirituellen Duktus zu verleihen; doch er änderte die darin erscheinenden Phänomene. Er weitete den Ambitus aus und fragmentierte die Motive, die nun wie kleine Sterne in der Klanglandschaft aufleuchten. Tiefe Röhrenglocken, durchdringende Holzblöcke und strahlende Spitzentöne geben ein breites Spektrum an simplen, aber wirkungsvollen Effekten, welche über einem gleichförmigen Bordun zum Tragen kommen. Ein Glanzstück dieses erweiterten Stils hören wir mit „Fratres“. Auch in der Passacaglia und „Darf ich …“ bleibt das Prinzip unüberhörbar, wenngleich es noch mehr ausgeweitet wurde.
Diese Musik macht es Viktoria Mullova leichter, sich zu entfalten, aber auch von ihrer Seite spürt man größere Hingabe zu den späteren Werken Pärts. Fratres blüht auf als düsteres Seelengemälde, Mullova und das Estnische Nationalorchester unter Järvi verschmelzen zu einer Einheit, die bis zum letzten Ton hin fortträgt. Besondere Magie entfalten auch die beiden kleineren Stücke „Darf ich …“ und „Passacaglia“, denen die Musiker unzählige Feinheiten abringen und doch in dieser unendlichen Ruhe bleiben.
Schade finde ich, warum auf dem Cover nur Pärt, Mullova und Järvi genannt werden. Warum verschweigt man uns das Estnische Nationalorchester, den Geiger Florian Donderer und den Pianisten Liam Dunachie? Ohne die beiden Solisten und das Orchester hätte Mullova das Programm niemals so stimmig darbieten können. Und es ist keine Ausnahme, auf ihrer Prokofieff-CD verriet man uns nicht einmal ihren Geigenpartner Tedi Papavrami (Rezension auf The New Listener), der nun wirklich ein Name ist, den man auf ein Cover drucken sollte.
[Oliver Fraenzke, Dezember 2018]