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Die Kunst der Fuge in Salzburg

Orchesterkonzert: Salzburg, 25. Oktober 2019, Salzburg Chamber Soloists, Christoph Schlüren

Wer sich am 25. Oktober 2019 im Odeion des Salzburger Waldorfcampus eingefunden hatte, hatte das Glück, einer außergewöhnlichen Demonstration kammerorchestralen Musizierens beiwohnen zu können. Die Salzburg Chamber Soloists, jeweils fünf erste und zweite Violinen (darunter der Konzertmeister Lavard Skou Larsen), vier Bratschen, drei Violoncelli und ein Kontrabaß, spielten unter der Leitung von Christoph Schlüren Die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Man verzichtete auf ein Arrangement der Kanons und präsentierte Contrapunctus XIV zweimal: am Ende der ersten Konzerthälfte, nach den Contrapuncti I–XI, in der von Bach unvollendet hinterlassenen Gestalt, der sich jener Choral anschloss, mit welchem die Herausgeber des Erstdrucks ihr Publikum „schadlos halten“ wollten; zum zweiten Male, am Ende des Konzerts, mit der sehr geglückten Ergänzung des finnischen Symphonikers Kalevi Aho, die damit ihre österreichische Erstaufführung erlebte. Zuvor erklangen in der zweiten Konzerthälfte nach den Spiegelfugen zwei im wahrsten Sinne des Wortes auf Bach bezogene Stücke aus späterer Zeit: Robert Schumanns Fuge über BACH op. 60/3, für Streichorchester transkribiert von Dan Țurcanu, und Reinhard Schwarz-Schillings Studie über BACH für drei Stimmen, das letzte Werk dieses Komponisten polyphoner Meisterstücke, dessen gesamtes Schaffen im Grunde eine große Hommage an Bach darstellt.

Ein ganzes Konzert mit Stücken, in denen jeder Musiker in regelmäßigen Abständen das Hauptthema zu spielen hat und auch die Übersicht behalten muss, wenn gerade „nur“ ein Kontrapunkt in der Stimme steht, ist für ein Orchester eine besondere Herausforderung. Die  Salzburg Chamber Soloists haben es bei der Bewältigung dieser Aufgabe nicht an Einsatzbereitschaft und Begeisterung fehlen lassen und folgten hochkonzentriert den Vorgaben ihres Dirigenten.

Schlürens Präsentation der Werke lebte vor allem von der sorgfältigen Artikulation jeder Stimme. Kein Themeneinsatz ging im Gesamtklang unter, die kontrapunktischen Verflechtungen wurden fein abgestuft nach dem Gewicht dargeboten, das den beteiligten Stimmen im jeweiligen Moment zukam, sodass die Interaktion der Instrumentengruppen trefflich zur Wirkung gelangte. Mit seinem feinen Gespür für Bachs Formung der musikalischen Verläufe aus dem Gegeneinander der melodischen Linien legte der Dirigent vorbildlich bloß, wie einfalls- und abwechslungsreich diese Sammlung aus Stücken in d-Moll ist, die alle über das gleiche Thema geschrieben sind. So wurde der Abend zu einem Triumph der Bachschen Kompositionskunst.

Das Konzert wurde mitgeschnitten und man kann nur wünschen, dass die geplante Veröffentlichung auf CD bald folgen möge.

[Norbert Florian Schuck, November 2019]

Die Kunst der „Kunst der Fuge“

Freitag, 25. Oktober 2019 in Salzburg, Campus der Rudolf Steiner-Schule, Dorothea Porsche Saal – Konzert „Kunst der Fuge“ ; Christoph Schlüren, Dirigent; Salzburg Chamber Soloists (Leitung: Lavard Skou-Larsen); Werke von Bach, Schwarz-Schilling, Schumann und Aho

Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge – Contrapunctus I – XI; Finale, Quadrupelfuge, unvollendet; Choral, Vor Deinen Thron trete ich hiermit; Spiegelungen I und II a 4; Robert Schumann (1810-1856) Orgelfuge g-Moll über BACH Op.60/3 a 4 2019 transkribiert von Dan Turcanu; Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985) Studie über BACH a 3; Finale Quadrupelfuge, 2012 vollendet von Kalevi Aho (geb.1949)

Er ist und bleibt das A&O der Musik, Johann Sebastian Bach. Das ist die ganz einfache (?) Feststellung nach dem gestrigen Konzert im Dorothea Porsche Saal im Salzburger Odeion.

Nach einer Einführung mit dem Dirigenten des Abends, Christoph Schlüren, begann um 19 Uhr mit dem Contrapunctus 1 ein Abend der überwältigenden Musik. Die Salzburger Chamber Soloists mit ihrem Konzertmeister Lavard Skou-Larsen musizierten unter der Leitung des Münchener Dirigenten Christoph Schlüren ein intensives Programm mit ausgewählten Stücken aus dem letzten Meisterwerk Bachs, der „Kunst der Fuge“. Und was für eine Kunst sich da entfaltetete! Immer neue und unvermutete Aspekte des Eingangs-Themas wurden aufgeblättert und im Entstehen aus der Taufe gehoben. Geleitet vom gelassenen und dennoch energischen Dirigieren wurde dieser Riesen-Kosmos aus Klängen, Rhythmen, Harmonien und Stimmführungen von den mit intensivstem geistig-seelisch-musikalisch spielenden Musikerinnen und Musikern zum hörgewaltigen Erleben. Was waren in den vertracktesten Kombinationen, den ausgefeiltesten Zusammenklängen, den kraftvollsten Durchdringungen der einzelnen Stimmen für Offenbarungen vor unsere Ohren, Augen und Herzen gestellt.

