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Mustergültiges Martin-Requiem mit Leif Segerstam

Capriccio C5454; EAN: 8 45221 05454 4

Vom immer noch stark unterschätzten Requiem des schweizerischen Komponisten Frank Martin gab es bislang lediglich zwei Aufnahmen aus Kirchen. Nun brachte Capriccio die immerhin schon 43 Jahre alte, musikalisch ganz vorzügliche Produktion des ORF mit Leif Segerstam aus dem Wiener Musikverein auf den Markt, gekoppelt mit Janáčeks ebenfalls selten zu hörendem „Vaterunser“.

Frank Martin (1890–1974), der gerne auch seine eigenen Werke dirigierte, gehörte bis zu seinem Tode durchaus zu den meistgespielten zeitgenössischen Komponisten in Europa. Leider teilt er mit etlichen anderen Kollegen das etwas unverständliche Schicksal, danach relativ schnell aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten zu sein – trotz des ungemein hohen Niveaus seines Schaffens. Als einer der wenigen Komponisten vermochte er, noch aus der Tradition der Spätromantik und des Impressionismus kommend, ein relativ stabiles harmonisches Fundament mit teils zwölftönigen Techniken in Einklang zu bringen. Die expressive Kraft von Martins Musik kommt vor allem in seinen Vokalwerken zum Tragen. Das 1971/72 entstandene Requiem hat der Komponist 1973 noch selbst in Lausanne zur Uraufführung gebracht (der Mitschnitt ist auf Jecklin nach wie vor erhältlich). Martin schreibt zu seinem Alterswerk: „Was ich hier versucht habe auszudrücken, ist der klare Wille, den Tod anzunehmen, den Frieden mit ihm zu machen.“ Mit relativ sparsamen Mitteln – etwa nur 2-faches Holz – wird dennoch ein eindrucksvolles Bekenntnis von enormer Energie abgelegt, das sich mühelos mit den bedeutendsten, dabei doppelt so langen Requiem-Vertonungen messen lassen kann.

Über Strecken dominiert – sowohl bei den Solisten wie im Chor – eine monodische Behandlung des Gesanges mit deutlichster Textverständlichkeit und empathischer Ausdeutung: Man höre nur den Beginn des Dies irae, wo nach dem bedrohlichen Einschleichen eines unheimlichen Schauders, der offensichtlich nicht von dieser Welt stammen soll (Schlagwerk plus Glissandi in Posaunen und Streichern), der Chor zunächst nur sprechend den „Tag des Zorns“ artikuliert; erst ab dem Tuba mirum bricht der Schrecken so richtig los. Dass Martin ebenfalls kontrapunktische Komplexität virtuos beherrscht, zeigt er uns im Kyrie. Ungewöhnlich, wie das abschließende Lux aeterna durchgehend im Fortissimo gehalten wird: alles in allem ein höchst persönliches Meisterwerk.

Die CD ist sicher als Hommage an den ehemaligen Chefdirigenten (1975–1982) des ORF Radio-Symphonieorchesters, Leif Segerstam, gedacht – dessen immer berstend zupackendes Musizieren sich auch hier wieder direkt auf die Zuhörer überträgt. Seine Solisten sind ausgezeichnet, neben der belgischen Altistin Ria Bollen, die schon bei der Uraufführung dabei war, vor allem ein stimmlich überzeugender Claes H. Ahnsjö und ein kraftvoller Robert Holl. Lediglich Jane Marsh neigt in der Höhe ein wenig zur Schärfe. Der Wiener Jeunesse Chor ist hochpräzise, aber letztlich zurückhaltender als die Kräfte aus Lausanne, die sich teils die Seele aus dem Leib zu singen scheinen. Die sorgfältig ausgearbeiteten Details erscheinen bei Segerstam und seinem Orchester mustergültig, was natürlich so nur im Konzertsaal gelingen mag. Deswegen ist für das Stück die neue CD ab jetzt musikalisch erste Wahl. Interessant, dass sich die Dirigenten aller drei nun verfügbaren Einspielungen bei der Tempowahl sehr einig sind und sich ziemlich exakt an die Vorgaben der Partitur halten. Aufnahmetechnisch übertrifft der Wiener Mitschnitt zwar nicht die für eine Kirche erstklassige Leistung von Jecklin aus der Kathedrale in Lausanne, ist jedoch um Klassen besser als einige leider – nur technisch! – recht misslungene Dokumente mit Segerstam von den Salzburger Festspielen. Klanglich bleibt für das Martin-Requiem allerdings die digitale Aufnahme aus der Kirche St. Georg, Stein am Rhein, unter Klaus Knall der Geheimtipp.

Leoš Janáčeks Vaterunser (Otčenáš) für Tenor, Chor, Orgel und Harfe von 1901/06 vertont nicht etwa das komplette Gebet, sondern bezieht sich auf fünf Gemälde des Polen Józef Męcina-Krzesz, die für eine Benefiz-Veranstaltung als „lebende Bilder“ umgesetzt wurden. Für Stammgäste der Wiener Staatsoper vielleicht nichts Neues – jedoch kennt man den Tenor Heinz Zednik auf Operngesamtaufnahmen fast ausschließlich im Charakterfach. Wie herrlich lyrisch er seine Stimme auch einsetzen konnte, beweist er hier (1987) geradezu exemplarisch. Allein deshalb sollte man diese gelungene Darbietung nicht missen.

