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Gordon Sherwood zum 10. Todestag

Der Lebenslauf Gordon Sherwoods darf mit Fug und Recht als einer der ungewöhnlichsten gelten, die sich in der Musikgeschichte finden lassen. Frühzeitig preisgekrönt und mit einer Aufführung an exponiertester Stelle ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, anschließend in jahrelangen Aufbaustudien bei besten Lehrern ausgebildet, entschied sich der 1929 geborene US-Amerikaner schließlich gegen eine Laufbahn im etablierten Musikbetrieb und zog jahrzehntelang rastlos kreuz und quer über den Globus. Er sah über 30 Länder auf fünf Kontinenten und durchstreifte als Künstler die Musikkulturen der Welt ebenso wie das klassische Erbe der abendländischen Musik. Den Entbehrungen eines strapaziösen Wanderlebens zum Trotz schuf er, unablässig weiter komponierend, ein sich auf nahezu alle Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik erstreckendes Gesamtwerk von bemerkenswerter stilistischer Vielfalt. Vor zehn Jahren, am 2. Mai 2013, endete dieses abenteuerliche Leben im oberbayerischen Peiting. Anlässlich seines Todestages sei hiermit ausführlich an Gordon Sherwood erinnert!

Gordon Holt Sherwood kam am 25. August 1929 in Evanston nahe Chicago zur Welt. Seine musikalische Begabung zeichnete sich früh ab, doch legten seine Eltern keinen Wert darauf. Stattdessen ließen sie ihn zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in Kadettenanstalten unterbringen. Der Drang des empfindsamen Jungen zur Musik wurde durch den militärischen Drill, den er über sich ergehen lassen musste, aber nur gesteigert. Nachdem er 1944 zum ersten Mal Beethovens Siebte Symphonie gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Komponist werden würde. 1950 nahm er ein Musikstudium an der Western Michigan University in Kalamazoo auf, das er 1953 mit dem Bachelor of Music abschloss. Ab 1954 studierte er an der University of Michigan in Ann Arbor und erwarb dort 1956 den Master of Music. Bereits während seiner Studienzeit gewann er 1955 den 1. Preis beim nationalen Wettbewerb für junge Komponisten der National Federation of Music Clubs. Während seines Studiums erschloss sich Sherwood die Vielfalt der zeitgenössischen und historischen Kompositionsstile abendländischer Musik. Die stärkste Wirkung übte das Schaffen Johann Sebastian Bachs auf ihn aus, doch beschäftigte er sich intensiv auch mit allem anderen, was ihm an Musik begegnete, bis hin zu Bartók, Stravinsky, Schönberg und den Nachkriegsavantgardisten. Aus einer Prüfungsaufgabe heraus entstand seine Erste Symphonie op. 3, deren letzte beide Sätze er als „Introduction and Allegro“ 1957 zum 12th Gershwin Memorial Award einreichte. Sherwood erhielt den Preis, wobei die Stimme von Dimitri Mitropoulos den Ausschlag gab, der das Werk anschließend mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall uraufführte. Dies schien der Beginn einer vielversprechenden Karriere zu sein. Sherwood konnte sich in Tanglewood kurzzeitig bei Aaron Copland weiterbilden, und, mit Stipendien ausgestattet, den Sprung über den Atlantik wagen. Seine Studienaufenthalte an der Hamburger Musikhochschule bei Philipp Jarnach und in Rom an der Accademia Santa Cecila bei Goffredo Petrassi krönte er 1967 mit einem weiteren Kompositionspreis.