Alle 11 Contapuncti – jeder einzelne eine eigene Welt – offenbarten nicht nur die unglaubliche und immer wieder aufs Neue faszinierende Meisterschaft des „Alten Bach“, sie gaben im zweiten Teil auch den Nährboden für zwei Kompositionen von  Robert Schumann und Reinhard Schwarz-Schilling und regten eben auch den finnischen Komponisten Kalevi Aho 2012  zu der Vollendung der letzten Fuge an. Welche Steigerung auch oder gerade heute möglich ist, zeigte dieser Komponist und mit ihm die auf allerhöchstem Niveau Spielenden. Die schier bis zu einer unmöglich scheinenden Ausbreitung der Kontrapunktik und der musikalischen Energie ließ einen denkwürdigen Abend ausklingen, der sicher zum allertiefsten gehört, was ich bisher in meinem Leben erleben durfte.

Dank an alle Beteiligten für diesen Abend!

[Ulrich Hermann, Oktober 2019]

Aus dem Schatten zum Hörer

Solo Musica, SM 291; EAN: 4 260123 642914


[Rezension im Vergleich: Ulrich Hermann über „Out of the Shadow“]

Das Album „Out oft he Shadow“ widmet sich drei unbekannten Violinkonzerten bekannter Komponist: Tartinis Concerto in La Maggiore D 96, Haydns Violinkonzert G-Dur Hob.VIIa:4 und Mendelssohns frühes Konzert d-Moll für Violine und Streicher. Lavard Skou Larsen leitet die Salzburg Chamber Soloists, die Solovioline spielt Rebekka Hartmann.

„Out oft he Shadow“ ist das Resultat instrumentaler Meisterschaft und musikalischer Leidenschaft. Live wie auch auf CD erlebte ich beide, sowohl die Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou Larsen als auch die Violinistin Rebekka Hartmann, als feinfühlige, passionierte und perfektionistische Musiker – entsprechend gespannt war ich auf diese Aufnahme.

Das Orchester spürt in Tartinis Concerto in La Maggiore D 96 noch das Klangideal der späten Barockzeit auf und markiert die wiederkehrenden pochenden Figuren der Streicherstimmen, hebt allgemein einen non-legato-Charakter hervor. Die Solistin steht hierbei als Primus inter Parens gleichberechtigt neben den anderen Stimmen, kann sich in den Soli dennoch gut absetzen vom Orchester. Besonders fein gelingen die Auszierungen in den langsamen Sätzen, wobei vor allem der zweite Satz durch die akzentuierten Brüche für Aufmerken sorgt.

Während Tartini etwa 135 Violinkonzerte schrieb, so waren es bei Haydn lediglich drei, die belegt werden können. Eines davon ist das hier zu hörende G-Dur-Konzert Hob.VIIa:4. In diesem vor 1770, also noch zu Tartinis Lebzeiten, entstandenen Werk empfinden die Musiker einen Gestus, der mehr der Wiener Klassik zugeordnet werden kann. Die Violine steht deutlicher im Vordergrund und schwingt sich zu Höhenflügen über die Orchesterbegleitung auf. Rebekka Hartmanns Geigenstimme bleibt dabei leicht und unbeschwert, spielerisch und mancherorts gar keck. Dadurch entsteht ein hinreißender Kontrast zu den schlichten Streichorchesterbegleitungen, denen Lavard Skou Larsen einen Rest der barocken Markierung verleiht.

Das Finale der Aufnahme bildet Mendelssohns geniales Jugendkonzert für Violine und Streicher d-Moll, welches er mit gerade einmal 13 Jahren komponiert hat. Im zarten Jugendalter schrieb er bereits 12 Streichersymphonien, mehrere Konzerte und zahllose Kammermusikwerke, die er größtenteils später in die Schublade legte: zu Unrecht! Dieses Konzert entdeckte Mendelssohn später und bearbeitete es, nichtsdestoweniger konnte es sich nicht gegen das bekannte e-Moll-Konzert durchsetzen. Wider Erwarten besticht dieses Violinkonzert (ebenso wie Mendelssohns andere Frühwerke!) eben nicht allein durch jugendlichen Übermut und Lebendigkeit, sondern zeigt in gleichem Maße nachdenkliche und fragile Seiten, die gar philosophisch reflektiert anmuten. Rebekka Hartmann stellt sich leidenschaftlich in den Dienst dieser vor Inspiration sprühenden Musik, wie eine Löwin bewältigt sie anmutig und selbstbewusst die virtuosen Läufe und Figurationen, zieht sich dann aber auch wieder zurück in ganz verinnerlichte Welten, in denen sie sich selbst offenbart. Hier geschieht etwas Magisches: Rebekka Hartmann und die Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou Larsen gehen eine Symbiose ein, beginnen, aus einem Atem und einem Puls heraus zu musizieren und das Konzert zu einer Einheit zu formen, gemeinsam und ohne Distanz zwischen Solist und Orchester.

[Oliver Fraenzke, Januar 2019]

Der andere Haydn

Cpo, 555 042-2; EAN: 7 61203 50422 0

Michael Haydn: Symphonien 13 & 20, Notturno Nr. 1; Deutsche Kammerakademie Neuss, Lavard Skou Larsen (Leitung)

Mit vorliegender Aufnahme der Symphonien 13 und 20 sowie dem Notturno Nr. 1 findet die Gesamtaufnahme aller Symphonien Michael Haydns ihren Abschluss. Es spielt die Deutsche Kammerakademie Neuss unter Lavard Skou Larsen.

Verwandte Komponisten haben es oft schwer: In den allermeisten Fällen sticht nur ein Familienmitglied an Bekanntheit hervor, während die anderen üblicherweise nicht mehr als eine Randbemerkung erhalten. Man denke alleine an Leopold und Franz Xaver Mozart, die Bach-Söhne, Fanny Mendelssohn, Siegfried Wagner und viele andere. Nicht umsonst änderte der jüngste Sohn des großen norwegischen Symphonikers Harald Sæverud, Ketil, seinen Nachnamen zu Hvoslef, als er zu komponieren begann: Denn von zwei Größen eines Namens bleibt beinahe immer eine im Schatten.