Vergleichsaufnahmen (Martin): Capella Cantorum Konstanz, Collegium Vocale Zürich, Musicuria, Bläserensemble der Basel Sinfonietta – Klaus Knall (MGB CD 6183, 1999); Union Chorale et chœur de dames de Lausanne, Groupe vocal «Ars Laeta», Orchestre da la Suisse Romande – Frank Martin (Jecklin-Disco JD 631-2, 1973)

[Martin Blaumeiser, Juni 2022]

Rautavaara zum 90.

Ondine, ODE12362D

Anlässlich des 90. Geburtstags von Einojuhani Rautavaara gibt Ondine eine unschlagbar günstige Doppel-CD mit seiner Musik heraus: Auf der ersten finden wir das Harfenkonzert aus dem Jahr 2000 mit der Solistin Marielle Nordmann sowie die Achte Symphonie ‚The Journey‘ von 1999. Es spielt das Helsinki Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam. Die zweite CD gewährt uns Einblicke in die umfangreiche Aufnahmesammlung Ondines von Rautavaaras Musik: Zu hören sind einzelne Sätze aus verschiedenartigsten Werken des Komponisten, gespielt von namhaften und zu einem großen Teil exzellenten Musikern wie unter anderem Juha Kangas, Gunilla Süssmann, Pekka Kuusisto, Paavali Jumppanen und anderen.

Im Oktober diesen Jahres wäre Einojuhani Rautavaara 90 Jahre alt geworden. Er gilt als einer der beliebtesten und meistgespielten Komponisten der letzten Jahrzehnte, spätestens die Publikation seiner Siebten Symphonie bei Ondine verhalf seiner Musik international zu ungeahnter Anerkennung. Die Tonwelt Rautavaaras klingt stets originell, einzigartig und wird von unendlichem Forschergeist durchdrungen – er bemühte sich nicht, modern zu sein, sondern die Musik ist es von sich heraus. Als junger Komponist experimentierte er mit dem Serialismus und anderen neutönerischen Strömungen, wandte sich jedoch schon bald neuen Idiomen zu, welche die Gefühlwelt der Romantik in neuartige und ungewohnte Kleider hüllte – gerne ordnet man seinen Stil heute der sogenannten Postmoderne (ein unsinniges Wort, welches hoffentlich im Laufe der nächsten Jahrzehnte feiner ausdifferenziert wird!) zu, wobei das Erste Klavierkonzert (1969) als wegweisend für ganze Komponistengenerationen gilt.

Das finnische CD-Label Ondine bemühte sich früh, die Musik des Landsmannes zu verbreiten, was im Laufe der Zeit zu einem gewaltigen Aufnahmekatalog führte. Anlässlich des 90. Geburtstages gab das Label die Publikation mit der Achten Symphonie und dem Harfenkonzert erneut heraus und ergänzte sie um einen Sampler mit einigen der Highlights aus Rautavaaras Schaffen. Im aufwendig gestalteten Booklet findet sich neben zahlreichen Bildern des Komponisten der komplette Katalog mit Ondines Rautavaara-Einspielungen, zudem ein Geleitwort des Labels und Aussagen des Komponisten über die zu hörenden Werke.

Leif Segerstam ist die Klangwelt Rautavaaras wohl vertraut und er findet sich blendend zurecht in den eigenwilligen Formen des Landsmannes. Der große Aufbau im Kopfsatz des Symphonie nimmt er allmählich, aber dafür umso zwingender bis hin zum Höhepunkt. In manchen Passagen erscheint die Musik noch etwas zu materialistisch und nicht unwirklich genug, hier wäre ein gespenstischerer und schwebenderer Tonfall wünschenswert gewesen. Dennoch besticht Segerstam mit dem Philharmonischen Orchester Helsinki durch die innbrünstigen Gefühle zu dieser Musik und die nachvollziehbare Gestaltung. Noch mehr als die Symphonie kann das Harfenkonzert überzeugen, Marielle Nordmann bezaubert durch elegant-schlichtes Spiel und stimmt sich brillant auf das Orchester ein. Sie lässt die Emotionen nicht überschäumen, sondern hält sie stets in einem Grenzbereich, was unglaubliche Spannung erzeugt.

Die Aufnahmen des Samplers sind allesamt auf hohem Niveau, hervorzuheben seien in erster Linie die Titel mit dem phänomenalen Dirigenten Juha Kangas und seinem Ostrobothnian Chamber Orchestra sowie mit dem Duo Tetzlaff und Süssmann (Die Besprechung ihrer CD findet sich auf The New Listener).

[Oliver Fraenzke, November 2018]

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Nicht unterkühlt [Rezensionen im Vergleich]

FINNLANDS DIRIGENTEN – VESA SIRÉN
Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen

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SCOVENTA 2017; ISBN 978-3-942073-42-4

Ein dicker, fast 1000 Seiten umfassender Wälzer über Finnlands Dirigenten? Wer liest denn so was? Habe ich mich am Anfang auch gefragt, als ich das kiloschwere Werk in der Hand hielt… Aber nach kurzer Lektüre war das gar keine Frage mehr, eher: Wie kann man in der heutigen klassischen Musikwelt ohne die finnische „Übermacht“ an Dirigenten überhaupt so ein Buch nicht schreiben und dann eben auch nicht lesen. Denn dem Autor Vesa Sirén gelingt es nicht nur, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, nein, dieses dicke „Ding“ liest sich ausgesprochen gut und trotz aller Materialfülle erstaunlich flüssig und unterhaltend. Dazu tragen auch die vielen umfassenden Interviews und Statements sowohl der Dirigenten als auch der betroffenen Musiker bei, die dem Ganzen das Akademische oder Langweilige austreiben. Ob man einem, und welchem der vorgestellten Meisterdirigenten man nun den Vorzug gibt, ob den Älteren wie Kajanus, Sibelius oder Schnéevoigt oder den Jüngeren wie Salonen oder Saraste oder den noch Jüngeren wie Oramo, Lintu, Storgårds oder Mälkki, alle werden mit großer Ausführlichkeit und großem Sachverstand vorgestellt, kommen teilweise auch selbst zu Wort und geben dem ganzen Buch eine „undeutsche“ Leichtigkeit, die man sich bei Büchern dieser Art des Öfteren wünscht.