Den scheinbar folgerichtigen Schritt, sich mit diesen optimalen Voraussetzungen um eine feste Position im öffentlichen Musikleben zu bemühen, tat Sherwood jedoch nie. Anstatt in Europa oder Amerika eine abgesicherte Existenz, etwa als Kompositionsprofessor, zu führen, ging er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth, einer Sängerin aus Hamburg, in den Nahen Osten. Zunächst zogen sie nach Kairo, wo Sherwood die Musik zu Fatin Abdel Wahabs Spielfilm Ard el Nifaq (Land der Heuchelei) komponierte. Von 1968 bis 1970 hielten sie sich in Beirut auf – damals, vor den Verheerungen des Libanesischen Bürgerkriegs, weithin als „Paris des Nahen Ostens“ gerühmt – und verdienten ihren Lebensunterhalt u. a. durch gemeinsame Auftritte in Hotels. Als Bar- und Kinopianist entdeckte Sherwood während dieser Zeit die Welt des Blues, Ragtime und Boogie-Woogie für sich. Nach einem weiteren Aufenthalt in Ägypten und einer Reise durch Griechenland, wandten sich die Sherwoods 1972 nach Kenia und ließen sich in Nairobi nieder, wo sie, unterbrochen durch kürzere Aufenthalte in Mombasa und Nakuru, acht Jahre lang lebten. Hier begann Gordon Sherwood ein Studium in Kisuaheli, das er mit Diplom abschloss. Er bemühte sich um eine Förderung durch die Familie des Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, doch letztlich ohne Erfolg. Zunehmende Ehekonflikte und das Auslaufen der Aufenthaltsgenehmigung ließen ihn 1980 einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen. Er trennte sich von Ruth und begab sich, vom Buddhismus begeistert, auf eine Reise durch Südostasien. Mit seinem letzten Geld flog er von Singapur nach Oslo, von wo man ihn nach London abschob. Nachdem er dort erstmals gebettelt hatte, wurde er in die USA ausgewiesen und fand sich schließlich in einem New Yorker Obdachlosenheim wieder. Nach kurzzeitiger finanzieller Unterstützung durch seinen früheren Studienkollegen George Crumb ging Sherwood 1982 nach Paris.

Zunächst versuchte er dort an ein Geschäftsmodell anzuknüpfen, das er bereits während seiner Zeit im Libanon praktiziert hatte: seine Kompositionen an Passanten zu verkaufen. Bald allerdings merkte er, dass er mehr Geld verdienen konnte, wenn er die Leute direkt um Almosen bat. So entschied er sich für ein Leben nach dem Vorbild buddhistischer Bettelmönche und wurde „Selbst-Sponsor“. Seine Zeit teilte er dabei streng ein: Einen Teil des Jahres widmete er dem Gelderwerb auf der Straße; war er finanziell gut genug abgesichert, zog er sich in Domizile zurück, die ihm Freunde zur Verfügung stellten, um ungestört zu komponieren, oder ging auf Reisen, um sich in fernen Ländern zu eigenem Schaffen inspirieren zu lassen, stets mit einem Diktiergerät und einer Stimmgabel im Gepäck. Vom offiziellen Musikleben mittlerweile völlig abgeschnitten, als Komponist nur einer Anzahl kreuz und quer über die Welt verstreuter Eingeweihter bekannt, wurde er 1995 durch Erdmann Wingerts Filmportrait Der Bettler von Paris einem deutschen Publikum vorgestellt. Die in Deutschland lebende russische Pianistin Masha Dimitrieva sah die Dokumentation zufällig im Fernsehen und nahm sofort Kontakt mit Gordon Sherwood auf, der sich zu dieser Zeit bevorzugt in Costa Rica aufhielt. Ihrem begeisterten Einsatz für sein Schaffen verdanken nicht nur mehrere Kompositionen Sherwoods ihre Entstehung, es gelang ihr auch 2004 dem fast 75-jährigen Komponisten zu seinem CD-Debüt zu verhelfen: Für cpo hatte das Bayerische Landsjugendorchester unter der Leitung Werner Andreas Alberts neben der Ersten Symphonie die Sinfonietta op. 101 und, mit Masha Dimitrieva als Solistin, das Klavierkonzert op. 107 aufgenommen. Nachdem bereits im Jahr 2000 sein in Zusammenarbeit mit der Weltmusikgruppe Die Dissidenten entstandenes, oratorienartiges Werk Memory of the Waters op. 113 (Das Gedächtnis des Wassers, die originale Gattungsbezeichnung lautet „Dokumentar-Oper“) in Berlin erfolgreich uraufgeführt worden war, konnte Sherwood schließlich noch erleben, wie seine Musik allmählich bekannt zu werden begann. Seit 2005 lebte er in der diakonischen Kolonie Herzogsägmühle in Peiting, wo man sein Gesamtwerk digitalisierte. Solange es seine Gesundheit zuließ, unternahm er auch von dort noch Reisen. Er starb 2013, kurz nachdem er die Zusage zur Uraufführung seiner Dritten Symphonie op. 118, der Blues Symphony, erhalten hatte.

