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Damrosch entsteigt in Azusa der Mottenkiste

Leopold Damrosch
Symphonie A-Dur (1878)
Fest-Ouvertüre C-Dur (1871)
Franz Schubert/orchestr. Damrosch: Marche militaire D 733 Nr. 1

Toccata Classics TOCC 0261
ISBN: 5060113442611

Lucien0001

Diese Kritik schreibe ich nicht nur, weil die vorliegende Aufnahme wertvoll ist, sondern auch ganz bewusst geschärft als eine Art ‚Gegendarstellung’ zu einer peinlich überheblichen, freundlich vernichtenden Besprechung in einem viel gelesenen deutschen Klassik-Online-Magazin. Hier spielt ein Studentenorchester – das Azusa Pacific University Symphony Orchestra – unter dem so engagierten wie gewissenhaften und feinfühligen Dirigenten Christopher Russell, und natürlich können wir nicht die Studio-Perfektion internationaler Glanz-Klangkörper vom Schlage London Symphony oder Los Angeles Philharmonic erwarten – aber das erwarten wir auch nicht von einem gelungenen Konzert, und überhaupt erwarten wir das heute nur, weil Perfektion die einzige hörbare Messlatte für musikalische Ignoranten ist, die nichts von musikalischen Kriterien des Zusammenhangs verstehen. Und es ist unbedingt zu betonen, dass man hier zwar hin und wieder nicht ganz sauber ausgestimmte Akkorde hören kann, dass dies jedoch auf einem Niveau stattfindet, dem wir auch in vielen Livekonzerten renommierter Profiorchester begegnen. Also: Entwarnung an alle, die mein Vorgänger abgeschreckt hat – man kann es sich gut anhören, und mit immensem Gewinn und Vergnügen. Denn: hier spielt ein Orchester, das so intensiv an der Musik gearbeitet hat, dass man sofort merkt, dass alle Musiker das Stück kennen und sich nicht, wie ansonsten in Orchesteraufnahmen seltenen Repertoires üblich, im zufälligen Irgendwo eines Schaltplans befinden, dessen Funktionsweise ihnen unbekannt ist, sondern genau wissen und erleben, was dem, was sie gerade tun, vorausging und wohin es weiterführt.

Leopold Damrosch (1832-85), ein halbes Jahr vor Johannes Brahms geboren, ist Kennern vor allem bekannt als der Vater und Lehrer des Dirigenten Walter Damrosch (1862-1950), der 1885 mit dem Tod seines Vaters die Leitung der New York Symphony Society übernahm und bis 1928 innehatte. Die Musik Leopold Damroschs ist gekennzeichnet von vollendeter Beherrschung der Mittel in der Tradition der avancierteren Linie der klassizistischen deutschen Romantik, die einerseits wie Brahms von Beethoven und Schumann herkam und andererseits begierig die unwiderstehlichen Einflüsse von Berlioz, Liszt und Wagner in sich aufsog. Er war Geiger und hatte in Berlin bei Siegfried Wilhelm Dehn Komposition studiert. Außerdem promovierte er 1854 als Mediziner und trat dem Freimaurer-Orden bei, in welchem er später in den USA in prominenter Funktion wirkte. Dann spielte er unter Liszt in der Weimarer Großherzoglichen Kapelle. Ab 1858 wirkte er als Dirigent in Breslau. Obwohl wie auch Felix Draeseke zunächst neudeutsch revolutionär eingestellt, ist bei Damrosch als Komponist doch zusehends eine Fusion mit den gemäßigteren Elementen der Beethoven-Nachfolge festzustellen. 1872 ging er nach New York, wo er 1873 die Oratorio Society und 1878 die New York Symphony Society gründete.