Wer also dem Thema der heute in aller Welt vertretenen finnischen Dirigenten nachspüren will, darüber hinaus einen tiefen Blick in die finnische Mentalität und Art des Vermittelns und Weitergebens erfahren will, der ist mit diesem dicken Buch bestens bedient. Und erfährt unter anderem, warum die Überlegenheit so sich entwickeln konnte, denn Finnland hat nicht allein das beste pädagogische System, was das Schulwesen angeht, wie alle Pisa-Studien seit Jahren zeigen, auch die Musik-Vermittlung ist allen anderen Ländern meilenweit voraus. Warum, diese Frage wird im Buch von Vesa Sirén genauestens beantwortet und zeigt auch, warum nicht nur finnische Dirigenten so begehrt sind: auch finnische Musiker – z. B. hier an deutschen Musikhochschulen – genießen als Lehrer und Musiker einen besonders guten Ruf.

Was läge also näher, als dieses umfassende Buch den entsprechenden Lesern dringend ans Herz zu legen, was hiermit geschehen ist.

[Ulrich Hermann, Juni 2017]

Standardwerk eines Musiktauben zum finnischen Dirigentenphänomen [Rezensionen im Vergleich]

Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen (finnische Erstausgabe von 2010 erweitert, gekürzt und aktualisiert vom Autor und übersetzt von Ritva Katajainen, Benjamin Schweizer und Roman Schatz)

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Scoventa Verlag, 2017; ISBN: 9783942073424

Nichts läge näher und mehr im musikalischen Trend der Zeit, als ein Buch über die Dirigenten (übrigens auch die Komponisten) Finnlands zu schreiben: ein Land mit ca. 5 Millionen Einwohnern produziert mittlerweile mehr international bedeutende Kapellmeister als Deutschland, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Italien zusammen. Das ist ein bisschen so, als kämen die alle aus dem Großraum Berlin oder Wien, aus Paris oder Rom… Vesa Sirén, alteingesessener Kritiker bei einer der beiden großen Tageszeitungen in Helsinki und lange schon auf den Fersen der Maestri, hat sich an die Aufgabe gewagt und ein hinsichtlich Informationsmenge und historischer Panoramasicht beeindruckendes Kompendium von fast 1.000 Seiten verfasst. Für alle, die durchblicken wollen beim finnischen Dirigentenphänomen, ist dies ein Standardwerk, und es ist zugleich für jedermann unterhaltsam und in vieler Hinsicht hochinteressant zu lesen. Geschrieben in laienhaft feuilletonistischer Manier, liegt die große Stärke des Buchs in der mühevoll zusammengetragenen Fülle von Originalzitaten, historischen Fakten, Kommentaren von Zeitzeugen (Dirigentenkollegen, Orchestermusiker, Kritiker), was äußerst wertvoll ist, und die biographischen Beschreibungen der Karrieren und Wechselwirkungen.

Also: das Buch lohnt die Anschaffung, wenn man Bescheid wissen und mitreden will, wenn man sich über einzelne Dirigentenpersönlichkeiten kundig machen will (höchst lesenswert sind z. B. die Kapitel über Kajanus, Sibelius, Schnéevoigt, Funtek, Berglund oder Segerstam). Doch zugleich ist es mit Skepsis, mit Vorsicht und Abstand zu lesen. Denn fortwährend beweist Sirén entwaffnend, dass er von Musik so gut wie gar nichts versteht. Peinliche Fehlurteile kommen stapelweise, und die amateurhaft-kompetenzgierige Argumentation bei der Besprechung von Aufnahmen und der Schilderung von Konzerteindrücken zeigt auf Schritt und Tritt, dass nur musikfremde Konventionalität und peinlich einengende Ideologien, Prominenz und das Absichern an vermeintlichem common sense die Grundlage der subjektiven Urteile bilden. Daher wird natürlich Esa-Pekka Salonen in peinlicher Weise vergöttert, und andere – wie Hannu Lintu oder gar John Storgårds – kommen ziemlich bis offenkundig schlecht weg. Dafür gibt es jede Menge Gossip, der Ton des Autors neigt zu verächtlicher Häme, wo der wahrscheinliche Rückschlag sich in Grenzen hält. Sirén ist ein Angeber und Feigling, und im Grunde versteht er wie viele Kritiker schlicht nicht die Grundlagen dessen, wovon er schwadroniert. Anscheinend mangelt es nicht nur hierzulande an verantwortungsbewusst kompetenten Kritikern! Dass John Storgårds’ bahnbrechende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien mit dem BBC Philharmonic in einem Satz als „Manchester-Tunke“ herabgewürdigt wird, schlägt dem Fass den Boden aus. Und ein weltweit unübertroffener Meister der Streichorchester-Kultivierung und Pionier substanziellen Repertoires wie Juha Kangas, der Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra, wird mit hauptstädtischer Ignoranz so nebensächlich und unspezifisch abgehandelt, dass man sich fragen muss, ob die finnischen Meinungsmacher überhaupt etwas von dem mitbekommen, was in ihrem Land abgeht. Das geht so weit, dass Kokkola auf der Karte der wichtigsten finnischen Musikstädte nicht auftaucht. Nein, Vesa Sirén ist entweder ein bösartig schwatzender Manipulateur oder einfach nur musiktaub, ahnungslos autoritätshörig und dumm. Der Kaiser ist nackt. Trotzdem, all dessen eingedenk, ist das Buch zwar oft sehr ärgerlich, aber doch höchst informativ zu lesen. Und es gibt (noch) keine Alternative zu dieser geschickt und flüssig formulierten Fleißarbeit. Und was er nicht beurteilt oder proportional entstellt, also was objektive Tatbestände betrifft, ist dieses schön und solide aufgemachte Buch jetzt die maßgebliche Quelle für den deutschen Leser.