Gordon Sherwood war ein unabhängiger Künstler, der ausschließlich Musik schuf, die seinen eigenen Vorstellungen von Schönheit und künstlerischer Vollendung entsprach. So wenig es ihn reizte, auf das Rücksicht zu nehmen, was er einmal als Tagesmode oder Konvention erkannt hatte, so breit gestreut waren seine musikalischen Interessen: Indische Ragas, japanische Tempel- und arabische Volksmusik konnten ihn genauso in ihren Bann schlagen wie Johann Sebastian Bach und die Wiener Klassiker; Thomas „Fats“ Waller und Thelonious Monk nicht weniger als Arnold Schönberg, Béla Bartók und Paul Hindemith. Abneigungen hegte er lediglich gegen primitive Militärmusik und die sentimentalen Lieder Stephen Fosters, die ihn an die traumatischen Erfahrungen seiner Jugendzeit erinnerten und ihm als klingende Entsprechungen materialistischer Weltsicht und entseeltem Funktionierenmüssens erschienen. Reizte ihn dagegen ein klingendes Phänomen zur künstlerischen Auseinandersetzung, so reagierte er darauf ohne Berührungsängste, sei es Musik von der Straße oder Beethovens op. 111.

Eine Entwicklung von einem „Früh-“ zu einem „Spätwerk“ lässt sich bei Sherwood nicht feststellen. Er ist bereits in seinen ersten gültigen Werken ein ebenso stilsicherer wie technisch virtuoser Komponist. Die Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, dissonanzreiche Harmonik, chromatische Melodik, markante Rhythmen, unregelmäßige Metren und konzise Formung aus tonalen Spannungen heraus lässt ihn als Vertreter einer für die USA der 1950er Jahre typischen Stilrichtung erscheinen, die der Musikhistoriker Walter Simmons als „Modern Traditionalism“ bezeichnet hat. Sherwood pflegte dieses Idiom sein ganzes Leben lang gewissermaßen als seinen „Grundstil“. Die von Blues und Jazz inspirierten Werke bauen ebenso darauf auf wie die folkloristischen. Lediglich wenn er streng auf den Spuren der Wiener Klassiker oder Johann Sebastian Bachs wandelt, beschränkt sich der Komponist auf die Kunstmittel der traditionellen Funktionsharmonik, handhabt diese allerdings auf so charakteristische Weise, dass bei aller Anlehnung an die Vorbilder ein „echter Sherwood“ entsteht.