So ergeht es heute auch Johann Michael Haydn, ein Bruder Joseph Haydns. Zu Lebzeiten war er ausgesprochen gefragt, erhielt zahllose Kompositionsaufträge und Stellenangebote, unter anderem auch bei Fürst Esterházy – was Michael Haydn ablehnte. Nach seinem Tod geriet der Komponist allmählich in Vergessenheit, während sein Bruder nach wie vor zu den „großen 3“ der Wiener Klassik zählt. Michael Haydn verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Salzburg, wo er gerade für den jungen Wolfgang Amadeus Mozart als Leitbild galt, der sich bei mehreren Jugendkompositionen deutlich an Haydn orientierte.

Michael Haydn blieb lange Zeit der führende Komponist in Salzburg, sein Stil erfreute sich wegen der nachvollziehbaren Struktur großer Beliebtheit, und wegen der Eingängigkeit des thematischen Materials sowie der feinen Orchestrierung. Komplexere Elemente setzte Haydn mit Bedacht, um Spannung zu erzeugen, ohne dabei den Hörer zu überfordern. Über 800 Werke sind uns heute überliefert, darunter 44 Symphonien (41 davon nummeriert) und 3 Notturni. Die Gattung des Notturnos diente abendlicher Unterhaltung, es handelt sich um Orchesterwerke ohne regulierte Satzabfolge oder Instrumentation.

1991 begann das Slowakische Kammerorchester unter Bohdan Warchal damit, alle Symphonien Michael Haydns einzuspielen. Die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein übernahm das Projekt 1995 mit Johannes Goritzki und Frank Beermann als Dirigenten. Lavard Skou Larsen bringt nun die Gesamteinspielung zu einem glänzenden Ende, mit den Symphonien 13 und 20 sowie dem 1. Notturno.

Ich bedauere nach wie vor, dass Lavard Skou Larsen im vergangenen Jahr die Deutsche Kammerakademie Neuss verließ, denn er brachte das Orchester auf ein bislang unerreichtes Niveau, das genaueste Kenntnis über den Notentext und intensive Arbeit an den Stücken erkennen lässt. Entsprechend ist die letzte CD des Michael-Haydn-Projekts zugleich dessen Höhepunkt. Die Darbietung besticht dadurch, dass sie unprätentiös und leichtfüßig erklingt. Skou Larsen gibt nichts in die Musik hinein, sondern holt etwas aus ihr heraus, stellt sich in den Dienst der Töne. Er überfrachtet die Symphonien nicht durch übermäßige Kontraste, sondern kostet die vorhandene Spannung aus. Lediglich die kurzen Noten könnten etwas voluminöser und sonorer sein, sie wirken teils abgehackt und spitz, verlieren dadurch ihr Nachschwingen im Ohr. Die Freude an der Musik hört man der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein an, was dem resultierenden Klang Freiheit und Natürlichkeit verleiht.

[Oliver Fraenzke, September 2018]

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Ideales Musizieren

Zwölf Jahre lang hat Lavard Skou Larsen als Chefdirigent die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein geleitet und in dieser Zeit aus einem Klangkörper auf gutem Regionalniveau ein Weltklasseorchester geformt. Nun dirigierte Skou Larsen sein letztes Konzert als Chefdirigent im Neusser Zeughaus mit Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre, dem Violinkonzert von Robert Schumann mit der britischen Solistin Priya Mitchell, der Uraufführung eines kleinen Streicherwerks des hochbegabten jungen rumänischen Komponisten Lucian Beschiu und der Symphonie in h-moll D 759, der ‚Unvollendeten’, von Franz Schubert.

Mozarts Zauberflöte-Ouvertüre ist eines der heikelsten Werke der gesamten Orchesterliteratur, und nicht zufällig ist sie neben der Fledermaus-Ouvertüre von Johann Strauß jr. DAS Standardstück bei Probedirigaten. Lavard Skou Larsen ließ die langsame Einleitung sehr geschmeidig und mit verhaltener Kraft erstehen, der Allegro-Hauptsatz kam mit einer unglaublich fesselnden Mischung von prickelnder Brillanz, Leichtig- und Wendigkeit, erdverbundener Kraft und artikulatorisch so unvorhersehbarer wie unwiderstehlich bezwingender Eleganz zur Entfaltung. Das Stück entstand wie aus einem Guss unter Herausarbeitung all der Mannigfaltigkeit der Details, und auch nur der Anflug eines Gefühls für physikalische Länge konnte sich bei dem durchgehenden Spannungsbogen nicht einstellen. Die ganze Musik schien in einem einzigen Moment zu entstehen und ihren Bau zu errichten. So kann und sollte Mozart sein, und doch frage ich mich, wann ich ihn so gehört habe – auch übrigens, was die Auffächerung der überwältigend sinnlichen Farbenpracht betrifft. Das Stück allein hätte gereicht, um die Hörer, die nach einem tieferen Sinn in der Musik suchen, glücklich zu entlassen. Doch es ging natürlich weiter…