Folgende Dirigenten werden behandelt: Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt, Armas Järnefelt, Leo Funtek, Toivo Haapanen, Martti Similä, Tauno Hannikainen, Simon Parmet, Nils-Eric Fougstedt, Jussi Jalas, Paavo Berglund, Jorma Panula, Ulf Söderblom, Leif Segerstam, Okko Kamu, Atso Almila, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Juha Kangas, Sakari Oramo, Mikko Franck, Pertti Pekkanen, Petri Sakari, Ari Rasilainen, Markus Lehtinen, Tuomas Ollila, Tuomas Hannikainen, Hannu Lintu, John Storgårds, Susanna Mälkki, Ralf Gothóni, Olli Mustonen, Jaakko Kuusisto, Pekka Kuusisto, Jari Hämäläinen, Ville Matvejeff, Boris Sirpo, Nikolai van der Pals, Miguel Gómez-Martinez, Muhai Tang, Jean-Jacques Kantorow, Sergiu Comissiona, Leonid Grin, Valery Gergiev, Pietari Inkinen, Dima Slobodeniouk, Santtu-Matias Rouvali

[Annabelle Leskov, Juni 2017]

Herrlicher Krach bis zum Vulkanausbruch

Ondine, LC 3572; EAN: 0761195121023

Normalerweise mache ich ja bei Klassik-Samplern einen Bogen um eine Rezension. Aber die Wiederveröffentlichung der schon legendären „Earquake“-CD (1997) beim finnischen Label Ondine – Untertitel: The Loudest Classical Music of All Time – darf man schon mit einer Besprechung feiern…

Zunächst einmal: Diese inhaltlich gegenüber der Erstveröffentlichung unveränderte CD ist ein Gag; vielleicht ein brauchbarer Party-Rausschmeißer à la „The Glory??? of the Human Voice“ (Florence Foster Jenkins) – mehr nicht. Und leider fehlt jetzt das entscheidende Gimmick; im transparenten Tray lagen seinerzeit zwei gelbe Ohrstöpsel – wohlgemerkt: for your neighbor! Für diese Aufnahme durfte ein äußerst körperbetont, aber immer präzise agierender Dirigent mal so richtig „die Sau rauslassen“. Der Finne Leif Segerstam ist nicht nur ein weltweit tätiger Orchesterdompteur, sondern komponiert nebenbei auch noch ein wenig: Seine Werkliste umfasst mittlerweile z.B. 309 (!) Symphonien; er ist da wohl der absolute Rekordhalter. Der Legende nach hat das mit Anfang zwanzig noch spindeldürre Nordlicht seinerzeit mit voller Absicht innerhalb kürzester Zeit 30 kg draufgepackt – nur um so auszusehen wie der dirigierende Johannes Brahms auf den berühmten Bleistiftzeichnungen. Und wenn ich den etwas korpulenten, aber höchst agilen Herrn mal live erleben durfte (ob mit Frau ohne Schatten an der Zürcher Oper oder Turangalîla in der Kölner Philharmonie), war ich immer von seinen mitreißenden Darbietungen begeistert. Auch hier mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra weiß Segerstam natürlich genau, wie er die hypertrophen Klangmassen selbst im allergrößten Krach zu bändigen hat, damit das Ganze noch irgendwie vernünftig ausbalanciert scheint.

Trotzdem: Was mich naturgemäß an diesem Sampler stört, ist nicht etwa die Vielzahl der Komponisten und Stile (alles 20. Jahrhundert), sondern dass hier nur Ausschnitte aus zum Teil deutlich umfangreicheren Werken zu Gehör gebracht werden; und in der Regel noch nicht einmal komplette Sätze, sondern tatsächlich nur eben die lauten Stellen – Häppchenkost nach Art von Klassik Radio. So wird dem Hörer die Sinnhaftigkeit solcher Passagen, also die Entwicklung, die überhaupt erst zu solch hemmungslosen Ausbrüchen führt, oft vorenthalten.

Das ist natürlich ein dann doch einseitiges Vergnügen. Neben den 13 echten „Krachern“ gibt es noch drei ruhige Stücke (Druckman, Segerstam und Rautavaara) als Kontrast. Gespielt wird zumeist auch rhythmisch sehr attraktive Musik, etwa der Lateinamerikaner Revueltas und Ginastera, dazu einiges aus Skandinavien (Rangström, Nielsen…), aber auch Lärm aus den USA oder Russland (Hanson, Bolcom, Prokofjew…). Als Höhepunkt am Schluss dann der vom Isländer Jón Leifs 1961 sensationell in Orchestersprache übersetzte große Vulkanausbruch der Hekla (1947/48) – dagegen war der Eyjafjallajökull 2010 nur ein Huster. Da wird innerhalb eines 140-Mann-Orchesters so fast alles aufgeboten, was das Schlagwerk zu bieten hat. Schlecht ist das magere Booklet, das selbst die Vornamen der Komponisten unterschlägt und auch sonst keinerlei Infos zu den Stücken – mit Ausnahme von Hekla – bereithält.