Sherwood war sich sicher, dass sich seine persönliche Ausdrucksweise in jeder seiner Kompositionen zeige, gleich welchen Aufgaben er sich in dem jeweiligen Stück gestellt hatte. Es störte ihn folglich auch nicht, dass sein Werk für manchen Beobachter eklektisch, ja auf den ersten Blick betont uneinheitlich wirken musste. Dabei lag ihm kaum etwas ferner als ein ungefüges Nebeneinander disparater Elemente. Überblickt man sein Gesamtschaffen, so fällt im Gegenteil auf, dass er ganz genau abwog, welche Stile er in seinen Kompositionen wie zusammenbrachte. Das scheinbar ungefilterte Einströmen verschiedenster akustischer Reize gibt es bei ihm sehr wohl. In der autobiographischen Beggar Cantata op. 99, in der er seine Zeit auf den Straßen von Paris thematisiert, dient es ihm als Mittel zur Darstellung des großstädtischen Chaos, mit dem sich der Held des Werkes herumzuschlagen hat. Auf ähnliche Weise lässt er im Gedächtnis des Wassers, ganz unterschiedliche Musikidiome aufeinander treffen, um das kulturelle und historische Erbe der Donauregion zu verdeutlichen. Doch sind dies programmatisch motivierte Einzelfälle. Im Übrigen liegt den Sherwoodschen Kompositionen die Grundidee der Synthese zugrunde: Der Komponist spürt im musikalischen Material Verbindungen auf, um Einheit zwischen verschiedenen Musiksphären zu stiften. Sein Gespür für tonale Zusammenhänge – in klassischem Dur-Moll wie im Blues, im modern-dissonanten Tonsatz wie in nichtabendländischen Volksmusikmodi – ist ihm dabei ein zuverlässiger Kompass. Stets formbewusst, sorgt Sherwood in allen seinen Werken für eine wohlproportionierte Entfaltung der jeweiligen musikalischen Gedanken und tendiert eher zur Kürze als zur Länge. Die meisten seiner sonatenförmigen Instrumentalwerke dauern deutlich weniger als eine halbe Stunde.

Sherwood hinterließ ein Gesamtwerk von 143 Opuszahlen, darunter drei Symphonien, ein Klavierkonzert, mehrere Dutzend Kammermusikwerke vom Solo bis zum Oktett, vier Klaviersonaten und zahlreiche kleinere Klavierstücke, Chormusik von der A-cappella-Motette bis zur symphonischen Kantate und über 80 Lieder. Zehn Jahre nach seinem Tode liegt nur ein kleiner Teil dieses Schaffens gedruckt vor. Fünf Werke (der Klavierzyklus Boogie Canonicus op. 50, die Sonata in Blue für Klavier zu vier Händen op. 66, 4 Duos für Flöte und Viola op. 102, die Blues Symphony op. 118 und 10 Stücke für Altsaxophon solo op. 125) sind bei Ries & Erler erschienen. Die Beggar Cantata und die 3 Stücke für Chor a cappella op. 35 können vom Verlag Sonus Eterna erworben werden. Letzterer hat auch den Großteil der bislang erschienenen Sherwood-CDs veröffentlicht. Unter Federführung Masha Dimitrievas, der Verwalterin des künstlerischen Nachlasses Sherwoods, entstanden bislang jeweils zwei CDs mit Klavierwerken und Liedern (gesungen von Felicitas Breest). In absehbarer Zeit wird sich ihnen eine Aufnahme der Orgelkompositionen, eingespielt von Kevin Bowyer, anschließen. Von Sherwoods Orchestermusik kann man sich durch das bereits erwähnte cpo-Album mit der Symphonie Nr. 1, dem Klavierkonzert und der Sinfonietta ein Bild machen. Für Telos Music haben Matthias Veit und Henning Lucius die Sonata in Blue aufgenommen. Die 4 Stücke für Harfe op. 135 gibt es auf einer Eigenproduktion der Harfenistin Xenia Narati zu hören, das Posaunenquartett op. 87 auf dem Album „Trombonismos“ von Trombones de Costa Rica. Die Dissidenten haben den Uraufführungsmitschnitt von Memory of the Waters herausgebracht. Bei Archipel erschien 2022 die Aufführung des Finales der Ersten Symphonie durch das New York Philharmonic unter Dimitri Mitropoulos aus dem Jahr 1957.