Das Violinkonzert von 1853 ist Robert Schumanns letztes großes Orchesterwerk, und der gravitätische Allegro-Kopfsatz gehört zum Überwältigendsten, was der bald darauf geistiger Umnachtung anheimgefallene Komponist an Symphonischem zu Papier brachte. Priya Mitchell fasst das Konzert sehr frei auf, im Agogischen insgesamt dann doch zu frei, wodurch sich eine durchtragende Spannung nicht einstellen kann und den Reizen unterschiedlicher Momente sehr eigentümlichen Ausdruckswillens geopfert wird. Freilich hatte ihr Spiel vor allem im äußerst zart realisierten langsamen Satz unbestreitbaren Zauber. Im Finale konnte von restloser technischer Beherrschung nicht die Rede sein, doch das ging auch schon berühmteren Solisten so bei diesem in der Schreibweise für die Geige extrem sperrigen und angesichts der gelegentlich halsbrecherischen Schwierigkeiten auch etwas undankbaren Konzert. Hier muss durch innere Substanz wettgemacht werden, was an äußerem Glanz nicht zu erzielen ist, und dafür braucht es nicht nur Poesie, sondern vor allem auch die Vision und Kraft zur Umsetzung des Ganzen. Und da wäre dann zu wünschen, dass die Solistin bei ihren Extravaganzen nicht nur ihre Stimme im Auge hätte, sondern auch das orchestrale Geflecht mit seiner herrlich durchbrochenen Polyphonie. Dass dies nicht wirklich durchgehend entstehen konnte, lag an den vielen Haken, die sie schlug, und bei denen ihr Lavard Skou Larsen und seine Truppe mit schier unfassbarer Behändigkeit folgte wie eine Raubkatze, die ihre Beute in jedem Moment fassen könnte – mit der Einschränkung, dass diese Katze sich hier als Beschützerin erweist, die die Solistin auch im extremen Pianissimo durchklingen lässt.

Nach der Pause kam das Lento rubato für Streichorchester des 1986 geborenen Rumänen Lucian Beschiu zur Uraufführung. Er hätte für sein im Kern und in allen Nuancen so zauberhaftes wie eigenständiges Werk keine liebevolleren und souveräneren Ausführenden finden können als die Deutsche Kammerakademie mit ihren Solisten Sebastian Casleanu (Violine), Danka Nikolic (Bratsche) und Milan Vrsajkov (Cello) unter der mit seinen Musikern zu vollendeter Einheit verschmelzenden Leitung Skou Larsens. Was für eine Musik schreibt Beschiu? Seine Harmonik hat ihren absolut unverkennbaren Eigenton, und sie bildet die Grundlage der ganzen Entfaltung melodischer Gestalten, rhythmisch-metrischer Finessen, feinsinnig kontrastierender Charaktere. Die Musik hat etwas wundervoll Schwereloses, Lichtes, Transparentes, Zerbrechliches und zugleich stets Fließendes, geradezu Engelhaftes, und sie spricht mit einem unschuldig beseelten Ton, als hätte sie es überhaupt nicht nötig, sich gegen die hochtrabende Konkurrenz zeitgenössischer Avantgarde und Populärklassik zu behaupten – etwa nach dem Motto: Macht ihr doch, was ihr wollt, ich bewege mich unsichtbar zwischen euren Mauern hindurch. Stilistisch könnte man Einflüsse von John Foulds zu erkennen meinen (in den raumgreifenden Quintparallelbewegungen und melodischen Spiegelungen, aber auch in der Luzidität des Tons und Ausdrucks überhaupt), und mancher mochte vielleicht an Ravel denken, vielleicht auch ein wenig an des Komponisten rumänische Heimat, deren Melancholie gegen Schluss ohne jede Wehleidigkeit für ein Tröpfchen mehr Dunkelheit sorgte, vielleicht sogar ein bisschen an Béla Bartók. Doch all das sagt eben nicht aus, wie die Musik von Beschiu ist – es mag höchstens als Orientierungshilfe dienen, um zu ahnen, ob sie einem gefallen könnte. Das Neusser Publikum war – wie auch das Orchester – restlos begeistert von dieser großen Überraschung, die statt imponierend auftrumpfen zu müssen ganz aus ihrer Tiefe der Substanz schöpft. Zweimal tritt der langsameren Grundbewegung eine Art walzernd beschleunigte Bewegung entgegen, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, und beim zweiten Mal erwirkt diese den Übergang in die Schlussphase. Wir können jedenfalls berichten, dass hier ein großer Komponist auf den Plan getreten ist, von dem – vielleicht ja gerade für die symphonische Gattung – noch ganz Großes erwarten dürfen.

Danach Schuberts Unvollendete, und hier möchte ich einfach nur sagen, dass sich eine großartigere Aufführung dieses so viel gespielten – und so oft unzulänglich langweilig oder überzogen schroff dargebotenen – Meisterwerks kaum vorstellen lässt. Mit innigster Gesanglichkeit umgarnten die lyrischen Themen, die dramatischen Umbrüche kamen mit einer elementaren Wucht so überraschend, dass es war, als erklänge die Musik zum ersten Mal. Also sozusagen noch eine Uraufführung, indem das scheinbar Bekannte so unvorhersehbar und dabei vollkommen logisch aus den innewohnenden Kräften entwickelt, das Ganze offenbarend entstand, dass einfach kein Platz war für den relativierenden Geist – denn: Egal, wie schnell oder langsam es gewesen sein mag, die Dimension der Zeit wurde aufgehoben, die Beteiligten gingen vollkommen im Dienst an der Musik Schuberts auf, die seelische Regionen eröffnet, von denen das heutige Musikleben in seiner Veräußerung in der Regel nicht einmal mehr träumt. Es sei nur am Rande erwähnt, dass das Orchesterspiel in allen Belangen auch von grandioser Makellosigkeit war, dass das klein besetzte Orchester einen ungeheuer dichten, runden Klang entfaltete, und dass die Soli von Oboe und Klarinette uns unmittelbar ins Reich reinsten Zaubers entführten, das nicht den Streichern allein vorbehalten war. So kann also auch heute musiziert werden, als stünde hier ein Furtwängler, Talich, de Sabata oder Celibidache.