Von Damrosch hat das im kalifornischen Azusa nordöstlich von Los Angeles ansässige Azusa Pacific University Symphony Orchestra unter seinem Leiter Christopher Russell 2014-15 folgende Werke für vorliegende CD bei Martin Andersons Raritäten-Fishing-Label Toccata Classics aufgenommen: eine Fest-Ouvertüre in C-Dur, die 1871 vor der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten entstand; die große, dreiviertelstündige Symphonie in A-Dur von 1878, also aus dem Gründungsjahr seines New Yorker Orchesters; und sein einst beliebtes Orchesterarrangement des ersten der drei bekannten Marches militaires op. 51 in D-Dur für Klavier zu vier Händen von Franz Schubert. In seinen Originalkompositionen zeigt Damrosch sich als souveräner Meister leuchtkräftiger Orchestration mit kontrapunktischem Geschick, harmonischer Gewandtheit und klarem Sinn für einprägsame Melodik und effektvolle Dramaturgie. Die Fest-Ouvertüre ist ein gelungener, wie der Titel nahelegt nicht allzu tiefgängiger Genre-Beitrag, der sich als Eröffnung anbietet. Damroschs Herzblut ist in seine große Symphonie eingeflossen, die er selbst nicht zur Aufführung brachte. Sie blieb in der Schublade liegen bis ins 21. Jahrhundert! 2005 wurde eine kritische Edition erstellt, und am 8. Februar 2015, nach mehr als 136 Jahren, spielten jene Musiker die Uraufführung, die das Werk an den folgenden Tagen aufnahmen und nun hier als Ersteinspielung vorstellen. Ein großer symphonischer Sonatensatz eröffnet die Symphonie mit einer langsamen Einleitung von evokativer Weite. An zweiter Stelle steht das Scherzo, das als Intermezzo scherzando betitelt ist: ein knapper Satz zackig herausfahrenden Charakters mit einem geschmeidigen Trio als Gegensatz, das noch einmal wiederkehrt. Zentrum der Symphonie ist eine grandiose Marcia solenne von machtvoll pathetischer Wirkung und extremen Gegensätzen, die auch die deutlichste Nähe zu den Neudeutschen herstellt. Es folgt ein flunkernd geschwindes Finale mit klaren Kontrasten, und gegen Ende kehrt die Einleitung des Kopfsatzes wieder und verleiht dem Werk die intendierte zyklische Wirkung, bevor es zum kraftvollen Ausklang kommt. Die nachfolgende Schubert-Bearbeitung eignet sich als Zugabe, ist allerdings bei aller handwerklichen Geschliffenheit weder originell noch besonders feinsinnig, aber es muss ja auch nicht alles, was geschürft wird, gleich Gold sein.
Das kalifornische Elite-Uni-Orchester gibt unter seinem offenkundig kompetenten und musikalischen Dirigenten alles, was in seiner Macht steht. Was man technisch nicht so gut kann wie professionelle Vereinigungen, die seit Generationen eine Tradition weiterreichen, die stets auch nicht nur ihre positiven Seiten hat, macht man keineswegs nur mit Engagement und Wagemut wett. Nein, hier spielt ein Orchester, das die Werke kennt und sich in langen Probenphasen mit ihrem Gehalt verbunden hat, das an die Größe dieser Musik glaubt und ihr eine Authentizität verleiht, die den Hörer ergreifen kann. So entsteht eine Folgerichtigkeit des Ablaufs, die in routinierten Aufnahmesessions, bei denen oftmals vom Blatt gelesen wird und keines der Werke je im Zusammenhang durchgespielt, geschweige denn auch nur ansatzweise auf eine zusammenhängende Wirkung hin geprobt wurde, niemals erreicht wird. Also: weniger Perfektion, aber viel mehr Sinn, Bezug und Verinnerlichung. So ähnlich könnte die Symphonie geklungen haben, wäre sie seinerzeit aufgeführt worden, denn damals waren die professionellen Orchester noch nicht so perfektioniert wie heute, aber sie spielten beseelter, zumal nur der Augenblick des Entstehens zählte, bevor die Wiederholbarkeit durch konservierte Aufnahmen ein anderes Zeitalter einleitete, dessen Errungenschaften neben dem informellen Gewinn für jedermann auch krasse Verluste mit sich brachte. Alleine der Symphonie wegen lohnt sich diese CD, wenn man lebendig entstehende Musik hören will und nicht nur steril poliertes Einerlei. Und eines vermittelt sich in dieser durchaus berührenden Aufführung: Damrosch war kein Originalgenie, jedoch durchaus ein hörenswerter Komponist, der das Bild der Zeit in wertvoller Weise ergänzt. Aus der Mottenkiste der Geschichte ist weiterhin immer wieder Bemerkenswertes zutage zu fördern. Wie heißt es im Kino: Pradikat wertvoll.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2016]