Für weiterführende Informationen stehen Masha Dimitrieva und der Verlag Sonus Eterna zur Verfügung.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2023]

Ein britisches Monster entvölkert die Elbphilharmonie – A British Monster Empties the Elbphilharmonie

[English translation below]

Ein musikalisches Weltereignis durfte man am Sonntag, 15.9.2019 mit Kevin Bowyers Aufführung der 2. Orgelsinfonie des britischen Komponisten Kaikhosru Sorabji (1892-1988) in der Elbphilharmonie bestaunen. War dies doch erst die dritte, zusammenhängende Darbietung dieses mit netto 8½ Stunden Spieldauer wohl längsten nicht-repetitiven Orgelwerkes der gesamten Literatur. Die dortige Klais-Orgel erwies sich als ein klanglich optimaler Vermittler dieser über die gesamte Länge zudem äußerst komplexen Musik. Wie eigentlich immer bei Sorabji mochte – oder konnte – nur ein kleiner Teil der Zuhörer diesem Spektakel bis zum Schluss folgen.

Zunächst einmal muss man der Leitung der Elbphilharmonie höchstes Lob dafür zollen, dass sie es überhaupt ermöglicht hat, dieses ursprünglich bereits für Mai 2018 angesetzte Konzert – der britische Organist musste damals kurzfristig absagen – nun doch noch stattfinden zu lassen. Es gehört Mut dazu, einen Komponisten aufs Programm für den großen Saal (2100 Plätze) zu setzen, der in Deutschland nahezu unbekannt ist, und sich hartnäckig als „Kassengift“ allerhöchster Güte erweist – zumal mit einem Pauschalpreis von nur 40 €. Natürlich ist es fast schon eine Zumutung, auch für das Publikum, die Menschheit mit einer derart langen Klangorgie zu bombardieren – ganz abgesehen von den im Grunde übermenschlichen manuellen wie intellektuellen Anforderungen an einen Interpreten. Trotzdem dürfen die „Macher“ des Hauses das Event als Erfolg verbuchen. Es waren wohl 800 Karten verkauft: Um 11 Uhr erscheinen ca. 650 Zuhörer, von denen nach dem 80-minütigen 1. Satz etwa die Hälfte bleiben. Der zweite Satz mit seiner Dauer von gut 4 Std. bekommt noch eine Pause – nach der 28. Variation, die insgesamt so wie ein Trugschluss wirkt. Bis zu dessen Ende kurz nach 18 Uhr hat sich dann aber längst der „harte Kern“ herauskristallisiert, der auch bis zum Schluss durchhält. Dazu kommen schließlich noch ein paar neue Gäste, denn den zweiten Teil (3. Satz) der Orgelsinfonie konnte man für 20 Uhr separat buchen.

Kevin Bowyer hat sich seit Mitte der 1980er Jahre mit den drei Orgelsinfonien Sorabjis intensiv auseinandergesetzt und den schon über 95-Jährigen – dann bereits im Pflegeheim – noch persönlich kennengelernt. Bowyer hat nicht nur 1988 die erste CD-Aufnahme der 1. Orgelsinfonie (der einzig zu Lebzeiten des Komponisten gedruckten) eingespielt (auf Continuum) – mit 2 Stunden „das Baby“ (Bowyer) –, sondern dann von dieser und den beiden monströsen, bis dato nur als Manuskript vorliegenden Folgewerken, in mühevoller Kleinarbeit wissenschaftlich-kritische Neueditionen herausgegeben. Und schließlich wurde 2010 dann von ihm die 2. Orgelsinfonie (1929-32) in Glasgow endlich aus der Taufe gehoben. Niemand sonst hat sich bisher an diesen Giganten gewagt.