Als Zugabe brachte Skou Larsen ein ‚Gebet’ von seinem brasilianischen Landsmann Alberto Nepomuceno (1864-1920), das einst sein gleichfalls dirigierender Vater für Streichorchester gesetzt hat: eine wehmütige Kantilene der Violinen wird vom Tutti-Pizzicato begleitet, und im Schlussklang vereinigt man sich zum arco. Schöner, edler, verinnerlichter, aber auch innerlich belebter kann man das nicht spielen. Danach stimmte das Orchester in den Applaus hinein Piazzolla an, Lavard Skou Larsen entwand dem exzellenten Konzertmeister spontan die Geige und ging noch einmal völlig in seinem Element auf. Diesen Mann wird man vermissen, und wir können nur mutmaßen, was ihn bewogen hat, nach zwölf so einmalig erfolgreichen Jahren die Deutsche Kammerakademie zu verlassen und sich anderen Aufgaben zuzuwenden. Er hat Neuss zu einem idealen Ort der Musik werden lassen, und das Publikum dankte es ihm und seinem wunderbaren Orchester mit auch bei entlegensten Programmen ausverkauftem Saal in den Abonnementkonzerten. Immerhin: zum Abschied sagte Skou Larsen mit schelmischem Seitenblick auf einen weltweit prominenten kalifornischen Gouverneur ‚Hasta la vista’…

[Annabelle Leskov, Mai 2017]

Abgründig, tiefgründig

Coviello Classics, COV 91701; EAN: 4 039956 917014

Eine im Jahr 2000 gemachte Liveaufnahme von Lavard Skou Larsen und den Salzburg Chamber Soloists ist nun bei Coviello Classics wiederveröffentlicht worden: Darauf sind Schuberts vierzehntes Streichquartett D810 in d-Moll mit dem Beinamen „Der Tod und das Mädche“ in einem Arrangement für Streichorchester des Orchesterleiters und Schostakowitschs Kammersymphonie op. 110a, die Bearbeitung des 8. Quartetts durch Rudolf Barschai, zu hören.

Zwei abgrundtief schürfende Streichquartette begeistern in der neuesten Wiederveröffentlichung der Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou Larsen, sie beide behandeln den Tod auf ihre ganz eigene Weise. Schuberts berühmtes Quartett trägt seinen Beinamen aufgrund von Zitaten aus seinem gleichnamigen Lied im zweiten Satz, dem knapp fünfzehnminütigen Herzstück des groß angelegten Quartetts. Schostakowitsch bezog sich auf einen Film über das zerstörte Dresden 1945, worauf er in nur drei Tagen eine Trauermusik in Quartettform komponierte, welcher er seine Initialen D-Es-C-H zugrunde legte. Das Quartett besteht aus fünf Sätzen, ist jedoch eigentlich ein einziges zusammengehöriges Gebilde. Ungeachtet aller stilistischen Unterschiede verbindet die Quartette ihr feines Gespür für harmonische Finessen, eine tiefgründige Komplexität und nachtschwarze Todesnähe.

Erst vor wenigen Tagen hörte ich das Orchester in Kempten mit Schostakowitschs Kammersymphonie, siebzehn Jahre nach vorliegender Aufnahme. In dieser Zeit hat sich der Zugang stark gewandelt, andere Aspekte rückten ans Licht und andere Schwerpunkte wurden gesetzt. Dies soll nicht bedeuten, dass die damalige Aufführung schlechter oder unvollständiger wäre als die heutige – es zeigt sich lediglich, dass sich Lavard Skou Larsen selbst nach einer wahrhaft gelungenen Aufnahme nicht zurückgelehnt hat, sondern ständig weiter an seinem Repertoire forscht und immer Neues hervorholt. Die Musik ist nie starres Endprodukt, sondern flexibel sich ständig aktualisierendes Eigenleben. Die Salzburg Chamber Soloists bestechen mit voluminösem Sound in technischer Vollendung und klanglich feinster Nuancierung. Nie driftet der sich ständig metamorphosierende Fluss ins Verträumte ab, nie wird haltlos nach vorne gestürmt, alles hat einen unentrinnbaren Sog, der den Hörer erbarmungslos durch die fünf bezwingend zusammengeschweißten Sätze schleift.

Eine der schwierigsten Aufgaben hinsichtlich zusammenhängender musikalische Gestaltung ist seit jeher die Musik Schuberts, dessen harmonisch bis ins letzte Details ausgearbeitete Sätze eine subtile und nur den wenigsten Musikern sich wahrhaft eröffnende Komplexität entfalten, über deren Abgründe und Feinheiten fast immer viel zu belanglos hinweggespielt wird – und damit am Kern der Musik vorbei. Dass Schubert adäquat dargeboten stets aufs Neue unwiderstehlich verblüfft, war mir durchaus bewusst, aber dass seine Musik eine solch elementare Wucht und unmittelbare Durchschlagskraft aufweist wie in dieser Aufnahme, hat mich nun doch zutiefst erstaunt. Die großformatigen Sätze sind aus einem Guss ohne jegliches energetische Einknicken erfasst, dabei werden auch versteckteste Nuancen blendend herausgefeilt und mit entfesselter Liebe in das Gesamtbild integriert. Gerade im zweiten Satz, in den meisten Aufführungen langatmiger Melancholie erliegend, entstehen magisch transzendente Augenblicke, die allerdings nicht isoliert, sondern in alles umfassendem Zusammenhang erstrahlen.

Zwei tragische Komponistenfiguren sind hier in selten bis nie dagewesener Qualität zu hören. Musikalisch so fein erarbeitete Werke sind eine absolute Rarität, und das mit solch einem sensiblen Gespür für den alles durchdringenden Strom der Töne – eine Pflichtlektüre für jeden Menschen, der die Subtilität seiner Wahrnehmung erweitern möchte.

