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Loops, Scherben und Whistleblower

Beim musica viva Konzert am 20. 12. 2024 im Münchner Herkulessaal war der Stargeiger Leonidas Kavakos zu Gast und spielte das 2. Violinkonzert „Scherben der Stille“ der diesjährigen Trägerin des Ernst von Siemens Musikpreises, Unsuk Chin. David Robertson leitete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks außerdem bei der Uraufführung von Bernhard Langs „GAME 18 Radio Loops“ und der deutschen Erstaufführung von Philippe Manourys „Anticipations“.

Leonidas Kavakos, Unsuk Chin, David Robertson, © BR-Astrid Ackermann

Nicht nur die Bühne im Herkulessaal stand – trotz einer nur 50er-Streicherbesetzung – mal wieder randvoll, vor allem mit einer breiten Palette an Schlaginstrumenten. Auch das Publikum war äußerst zahlreich erschienen, zudem sogar alle drei Komponisten des anspruchsvollen Programms, das vom amerikanischen „Neue Musik“-Experten und ehemaligen Boulez-Schüler David Robertson geleitet wurde.

Der Linzer Bernhard Lang (*1957) bezeichnete sich in der Einführung sogleich etwas ironisch, aber absolut zutreffend, als „Wiederholungstäter“. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat sich wohl kein Komponist so lange und intensiv mit dem Potential von Wiederholungen, gerade auch in Verbindung mit Live-Elektronik – Stichwort Loops – auseinandergesetzt. Lang verlangt für GAME 18 Radio Loops einen differenzierten Orchesterapparat aus praktisch individuellen Akteuren inklusive Synthesizer samt besonderer Lautsprecherinstallation in zwei Höhenebenen, großartig realisiert von Zoro Babel. Das Grundmaterial besteht – anlässlich des 75-jährigen Bestehens des BR – aus „Pausenzeichen“ (heute sagt man Jingles) nicht nur deutscher Rundfunkanstalten. Diese zerlegt Lang natürlich in seine atomaren Bestandteile, um daraus über etwa 40 Minuten eine faszinierend neue Klangwelt zu schaffen. Von den einzelnen Spielern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks erwartet der Komponist dabei in mehreren der – schon durch deutlich hörbare „Schnitte“ in der Beschallung – gut erkennbaren sieben Abschnitte ein Höchstmaß an Selbstverantwortung, da sie oft, wie aus einem Kartenspiel, das Material, das sie selbst konkret zum Klingen bringen wollen, quasi ziehen dürfen. Das knüpft – wenn auch mit viel weitgehenderer Freiheit – noch an die kontrollierte Aleatorik etwa Witold Lutosławskis an. Und so laufen längere Sequenzen völlig ohne Beteiligung des Dirigenten ab. Überraschend, dass das klangliche Ergebnis zwar undurchschaubar komplex, jedoch keinesfalls chaotisch wird, sondern – im Gegenteil – erstaunlich homogen. So gibt es eine durchaus witzig-groovige Passage, die nur vom Schlagwerk gestaltet wird; die Loops im Raum wandern teilweise in zwei gegenläufigen Kreisen rund um den Saal und erzeugen dann eine Art Weltraumatmosphäre usw. Im letzten Abschnitt generiert Lang u. a. naturnahe Geräusche. Da, wo Robertson eingreifen darf, gelingt ihm enorme Kontrolle. Der immer mit ausgesprochen freundlicher „Ansprache“ agierende Dirigent – schlagtechnisch sieht das bei Lang ähnlich „einfach“ aus wie bei Ligeti – kann trotz allem Klein-Klein in der Partitur vor allem präzise Charakterisierungen zustande bringen, die einfach Freude machen. Ganz am Schluss kommt dann – ausnahmsweise klar erkennbar – das BR-Sendezeichen, der Alte Peter. Große Zustimmung zu einem unerwartet kurzweiligen Werk.