Der Rezensent hatte seine erste Begegnung mit Sorabjis maßloser Musik 1983 (Opus Clavicembalisticum, nachzulesen hier in einer Konzertkritik von 2016). Trotzdem herrscht auch bei mir eine gewisse Anspannung, wie man wohl ein – mit Pausen – 12-stündiges Konzert überstehen würde. Nach einer kurzen Einführung – u.a. mit dem Hinweis auf die 65 Stunden Arbeit, allein die 1475 verschiedenen Registrierungen in die Klais-Orgel einzuprogrammieren – startet Bowyer also den riesigen, dichten Kopfsatz: Quasi atonal und über Strecken „very angry“ (Bowyer). Das Stück folgt keinesfalls der klassischen Sonatenhauptsatzform – Sorabji mochte die Wiener Klassik, insbesondere Beethoven, überhaupt nicht. Vielmehr baut der Satz auf nicht weniger als 16 verschiedenen Themen auf – mit simultan fünf davon startet schon der erste Takt. Hier geht es also – wie vorher im 1. Satz seiner 4. Klaviersonate – nicht um simple Dialektik, sondern eher um eine Art stream of consciousness, wie man ihn aus James Joyces Ulysses kennt, oder zumindest ansatzweise von Busonis Klavierkonzert. Die einzelnen Themen werden permanent umgeformt und treffen in stets neuer Kombination aufeinander, oft mit absurd schwierig auszuführender rhythmischer Komplexität: Die durchgehend vier Systeme sind schwarz von Noten – Reger zum Quadrat. Bowyers Registrierung erweist sich angesichts dieser Notenmassen als erstaunlich durchsichtig und selbst in den dicksten Akkordballungen im Orgelplenum dazu noch klangschön. Dennoch treiben die ersten Höhepunkte mit lang ausgehaltenen ffff-Akkorden schon Teile des Publikums in die Flucht. Die Akustik der Elbphilharmonie ist für diese Musik geradezu ideal; mit dem Hall einer Kirche gingen viele Details verloren, die hier mit hochdifferenzierter Dynamik und immer neuen, abwechslungsreichen Klangfarben alle voll zur Geltung kommen. Eine Zuhörerin, die leider nur bis zum Mittag Zeit hat, sagt mir, dass sie diesen Satz trotz der für sie gewöhnungsbedürftigen Harmonik zu jeder Zeit wie eine „gut erzählte Geschichte“ aufnehmen konnte.

Der zweite Satz – in der Partitur als Thema cum variationibus (49) betitelt, was angesichts Sorabjis Quadratzahlenfetischismus auch zu erwarten wäre, hat tatsächlich 50 (es gibt Var. 43a und 43b). Abgesehen von der immensen Länge ist er wesentlich leichter fasslich als der erste Satz, auch weitestgehend tonal. Unnötig zu sagen, dass der Einfallsreichtum des Komponisten bezüglich Faktur (bis zu 7 Systeme!) und Ausdruck einen wahren Kosmos darstellt, dem sich der Hörer kaum entziehen kann. Und Bowyer darf auch hier wieder mit Klängen bezaubern, die teilweise verrückt und schräg sind – für mich gab es etwas zu viele Tremoloeffekte – aber immer die Struktur und vor allem die Idee dahinter genau treffen. Die Schönheiten erfasst der Hörer am besten mit geschlossenen Augen – dann entsteht ein dreidimensionales, plastisches Klangbild von fast hellsichtiger Klarheit. Was aber auch beweist, wie stark Sorabjis Musik das Gehirn in Anspruch nimmt: Lässt man die – zugegeben auch interessante – Betrachtung eines mit Händen und Füßen geradezu unfassbar agilen Organisten weg, schnappt sich Sorabji sofort auch noch die restlichen, dadurch frei gewordenen Kapazitäten. Die letzten Variationen beziehen nach und nach zusätzlich alle Themen des 1. Satzes mit ein – spätestens bei Var. 48 ist auch hier Schluss mit lustig.