[Oliver Fraenzke, März 2017]

 

Lebendig wandelnde Wesen der Musik

Im Rahmen der Meisterkonzerte des Theaters in Kempten (TiK) spielen die Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou-Larsen am 18. März 2017 zwei Kammersymphonien von Dmitri Schostakowitsch – op. 118a nach dem 10. und op. 110a nach dem 8. Streichquartett jeweils in der Bearbeitung durch Rudolf Barschai – sowie zwei der Cembalokonzerte von Johann Sebastian Bach, d-Moll BWV 1052 und A-Dur BWV 1055. Solistin am modernen Konzertflügel ist die österreichisch-russische Pianistin Lisa Smirnova.

Nur von wenigen Komponisten ist zu sagen, dass kein einziger Ton zu viel und keiner zu wenig ist, dass absolut alles am rechten Platz steht. Zu diesen gehört Johann Sebastian Bach, den selbst in einem unüberschaubar gigantischem Œuvre nie die Kreativität verließ. Zwei seiner insgesamt acht Cembalokonzerte sind am heutigen Abend mit Lisa Smirnova am großen Konzertflügel von Steinway & Sons zu hören, dasjenige in A-Dur BWV 1055 und das wohl bekannteste in d-Moll BWV 1052. Die Österreicherin russischer Herkunft besticht nach anfänglich etwas romantischen Ansätzen im Kopfsatz des A-Dur-Konzerts mit erstaunlicher Feingliedrigkeit der Stimmführung. Sie hört sich exakt auf die Streicher ein und reflektiert deren Ton auf dem Tasteninstrument, verschmilzt mit ihnen zu einer untrennbaren Einheit. Dabei gelingt ihr eine natürliche und organische Phrasierung, die durch ihren perlenden Anschlag unterstützt wird. Abgesehen vom Kopfsatz des d-Moll-Konzerts kommt auch die ganze Vielfalt der Unterstimmen zum Tragen und ergibt ein angenehmes Klangvolumen. Lisa Smirnova kennt ihren Bach inwendig wie nur wenige und spielt mit einer ekstatischen Hingabe, und ihre Mitspieler, angeführt von Skou Larsen, verschmelzen mit ihr zu einer Ausdruckseinheit von unwiderstehlicher Glut und Ausdrucksdichte.

Dmitri Schostakowitsch hatte ein gewaltiges Ziel vor Augen, welches er in seiner Lebenszeit nicht realisieren konnte: Vierundzwanzig Symphonien und ebenso viele Streichquartette zu verfassen, die wie die Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertes Klavier in allen vierundzwanzig Tonarten stehen. Beiden Gattungen schenkte er letztlich fünfzehn Werke. Ein Intimus Schostakowitschs, der Weltklassebratschist und legendäre Dirigent des Moskauer Kammerorchesters Rudolf Barschai, bearbeitete vier der Quartette als Kammersymphonien für Streichorchester (Nr. 3, 4, 8, 10), fügte damit auch jeweils eine Kontrabassstimme hinzu. Bei der As-Dur-Kammersymphonie op. 118a führt Lavard Skou Larsen den Dirigierstab, bei op. 110a und bei den Bach-Konzerten sitzt er am Konzertmeisterpult. In beiden Positionen hält er seine Salzburg Chamber Soloists mehr als vortrefflich zusammen und schafft eine einheitlich pulsierende Ganzheit. Ausnahmslos spielen die Musiker auf technisch wie musikalisch allerhöchstem Niveau, selbst in den schwierigsten Passagen behalten sie die Souveränität und fokussieren sich vollkommen auf ihre musikalisch stimmige und feurig innige Darbietung – der Name „Soloists“ ist Programm. Die Einzelstimmen wie ihr Zusammenwirken sind zutiefst empfunden, von der fragilen Solo-Kantilene bis zum brodelnden Lavastrom im Tutti. Die Kammersymphonien beginnen zu atmen und sich wie lebendige Wesen kontinuierlich zu wandeln, die Details in der Momentaufnahme und das Gesamte im Fluss stets parallel im Blick in der hinreißenden Einstudierung Lavard Skou Larsens, der mit seinen phänomenalen Mitstreitern einmal mehr zeigt, was höchste Streichorchesterkultur heute sein kann.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Händel in absoluter orchestraler Vollendung

Georg Friedrich Händel
Orgelkonzerte Op. 7 Nr. 1-6, Fassung für Klavier und Streichorchester
Matthias Kirschnereit, Deutsche Kammerakademie Neuss, Lavard Skou Larsen
cpo 777855-2 (EAN: 761203785520)

Georg Friedrich Händels unsterbliche Orgelkonzerte auf das Klavier zu übertragen: eine wunderbare Idee, denn nicht nur gibt es dadurch endlich auch von ihm Klavierkonzerte, die mehr als attraktiv für den Solisten wie für den Hörer sind, sondern es ergibt sich dadurch die Gelegenheit einer tatsächlich musikalisch differenzierten Gestaltung hinsichtlich Dynamik und Nuancierung der Artikulation, die ungemein belebend wirkt und die Orgel musikalisch weit hinter sich lässt, sofern der Solist der Sache stilistisch gewachsen ist und die innermusikalischen Zusammenhänge tatsächlich erfasst.

Um es vorweg zu nehmen: auch mit dieser abschließenden Folge ist man der ‚Konkurrentin’ Ragna Schirmer in jeder Hinsicht weit voraus, zu nivelliert und eintönig war ihr nur klanglich experimenteller Zugang, der ja damals in einem etwas missglückten Crossover-Versuch ‚kulminierte’. Doch auch Matthias Kirschnereits Darbietung hat ihre Schwächen, wenngleich auf verfeinertem Niveau.