Obwohl sie eigentlich „klassische“ Setups lieber meidet, hat sich die schon lange in Berlin lebende Koreanerin Unsuk Chin, Trägerin des diesjährigen Ernst von Siemens Musikpreises, gerade mit ihren Instrumentalkonzerten einen Namen gemacht. Ihr zweites Violinkonzert „Scherben der Stille“ – Anfang 2022 vom Widmungsträger und Solisten des Abends, Leonidas Kavakos, mit dem LSO unter Simon Rattle aus der Taufe gehoben – beginnt mit absichtsvoll brüchigen Flageoletts der Geige. Der praktisch über die gesamten 29 Minuten hochaktive Solopart steht in seinem technisch-musikalischen Anspruch fraglos auf dem Niveau des Berg- oder des großen Pettersson-Konzerts. Chin sieht das Stück als Porträt Kavakos‘, ihn sogar als „Hausherr“ des Geschehens, dessen Emotionalität dabei immer in einen Dialog mit dem Orchester tritt, dort durchaus nicht ohne Konflikte weiterentwickelt wird. Oft berückend schön sind die feinen, unaufdringlichen Schlagzeugfarben, aber etwa ebenso ein Zwischenspiel von vier Solo-Violinen des BRSO, das schließlich zu einem intensiven Flautando von Kavakos mit allen hohen Streichern führt. Robertson bleibt immer glasklar, ohne Mätzchen, kann jedoch, wo nötig, abrupt körperlich ganz energische Impulse geben. Das Orchester bewältigt alles mustergültig. Der unerwartet dramatische Schluss wirkt fast wie eine Erlösung von gewaltiger Anspannung. Dieses Konzert hat offenkundig das Zeug, zu einem Klassiker zu werden – langanhaltender Beifall und Bravos, insbesondere für die Komponistin.

Philippe Manourys (*1952) großbesetzte Anticipations (2019) wirken von Beginn an überwältigend: fasslich dichte, geradezu wuchtige Dramatik. Um es mit Hans Werner Henze zu sagen: wilder, schöner – allerdings weniger neuer – Klang. Wie Langs Live-Elektronik arbeitet Manoury geschickt mit gelenkter Aleatorik und dem Raum: Hier in Gestalt von zwei Bläsergruppen, die als „Whistleblower“ mit einem „Choral“ – als Gegenentwurf zum Geschehen auf der Bühne – von der Rückseite des Herkulessaals aus in mehreren Etappen das Podium entern und schließlich im Orchester zwar die angestammten Plätze einnehmen, aber ihre manipulativen Eingriffe fortsetzen. Das übrige Orchester muss sich damit auseinandersetzen: Das geht, bildlich gesprochen, von Verschmelzung über Konfrontation bis zu Ablehnung. Manoury kann hinreißend für Orchester schreiben: Trotz ungeheurer Intensität wird letztlich alles zu modernem „Schönklang“. Man staunt nicht schlecht, wie sein Schluss – ebenfalls mit einem Tam-Tam-Schlag, hier noch gefolgt von zaghaften Zuckungen der Streicher – dem von Chins Konzert ähnelt. David Robertson führt mit seiner Lockerheit und Konzentration das BRSO zu einem geradezu symbiotischen Musizieren. Alle Mitwirkenden und das Publikum sind anscheinend für derartige, fast konventionelle Formate, die für eine gelungene Realisation zwingend die Qualitäten eines Weltklasse-Klangkörpers benötigen, gleichzeitig dessen Höchstleistung noch zu beflügeln scheinen, sehr dankbar.

[Martin Blaumeiser, 22. Dezember 2024]

Uneitler, berührender Bruckner mit Herbert Blomstedt

Am Donnerstag, 12. 1. 2023 und Freitag, 13. 1. 2023, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Herbert Blomstedt Bruckners 4. Symphonie sowie Mendelssohns unverwüstliches Violinkonzert e-Moll mit dem Solisten Leonidas Kavakos. Unsere Rezension bezieht sich auf das Konzert vom Donnerstag.

© Astrid Ackermann für BR

Wenn ein Konzert mit dem nun 95-jährigen Herbert Blomstedt angesagt ist, haben wohl mittlerweile alle begriffen, dass dann musikalische Glanzleistungen zu erwarten sind und es um jedes verpasste Konzert mit diesem charismatischen Dirigenten wirklich schade wäre. Vor den Türen des Herkulessaals standen nach langer Zeit tatsächlich wieder etliche Leute an, die noch Karten für das offensichtlich ausverkaufte Event suchten. Trotzdem blieben im Saal ein paar Plätze frei, was am Ehesten der anhaltenden Erkältungswelle geschuldet sein dürfte.