Der Anspruch, hier wirklich die lauteste klassische Musik aller Zeiten auf einer CD zu versammeln, wird allerdings verfehlt. Stücke wie Iannis Xenakis‘ Jonchaies, Leonardo Baladas Steel Symphony und einiges mehr, das bereits vor 1997 geschrieben war, sind lauter und aggressiver. Ganz zu schweigen von Dror Feiler – da halten sich einige Musiker des BR-Symphonieorchesters schon beim Erklingen nur des Namens die Ohren zu. Und warum hat man von Ginastera den Malambo aus Estancia ausgewählt, und nicht etwa die brachialen Stellen aus Popol Vuh? Sei’s drum – das hier eingespielte Repertoire reicht allemal, um gepflegt die Wände wackeln zu lassen und macht wirklich Spaß. Ein Paar Ohrstöpsel für die Nachbarn bereit zu halten, wäre dann aber gar keine so verkehrte Idee…

[Martin Blaumeiser, März 2017]

An den Rand gedrängte Bühnenwerke

NAXOS 8.573341; EAN: 7 47313 33417 9

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Nachdem bereits eine beachtliche Anzahl der Orchestermusik aus Bühnenwerken von Jean Sibelius in dieser Reihe erschienen ist, gilt nun die neueste Aufnahme von Leif Segerstam und dem Turku Philharmonic Orchestra Svanevit (Schwanenweiß) und Ödlan (Die Eidechse) sowie den beiden kurzen Melodramen Ett ensamt skispår (Eine einsame Skispur) und Grevinnans konterfej (Das Portrait der Gräfin).

Gegenüber den bekannten sieben großen Symphonien, der frühen Kullervo-Symphonie, den Lemminkäinen-Legenden, einer stattlichen Anzahl symphonischer Dichtungen, der Karelia-Musik, der Valse triste und dem omnipräsenten Violinkonzert des überragenden finnischen Komponisten Jean Sibelius sind unzählige weitere Werke für Orchester unbekannt geblieben. Unter ihnen auch die Bühnenmusiken, von denen – mit Ausnahme von Pelléas et Mélisande und besagter Valse triste aus Kuolema – keines hierzulande regelmäßig aufgeführt wird. Der finnische Dirigent, Komponist, Violinist und Pianist Leif Segerstam will dies nun mit einem groß angelegten Projekt für NAXOS ändern und hat bereits viele der selten gespielten Stücke mit neuesten Aufnahmestandards auf CD festgehalten. Nach unter anderem Kuolema, König Kristian II, Pelléas et Mélisande, Belsazars Gastmahl und Jedermann folgen nun Svanevit und Ödlan. Ersteres, Schwanenweiß, ist ein märchenhaftes, dem Symbolismus verschriebenes Schauspiel des wohl eigentümlichsten Autors der schwedischen Literaturgeschichte, August Strindberg, in welchem eine junge Prinzessin sich statt in den König, dem sie versprochen ist, in den als Boten gesandten Prinzen verliebt. Sibelius erhielt als junger Mann den Auftrag, zur Premiere eine Bühnenmusik zu schreiben, welche zusammen mit dem Schauspiel zur Uraufführung kam. Mikael Lybeck war der Verfasser des Schauspiels Ödlan, die Eidechse, in welchem ein Graf zwischen dem Guten in Person seiner Verlobten und dem Bösen in Form eines inneren Widersachers im Eidechsenanzug zu kämpfen hat, wobei alles recht unwirklich und traumhaft erscheint. Sibelius’ Musik zu den beiden literarischen Vorwürfen erscheint sehr divergierend: Für Svanevit schreibt er dreizehn kurze und eingängig-zarte Nummern sowie einen kurzen Hornruf und einen zweimalig erscheinenden an- und abschwellenden Akkord, der den Schwanenflug abbilden soll. Ödlan ist im Gegensatz dazu eine ziemlich düstere Musik, die in zwei ungleich lange Szenen unterteilt ist und suggestiv auf das Bühnengeschehen Bezug nimmt.

Der CD ist ein englischsprachiger Booklettext von Dominic Wells beigegeben, der einige wissenswerten Informationen über die beiden Schauspielmusiken mitteilt, dem ich allerdings inhaltlich in einigen Punkten nicht zustimmen würde und der auch erstaunlich nahe an die Strukturierung und Wortwahl der offiziellen Texte auf Sibelius.fi angelehnt ist.

Das Turku Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam hat bei Sibelius einen natürlichen Heimvorteil und spürbar viel Erfahrung mit der Musik seines großen Landsmannes. Oft lässt sich ein ganz eigener Klang feststellen, der einmalig die Gefühlslage dieser Stücke widerspiegelt und von kaum einem anderen Orchester so natürlich und unverfälscht zu erwarten wäre. Der Klangkörper weist einen vollen und robusten Ton auf, der mit Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit aufwarten kann. Es entsteht auf diese Art ein gewisses Gefühl von Wärme. Dynamisch hingegen wirkt bedauerlicherweise alles viel zu flächig gleich und streckenweise gar abwechslungslos und langwierig. Auf feine melodische und harmonische Veränderungen wird schlicht nicht eingegangen, wodurch der technische dem musikalischen Aspekt gegenüber gewichtiger bleibt. Im Allgemeinen überwiegt ein kräftiger und pathetischer Ton, der das Sangliche und Lyrische verdrängt – wie es vor allem im zarten, märchenhaften Svanevit deutlich wird. Und dies trotz durchgängig kleiner Besetzung in den Werken, in Ödlan (welches ursprünglich für nur neun Musiker geschrieben ist) und Grevinnans konterfej gar mit reiner Streicheraufstellung. Grund für all das ist wohl, dass Segerstam doch nach wie vor hauptsächlich auf Opulenz aus ist, und auf Quantität, wie sowohl im Komponieren von mittlerweile über 250 Symphonien als auch in Bezug auf die Anzahl seiner Einspielungen deutlich wird, durch die sein Name fast monatlich in den Neuheiten erscheint. Da bleibt selbstverständlich wenig Zeit, die Musik auch musikalisch minutiös mit einem Orchester einzustudieren, und so währt hohles Pathos mit Fixierung auf die Hauptstimme als Ausweg fort statt sorgfältiger Ausarbeitung der Unter- und Nebenstimmen sowie dynamischer und artikulatorischer Nuancen – die jedoch an sich erst das wahre musikalische Denken offenbaren würden.