Die eigentliche Sensation dieser Einspielung ist das Orchester. Wohl niemand heute ist in der Lage, Händels Geist in solch emphatisch beschwingter und zugleich endlich mal wieder auch die tieferen Schichten der Musik erspürender Weise aufzuführen. Wie wunderbar bewusst alles artikuliert und wie gesanglich phrasiert das durchgehend ist, wie unwiderstehlich die Themen herausgeschält werden und die Begleitung eben nicht in den eingeebneten Routinemodus verfällt, der sich einstellt, wenn die Inspiration an der Oberfläche – also lediglich auf die offensichtlichen Hauptstimmen bezogen – bleibt. Keine Spur davon. Dieser Händel ist ein Fest ohnegleichen, er knüpft im besten, aufgeklärten Sinne an an die unvergänglichen Dokumente, die wir beispielsweise von Wilhelm Furtwängler oder den Adolf Busch Chamber Players besitzen. Er hat also das Zeug, vielleicht irgendwann als würdiges ‚Weltkulturerbe’ erkannt und gewürdigt zu werden. Ja, in Neuss dreht sich die Uhr der Musik weiter, während sie vielerorts, wo viel mehr mediale Aufmerksamkeit eingefordert wird, stagniert oder sich im Rädchen vermeintlicher Perfektion „zurückdreht“. Man kann eben aus dem vollen Musizieren, muss keine Puppenstuben-Niedlichkeiten oder dümmlichen Grobheiten begehen, um in der Musik jene Ursprünglichkeit, Kraft und Freude wiederzuentdecken, die sie potentiell stets in sich getragen hat. Ungehemmt, ja geradezu ungestüm gelegentlich, in den langsamen Sätzen mit Würde, Tiefe, Pracht und – ja! – Erhabenheit, und niemals ins Willkürliche, Altmodische, Sentimentale abgleitend. Stets schlank, leicht, beweglich und geschmeidig, und dabei in strahlender Fülle und mit jenem innerlichen Prunk geschmückt, wie ihn nur Händel hat, und der, versucht man ihn zu vermeiden, wie eine Amputation wirkt. Skou Larsen und seine hellwache Truppe bringen das singuläre Kunststück zustande, sowohl offenkundig historisch informiert als auch zeitlos im Ausdruck zu sein – das können nur paradoxe Charakterisierungen fassen: spannungsvoll und vollkommen losgelöst, den weit ausschwingenden Bogen mit fein ziselierter Detailkunst überhaupt erst organisch erstehen lassend, rundherum hochkultiviert und immer von entschiedenem Charakter. Solist Kirschnereit hat derart traumhafte Bedingungen für sein Agieren, das bei aller Liebe zum Detail, pianistischen Finesse und wendigen Lyrik die klare Orientierung vor allem hinsichtlich der größeren Entwicklungszüge vermissen lässt. Da er alle dynamischen Möglichkeiten des Klaviers hat, bräuchte es eben nicht jene verspielten Rubati, die fortwährend die durchgängige Kraft und Linie unterbrechen oder schwächen. Doch das Orchester fängt all diese Schlingereien jedes Mal in souveränster und hinreißend klar konturierter Weise auf. So ist es insgesamt doch eine großartige Sache.

Niemand heute vermag Händels Musik auch nur annähernd so reich und charakteristisch aufzuführen. Es wäre der große Wunsch des Rezensenten, dass sich Lavard Skou Larsen und die Deutsche Kammerakademie nun auch der 12 Concerti grossi op. 6 – und, wenn noch ein weiterer Wunsch drin wäre, auch der Concerti grossi von Arcangelo Corelli – annehmen. So gespielt, würde jeder Hörer damit einen Sechser ziehen, mit passender Zusatzzahl, und das ganz ohne Lotto, sondern via cpo in Osnabrück. Nicht aufhören, unbedingt weiter so!

[Ernst Richter, August 2016]

Doppelte Jahreszeiten, neu erlebt

Coviello Classics COV 91514; EAN: 4 039956 915140

0025

Die Salzburg Chamber Soloists sind zusammen mit ihrem Gründer, Leiter und Violinsolisten Lavard Skou Larsen auf ihrer bei Coviello Classics soeben wiederveröffentlichten CD „8 Seasons“ mit Le Quattro Stagioni von Antonio Vivaldi und dem argentinischen Pendant von Astor Piazzolla, Las Cuatro Estaciones Porteñas, zu hören.

Mit Begriffen wie „hervorragend“, „ausgezeichnet“ oder „perfekt“ sollte man heute mehr denn je sparsam umgehen, denn fast keine noch so gute Einspielung hat einen dieser Begriffe wirklich verdient. Wenn jedoch einmal eine CD dieser Adjektive würdig ist, dann zweifelsohne vorliegende Einspielung der vier Jahreszeiten Antonio Vivaldis und Astor Piazzollas.