Blomstedt, der nach einem unangenehmen Sturz im Sommer vorerst im Sitzen dirigieren muss, ist hellwach, wirkt in seiner präzisen Zeichengebung auch manuell fit wie ein Turnschuh und versetzt die Zuhörer mit seiner absolut überzeugenden Klangregie in atemloses Staunen. Bedeutsamer allerdings, wie souverän und intelligent er seine vortreffliche Agogik unmittelbar aufs Orchester überträgt – dies wird bereits bei Mendelssohns Violinkonzert e-Moll deutlich. Nur direkt zu Beginn herrscht bezüglich des Anfangstempos wenige Sekunden leichte Uneinigkeit zwischen ihm und dem wie immer fantastischen Solisten Leonidas Kavakos. Der agiert ebenso uneitel wie Blomstedt, stellt die zweifellos vorhandene Virtuosität überhaupt nicht heraus, sondern gestaltet insbesondere die lyrischen Stellen überlegen. So erklingt das Seitenthema des Kopfsatzes innigst, ohne übertriebene Geste, die Kantilene im zweiten Satz quasi unschuldig unsentimental: dies völlig glaubwürdig. Fast schon jenseitig gelingt ihm der zauberhafte Schluss vor dem überleitenden Allegretto non troppo. Den 3. Satz begleitet das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erneut mit perfekter Dynamik. Toll, wo die Streicher das kokette Thema des Solisten später mit breitem Strich unterfüttern. Blomstedt steuert neben der Präzision des Augenblicks jedoch immer gleichzeitig das große Ganze, sorgt für klare Strukturen und fortwährende Spannung der musikalischen Entwicklung. Nichts wirkt dabei erzwungen, behält eine umso mehr befreiende Leichtigkeit. Kavakos bedankt sich für den tosenden Applaus mit zwei Sätzen aus Bachs Solopartita h-Moll.

Bruckners Vierte dirigiert der schwedische Maestro auswendig; er kennt jedes Detail, zeigt genauestens selbst kleinste dynamische Schattierungen an, gibt alle wichtigen Einsätze und Impulse. Der Blick aufs Ganze ist hier absolut vonnöten, sollen die langen musikalischen Entwicklungsbögen nicht – wie leider bei allzu vielen Bruckner-Dirigenten – in akademisch sture Periodik zerfallen, wo das Publikum dann ab und an durch brachiale Blechorgien erschreckt wird. Blomstedt hat jedes Motiv als klanglich in sich bereits sinnhaftes Element mit dem Orchester genauestens erarbeitet. Wie phänomenal seine Proben ablaufen, hat das BRSO dankenswerterweise auf Youtube zugänglich gemacht – und mit der ergreifenden Aufführung der Romantischen ernten die Musiker nun die Früchte dieser Anstrengung. Man hört an keiner Stelle falsches Pathos, selbst die Fortissimo-Massierungen sind organisch und fein austariert. Vor allem versteht man endlich diejenigen Passagen, die schon vieles vom späteren „Naturlaut“ bei Mahler vorwegnehmen – vom geheimnisvollen Beginn der Ecksätze bis zu den gewaltigen Eruptionen, wo Motive mehrfach übereinander geschichtet werden: Alles strahlt Erhabenheit aus, wobei Blomstedts Tempi niemals zäh werden. Selbst die beiden Abschnitte im Andante, in denen sich eine Melodie sehnsüchtig und nicht enden wollend über einem Pizzicato-Teppich ausbreitet, wobei der Rezensent in anderen Darbietungen kaum ein Gähnen unterdrücken konnte, langweilen hier keine Sekunde.

Blomstedt beachtet durchaus Bruckners typische Terrassendynamik, gönnt ihr jedoch differenzierte Zwischenstufen, die fürs jeweilige musikalische Material optimiert sind. Verschleppen duldet er hingegen überhaupt nicht. Sehr bestimmt und dennoch flexibel im Tempo wird ständig die Spannung am Köcheln gehalten. Der Dirigent vertraut seinem Prinzip, Form über – äußerliche – Emotion zu stellen und gewinnt damit. Den Bläsersolisten – hier natürlich allen voran den Hörnern – gebührt mal wieder ein Extralob. An diesem Abend darf jeder sein besonderes „Schmankerl“ erfolgreich präsentieren. Und bei den großen Tutti-Höhepunkten fügen sich alle höchst aufrichtig zu einem riesigen, aber stets kultiviertem Organismus zusammen. Derart wirkungsvoll – gerade im grandiosen Finale – und zugleich unaufgeregt wie klangschön hat man die Romantische in München lange nicht mehr gehört: Herbert Blomstedt reiht sich damit völlig zu Recht in die Reihe geschätztester und äußerst erfahrener Bruckner-Interpreten wie Jochum, Wand oder Skrowaczewski ein. Hoffentlich bleibt uns dieser Dirigent noch einige Zeit erhalten. Seine Aura begeistert das Publikum im Herkulessaal auch diesmal wieder, so dass Standing Ovations für ein hinreißendes Konzerterlebnis eine Selbstverständlichkeit sind. Man merkt, wie Blomstedt – der auf dem Weg von und zum Podium ein wenig gestützt werden muss – gerne öfter auf- und abtreten würde, es aber bei einem Mal belässt. München freut sich auf ein baldiges Wiedersehen.

[Martin Blaumeiser, 15. Januar 2023]