Im Anschluss an die beiden Schauspielmusiken folgen noch zwei Miniatur-Melodramen: Ett ensamt skispår, Eine einsame Skispur, und Grevinnans konterfej, Das Portrait der Gräfin. Diese schwedischsprachigen Stimmungsbilder mit nur dezenter Dramatik in der feingliedrigen Musik sind für mich persönlich der Höhepunkt dieser CD. Sie sind von solch einer herrlichen, edlen Zurückhaltung geprägt und wirken doch so unmittelbar und frei, in größter Naturbelassenheit und Ausdruckskraft! Riho Eklundh erweist sich hierbei als ein gelassener Erzähler, der sich nicht zu übermäßig identifiziertem oder übertrieben akzentuierendem Erzählstil hinreißen lässt, dem aber diese Texte doch offenkundig aus der Seele sprechen. Tontechnisch ist er zwar ein klein bisschen zu präsent abgebildet vor dem hier erfreulicherweise ungewohnt lyrisch agierenden Instrumentalkörper, wobei dennoch die Orchesterstimmen gut durchhörbar bleiben.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016]

Der junge Wilde Finnlands

ODE 1270-2, ISBN: 0 761195 127025

Kuula_Cover

Mit Orchesterwerken Toivo Kuulas leistet das Philharmonische Orchester Turku, unter der Leitung von Leif Segerstam, einen Beitrag zur Pflege finnischer Komponisten. Gespielt werden dessen beiden Südosterbothnischen Suiten (Nr. 1, op. 9 und Nr. 2, Op. 20) sowie der Festmarsch Op. 13 und Preludium und Fuge Op. 10.

Jean Sibelius, der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiert, polarisiert bis heute Musiker und Musikwissenschaftler vor allem im deutschen Sprachraum, was seiner internationalen Reputation, ja Vergötterung als DER Komponist Finnlands nicht schadet, diese sogar gewissermaßen verstärkt. Umso erfreulicher und abwechslungsreicher ist es, wenn der Fokus hin und wieder dann auf dessen Zeitgenossen fällt und deren Talent Tribut zollt – wie zum Beispiel Toivo Kuula, einem viel zu früh abberufen Komponisten (1883 – 1918). Zu früh, da er im Zuge von likörseligen Feierlichkeiten zum Ende des finnischen Bürgerkrieges erschossen wurde – wie der solide, leider nur in Englisch und Finnisch verfasste Booklettext von Kimmo Korhonen verrät. Und Kuula war einer, der zweifelsohne großes Talent hatte.

Ein seinem Temperament entsprechendes, zugleich genrebedingt plakatives Beispiel ist der eröffnende Festmarsch Op. 13 (Juhlamarssi). Bereits hier erweist Kuula seinem Ruf als Melodiker und finnischer Patriot alle Ehre. Das beginnende C-Dur-Thema im Horn weist bereits auf ein fernes Idyll voraus, auf das man im Jahre 1910 noch flehentlich wartete (und das in seiner Motivik sicher nicht zufällig an die Alphornweise „Hoch auf´m Berg, tief im Tal grüß ich dich viel tausend Mal!“ im Schlusssatz von Brahms´ 1. Symphonie in c-Moll Op. 68 erinnert). Gekonnt spinnt der Komponist seinen dreiteiligen Hymnus weiter und spart dabei nicht mit direkten Perkussionseffekten, bei deren Lärm es der Phantasie des Hörers überlassen bleibt, ob man dahinter Schlachtsalven des Krieges oder Gewehrspaliere im Zuge der gewonnenen Freiheit heraushören soll. Nun wäre es ungerecht zu sagen, der Juhlamarssi lebe nur von seiner Vordergründigkeit; Kuula beherrscht, zur Zeit der Komposition 27 Jahre alt, alle Facetten des Orchesters und die Fähigkeit zum Kontrast. Besonders schön gelingt dies im Mittelteil, wenn die Hymne und die wirklich permanenten Beckenschläge sich beruhigen. Denn dort stimmen die Klarinetten eine Art Trio an, das Melancholie in e-Moll sowie zarte Geigeneffekte in sich vereint. Auch die Philharmoniker aus Turku, die hier unter der Leitung von Leif Segerstam zu hören sind, geben den Zauber dieses etwas kurzen Mittelteils schön wieder. In gleicher Weise stürzen sie sich mit Inbrunst auf die eigentlichen Marschabschnitte, wobei gerade bei solch einem Werk und einem Dirigenten wie Segerstam etwas mehr Differenzierung zwischen den Lautstärken wünschenswert wäre, kurz etwas weniger des Guten. Das gilt besonders für die Trompeten, die vor allem bei den Spitzentönen hörbar an ihre Grenzen gelangen.