Wohl kaum ein Violinkonzert ist so häufig gespielt und aufgenommen wie die ersten vier der insgesamt acht Solokonzerte Op. 8 von Antonio Vivaldi, die zusammen die Tetralogie „Le Quattro Stagioni“ bilden. Gerade in Zeiten der so genannten historisch informierten Aufführungspraxis erlebt man bei diesen Werken immer wieder nicht sonderlich viel Neues, die üblichen Darbietungen sind weich gezeichnet ohne Sinn für Kontraste, die malerischen Effekte verschwinden unter einer alles verdeckenden Solostimme, und das Ganze ist auf rein äußerliche Schönheit (statt musikalischem Gehalt) in routiniertem Schema gespielt. „8 Seasons“ mit Lavard Skou Larsen und den Salzburg Chamber Soloists kommt in dieser ins Stocken geratenen Tradition einer Renaissance gleich, oder einer Revolution, und parallel dazu einer kompletten Neuschöpfung. Bereits die ersten Takte öffnen das Tor in eine andere Welt, wie ich sie bisher so nicht zu hören bekam. Von Anfang an erlebt der Hörer eine immens fein ausgestaltete Dynamik mit brillanter Artikulation und einem tiefen Bewusstsein für jedes noch so kleine musikalische Phänomen darin. Die Phrasen werden leicht und vornehm ohne künstliche Betonungen abgerundet und von einem spielerisch diskreten statt wie so oft aufdringlichen Cembalo gestützt. Der Einsatz des Solisten Lavard Skou Larsen wirkt ebenso unmittelbar: Wie irritiert torkelnd erscheint die technisch lupenreine und klangvolle Geigenstimme, als sie plötzlich in dieses Geschehen hineingeworfen wird. Der auf diese Art wohl bis heute einmalige Soloeinsatz, der statt solistischem Aufglänzen zu Beginn eine klar intendierte Verwirrung darstellt, ist für mich erstmalig auch genau als diese erkennbar. Die vier Jahreszeiten, wie so oft bei Vivaldi in formaler Hinsicht keine Höchstleistung, zeichnen sich vor allem durch interessante und noch heute noch neuartig wirkende Klangeffekte aus, besonders auffallend in den Mittelsätzen von Primavera und Estate. Während Skou Larsen mit feinfühlig ausgestalteten Melodien und virtuosen Läufen brilliert, lassen sich die Salzburg Chamber Soloists nicht von dem Schönklang anstecken, sondern kontrastieren gar mit teils krassen Geräuscheffekten und lassen eine leuchtend ausgekleidete Landschaft um das solistische Individuum entstehen. Alle Musiker sind bereit, auch einmal herbe Töne anzustoßen, und so können sie ungeahnt machtvoll erscheinen auch in der Kammerbesetzung. Durchgehend achten die Künstler auf Kontraste und feinste Nuancen in der Musik, die die Klangfinessen eines großen Symphonieorchesters in kleiner Aufstellung heraufbeschwören können, beispielsweise wird im dritten Satz des Frühling ein Dudelsack mit charakteristischem Orgelpunkt täuschend genau nachgeahmt. Hier werden die Noten nicht stur heruntergespielt, sondern sie sind minutiös erarbeitet, jede noch so kleine Feinheit ist abgewogen, gefühlt und bewusst, und es kommt dem Hörer vor, als würde hier dieses bekannte Werk zum ersten Mal überhaupt erklingen, so spontan, unbelastet und frei erscheint es, stets mit innigstem Gefühl und vollster Spielfreude.

Noch weiter kann die Reise kaum gehen, als zum zweiten Werk dieser Einspielung, wiewohl gewisse Parallelen bestehen: Von Europa nach Lateinamerika, vom Barock ins 20. Jahrhundert. Las Cuatro Estaciones Porteñas von Astor Piazolla wurden vom Cellisten José Bragato aus dem Ensemble Piazzollas instrumentiert, da dieser selbst ein weniger beschlagener Instrumentator gewesen sein muss, wie der Autor des informativen und eingängig zu lesenden Booklettextes, Gottfried F. Kasparek, erklärt. Sofort verschlagen die vier Stücke des Zyklus den Hörer in ein unverwechselbar argentinisches Milieu, wo einen herbe Klänge und kratzige Geräuscheffekte sowie auftreibende Rhythmen erwarten. In gleicher Besetzung wie bei Vivaldi (mit der Ausnahme, dass Elena Braslavsky nun am Klavier statt am Cembalo sitzt) entführen die Musiker nun in gänzlich neue Sphären. Der gebürtige Brasilianer Lavard Skou Larsen hat zwar einen gewissen Heimvorteil mit der Musik aus seinem Nachbarland, doch dass auch sein gesamtes Ensemble, die Salzburg Chamber Soloists, einen so natürlich lateinamerikanischen Klang vermitteln können, dass kein Zweifel zu bestehen schiene, dass alle Musiker aus diesen Landen kommen, ist erstaunlich. Die Rhythmik ist derart prägnant und griffig, der Klang wie ausgetauscht in unbändige Wildheit mit einem bewussten Hang zur Geräuschhaftigkeit, und die gesamte Atmosphäre unmittelbar glaubwürdig. Es steckt eine gewaltige Kraft und Energie in all diesen Stücken, stets gepaart mit einer äquivalenten Portion Spiel- und Lebensfreude, und dennoch werden auch die sanften Passagen intensiv durchlebt. So ungebändigt es vielleicht auf den ersten Eindruck wirken mag, ist hier doch alles minutiös ausgearbeitet und ausgestaltet, so dass die detailliert abgestimmte Synchronizität zwischen musikalisch lange einstudierter Finesse und spontaner Wirkung einfach zündet. Hier kommen alle Musiker voll zum Zuge, auch die bei Vivaldi vor allem im Hintergrund agierende Pianistin kann hier ihren gleichmäßig abgestimmten, warmen und perligen Anschlag, dem in gleichen Maßen Lyrik und Energie innewohnt, mit großem Gewinn einbringen. Angenehm ist, dass sie keinerzeit Staccati zu kurz nimmt und sich so in den Streicherkörper ideal integriert, dessen Klang sie wunderbar aufgreift und als gleichwertige Partnerin in ihr Spiel integriert.

Wenn man sich nicht gerade in München oder Köln befindet, so hat ein Jahr bekanntlich vier Jahreszeiten, und zwei solcher Jahreszyklen wurden hier für Coviello Classics in Live-Aufnahmen eingefangen. Und beide so extrem unterschiedlichen Zyklen sind in solch einer bestechenden Qualität von technischer und künstlerischer Perfektion eigentlich sonst nie zu hören. Für mich zwei absolute Referenzaufnahmen, die alle Vorgänger turmhoch überragen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016]