Deutlich mehr musikalischen Atem offeriert die größtenteils 1906/07 entstandene Erste Südostbottnische Suite Nr. 1, Op. 9, benannt also nach dem zentralwestfinnischen Bundesstaat, der am Ostufer der bottnischen Meerbusens liegt. Gleich beim ersten Satz Landschaft (Maisema) treten einerseits sowohl die sehr intonationssicheren Holzbläser als auch die tiefen Streicherbässe, also Bratschen bis Kontrabässe hervor. Andererseits hört man von den laut Partitur zupfenden Violinen gleich zu Beginn so gut wie nichts, was auch später im Satz auffällt. Das Herz des Stückes, das sehr elegische Englischhornsolo, trägt der Solist Satu Ala zwar mit einem guten, bewusst schlichten Ton vor (mit einer sehr dezenten Streicherbegleitung). Jedoch lässt er dieses (gerade für die Tempobezeichnung Moderato) zu schnell vorüberziehen, wodurch der Eindruck von etwas abgeflachter Tiefe der Empfindung entsteht, insbesondere durch die eher geringen dynamischen Abstufungen. Überhaupt zählt die Differenzierung der Dynamik eher zu den Schwächen zumindest in Maisema, etwa auch bei dem ans Solo anschließenden Streicherchoral, wo von Beachtung des pianissimo keine Rede sein kann. Allerdings hebt Segerstam diese Mängel gegen Ende etwas auf, wenn die Pizzicati eher zu hören sind und er das den Satz beschließende Largamente dezent wörtlich nimmt.

Dass sich Kuula in seinem Werk auf finnische Folklore konzentriert, beweist auch das daraufhin erklingende Volkslied (Kansanlaulu). Die bloße Streicherbesetzung lässt nicht zufällig an ähnlich besetzte Werke Edvard Griegs, Johan Svendsens oder Jean Sibelius’ denken. Eine sehr melancholisch gefärbte e-Moll-Melodie, zuerst im Solocello, später in den Violinen, wird von einem harmonisch vielfarbig angereicherten Choralsatz begleitet, der dem Stück einen sehr schlichten Glanz verleiht. Die Tatsache, dass der Klangkörper aus Turku hier eher ein Moderato denn das vorgegebene Adagio zum Tempo nimmt, kann man verschieden beurteilen, immerhin handelt es sich hier ja um ein Volkslied – und dieses sollte nicht zu prätentiös klingen. Von einem ähnlichen Charme ist der darauf erklingende südostbottische Tanz (Pohjalainen tanssi) mit seiner schlichten dorischen Weise und der etwas eigenwilligen melodischen Bauart. Gerade dieses Mittelstück der Suite lebt von seiner Schlichtheit und einer bis dahin ungewohnten dynamischen Ausgeglichenheit, gerade was die Integration der Pauken anbelangt. Ebenfalls sehr einfalls- und kontrastreich ist das vierte Stück der Suite, der Teufelstanz (Pirun Polska). In seiner Anlage deutlich ein Scherzo, bietet dieser Satz nicht nur ein metrisch unbestimmtes Thema (trotz Dreivierteltakt), sondern auch eine bemerkenswerte musikalische Entwicklung, bei der auch die Orchesterfarben eine Rolle spielen. Einzig die Holzbläser treten beim Fortissimo des Scherzos zu sehr in den Hintergrund, fallen aber im Trio dafür umso schöner ins Gewicht.

Den großangelegten Schlusssatz der ersten Südostbottnischen Suite, Lied der Dämmerung (Hämärän laulu) empfanden zwei bedeutsame Lehrer Kuulas aus Bologna, Enrico Bossi und Luigi Torchi, als wunderbar, kritisierten aber dessen Orchestrierung. Wahrscheinlich bezogen beide sich auf die Tatsache, dass Kuula bereits vom monumentalen Beginn des Satzes an bemüht war, bei aller Spannung einen dennoch differenzierten Klang aufgrund der reichhaltigen Form zu erzielen. Eine pavaneartige Melodie im alla-breve-Metrum baut sich Stück für Stück zu einer eher dunklen Hymne auf und wird in ihrer Schlichtheit darin kontrastiert, dass Kuula auch hier seine akkordischen Raffinessen spielen lässt. Dem gegenüber steht ein luzides Thema im Englischhorn, welches dem Finale einen eher tänzerischen Charakter verleiht, obgleich auch hier bereits eine hymnische Steigerung eintritt. Alsbald wechselt das Geschehen wieder ins Tempo primo, der archaische Anfang kehrt wieder, nur breiter und pathetischer und mündet schließlich in einem Beckenschlag, woraufhin das Ganze, mit letzten Partikeln der motivgebenden Quarte d-d-a, leise erlischt. Die heterogene Form von Hämärän laulu hat gleichermaßen ihre Stärken und Schwächen; zumindest bemüht sich Leif Segerstam mit den Turkuer Philharmonikern, diese unter einen Bogen zu zwängen und mechanische Stereotypen zu vermeiden, was größtenteils auch gelingt.

Dass die zweite Südostbottnische Suite sieben Jahre später entstanden ist (1912/13), hört man am fortgeschrittenen kompositorischen Handwerk Kuulas. Sehr reizvoll und anfangs pittoresk erklingt die Ankunft der Braut (Tulopeli), wenn die Hörner mit einem Signal in Mahlerscher Manier beginnen und aus dem darin enthaltenen Motivmaterial ein immer mächtiger orchestriertes Fugato formen. Leider gerät zwar das Orchester mit dem Streichereinsatz deutlich ins Schleppen, gewinnt dafür jedoch bei vollem Tuttieinsatz wieder an Tempo. Erfreulich ist die hier wohlbedachte Steigerung gegen Ende, was vor allem die dynamische Auskostung bis hin zum fff anbelangt. Der darauffolgende Regen im Walde (Metsässä sataa) zeigt besonders deutlich, zu welch raffinierten Instrumentationslösungen Kuula in der Lage war. Über einem huschenden Streichersatz werfen die in ihrer Besetzung erweiterten Holzbläser modal gefärbte Signale in den Raum, die dem Ganzen eine besondere Exotik verleihen. Die Beschäftigung Kuulas mit Debussy ist hier deutlich zu spüren, gleichwohl offenbart der Komponist vor allem in der Mitte des Satzes seine eigene Handschrift, wenn sich klare Tutti-Konturen ergeben. Die Philharmoniker nehmen das Allegro durchaus wörtlich, schaffen es jedoch auch, die besondere Atmosphäre dieses Satz wiederzugeben.

Wie auch in der ersten Suite haben die Streicher einen Satz alleine. Wieder ist es die auffällige Nähe zu anderen nordisch-romantischen Vorbildern, die der dritte Satz, ein Menuett (Minuee), suggeriert, ohne dass jedoch auch nur der geringste Eindruck von Nachahmung etwa Griegs entstünde. Das Prinzip ist hier ähnlich wie in Tulopeli: ein zierliches Thema gibt dem Satz ein Gerüst, welches immer größer und breiter wird bis hin zum Schluss. Da hätte es den recht klangfreudigen Ausführenden nicht geschadet, wenn sie das Moderato nicht allzu wörtlich genommen und dem Satz etwas mehr Schwung verpasst hätten. Ausgewogener klingt der Tanz der Waisenkinder (Orpolasten polska), der in seiner kompakten Kürze und originellen Instrumentierung eine nahezu schwerelose Melancholie ausstrahlt. Gerade mit diesem Intermezzo beweist Kuula seinen herrlichen Facettenreichtum.

Das abschließende Irrlicht (Hiidet virvoja viritti) bekräftigt, ähnlich dem Schlusssatz der ersten Südostbottnischen Suite, allein schon durch seinen Titel wiederum die monumentale Ader des Komponisten. Abgesehen von dem arg vibrierend eröffnenden Cellosolo bietet der Satzanfang in den ersten drei Minuten dennoch eine klanglich sehr abwechslungsreiche (dank zweier Harfen und Celesta), gleichwohl deutlich dramatischere Szenerie als das Vorhergehende. Nachdem daraufhin das dunkle Cellothema wieder ertönt und die klangliche Schärfe des Tuttis zu einem ersten Höhepunkt findet, beginnt der Satz eher zu fließen, sprich in einen Kehraus zu führen. Kuula verleugnet auch hier nie seine gereifte Meisterschaft der Instrumentierung, alles klingt luzide und leicht. Zunächst. Dass der Schein aber trügt, merkt man mit einem schleichenden Wechsel, harte Klangballungen nehmen immer weiter zu, es entsteht eher eine Nähe zum Symphoniker Sibelius und dessen fluoreszierenden Klangkaskaden. Wie mittlerweile zu erwarten, kommt es auch hier zu einem machtvollen Höhepunkt, schließlich hält das Geschehen inne. Zuletzt ergibt sich auch hier die dreiteilige Form-Symmetrie, das Ende kommt dann überraschend schlicht und ohne äußerliche Dramatik daher.

Anhand der beiden Suiten hat sich gezeigt, wie entscheidend Toivo Kuula sich in wenigen Jahren entwickelte, aber auch, wie gleichermaßen finnisch und kosmopolitisch, wie gleichermaßen temperamentvoll und einfühlsam-differenziert seine künstlerische Gestaltung war. Das letzte Beispiel dieser CD, Präludium und Fuge Op. 10 (1909), belegt dies nochmals eindrucksvoll. Über einem Bass-Ostinato, das hier leider etwas zu leise erklingt, intonieren die Klarinetten und Oboen eine einfache achttaktige Melodie in c-moll, auf deren Basis sich das formal sehr geschlossene Präludium aufbaut und ebenso wieder abklingt. Die Kontinuität gelingt dem Orchester passabel, das Largamente in der zweiten Hälfte kommt verhalten. Einen kraftvollen Bogen spannt die Fuge, die sowohl alle Elemente der Bach-geschulten Kontrapunktik (c-Moll-Soggetto, gekonnte Dux-Comes-Behandlung), als auch eine konsequente Ausschöpfung des Orchesterapparates bereithält. Vor dem Hintergrund der mehr fantasiegesteuerten Suiten erscheint eine solche Tonschöpfung natürlich etwas trocken als Konklusion. Allerdings wäre Toivo Kuula nicht er selbst, wenn er nicht auch dieser Fuge einige dramatische Akzente verpassen würde, außerdem ist seine Orchesterfuge auch insofern eigenständig, als sie auf wirkungsvolle (Schlagwerk-)Effekte etwa der Bach-Bearbeitungen eines Schönberg oder Elgar verzichtet.

So bleibt abschließend folgendes Resümee zu ziehen: Mit Toivo Kuula haben die Philharmoniker aus Turku und ihr unermüdlicher Maestro Leif Segerstam einem Komponisten, dem trotz geringer Lebenszeit ein sehr bemerkenswertes Œuvre gelang, beeindruckend Respekt gezollt. Mag auch ihre Darbietung nicht frei von Schwächen und Unausgereiftheiten sein, so ist diese CD dennoch ein eindrucksvolles, beredtes Zeugnis der künstlerischen Neugier eines der weltweit ältesten Orchester überhaupt, das mit Kuula dem jungen Wilden der Epoche des kulturellen Aufbruchs einer finnischen Identität huldigt.

 [Peter Fröhlich, November 2015]