Der nonstop dreistündige dritte Satz Finale. Preludio, Adagio, Toccata et Fuga beginnt zwar ruhig, fast harmlos mit gewissen Bezügen zu Messiaens Le Banquet céleste; ab der Toccata wird es dann aber wild und hochvirtuos. Die abschließende Fuge allein dauert 120 Minuten, ist damit wohl die längste jemals komponierte Orgelfuge, auch in Sorabjis Werk einmalig. Die Komplexität ist unbegreiflich, der Satz – man darf sich da nicht durch das Wort Tripelfuge täuschen lassen – ist fast die ganze Zeit sechsstimmig, von den drei Themen gibt es Durchführungen in allen möglichen Kombinationen, natürlich inklusive Krebs und Umkehrung. Die Konzentration und ständige Handspannung, die hier dem Interpreten abverlangt wird, ist eigentlich unmenschlich. Und wieviele Kilometer mag der Organist heute allein mit den Füßen zurückgelegt haben? Bowyer ist aber nun anscheinend in einem absoluten Flow – er bekommt, und da ist die Orgel natürlich gegenüber den Klavierfugen Sorabjis im Vorteil, auch hier eine Durchsichtigkeit hin, die man nie für möglich gehalten hätte. Der Schlussakkord wirkt dann wirklich wie der Blick vom Mount Everest, oder vom Weltall auf die Erde. Die kaum 100 verbliebenen Zuhörer – auch hier haben noch vor Beginn der Fuge viele der Neuankömmlinge bereits das Handtuch geworfen – geben dem sich bescheiden verbeugenden Kevin Bowyer standing ovations – und sind natürlich auch verdientermaßen ein wenig stolz auf ihr eigenes Durchhaltevermögen. Doch der Applaus gilt definitiv nicht nur der sportlichen Ironman-Leistung, sondern auch der musikalischen Grenzüberschreitung, die Sorabji provoziert. Für sie – den Rezensenten natürlich eingeschlossen – war das in jeder Hinsicht ein großer Konzerttag.


A real musical world event could be marvelled at here in Hamburg’s Elbphilharmonie last Sunday, 15th September 2019. Kevin Bowyer played the 2nd Organ Symphony by the British composer Kaikhosru Sorabji (1892-1988) – only for the third time complete within one day. With its duration of 8½ hours this piece probably is the longest non-repetitive organ work of all time. The local Klais organ proved as an optimal sound agent for this moreover extremely complex music. As always with Sorabji only a small part of the audience liked – or was able – to follow this spectacle to its very end.

First of all Elbphilharmonie‘s management deserves the highest praise for having made this event possible anyway. The performance was initially fixed for a festival in May 2018, but the organist had to cancel it briefly. It needs much courage to put a composer on a program for the large concert hall (2,100 seats), who’s almost unknown in Germany and shows as a persistent box-office poison, especially at a price of only 40 €. Of course, it’s almost an imposition also for the audience, to bomb mankind with such an orgy of sounds – apart from the basically superhuman manual and intellectual demands on the performer. Nevertheless, the house can chalk this event up as a success. 800 tickets were sold: Approx. 650 listeners are appearing at 11 o’clock, half of them will stay after the 1st movement (80 minutes). The 2nd movement of 4 hours duration gets an additional pause – after the 28th variation, which works as a deceptive cadence. The hardcore fans have crystallised out for a long time until its ending at 6 o’clock p.m. – those will stand the whole concert. Finally, there are arriving some new guests at 8 o’clock; the 2nd part (3rd mvt.) of the organ symphony could be booked separately.

Kevin Bowyer has intensively worked on Sorabji’s three organ symphonies since the mid-1980s and still met the composer, then at 95 already living in a nursing home. Bowyer not only recorded the first CD of Organ Symphony No. 1, the only one printed during the composer’s lifetime, in 1988 – “the Baby” (Bowyer): Later he published new critical editions of all three works with painstaking attention to detail. Finally, he premièred the 2nd organ symphony (1929-1932) in Glasgow, 2010. Nobody else has ventured to tackle this giant so far…

The reviewer had his first encounter with Sorabji’s unbounded music in 1983 (Opus Clavicembalisticum, read the story here in a 2016 concert review). Nevertheless, there’s some tension how to stand a twelve-hour – with breaks – performance. After a short introduction with, among other things, reference to the 65-hour work necessary alone for programming the Klais organ with 1,475 different registrations, Bowyer begins with the huge first movement: almost atonal and „very angry“ (Bowyer). The piece doesn’t follow the classical sonata form in any way – Sorabji disliked the Viennese Classic, especially Beethoven. The movement rather is built up of no less than 16 different themes – already the very first bar simultaneously starts with five of them. The matter here, as in the first movement of the 4th piano sonata, isn’t about simple dialectic, more like some kind of stream of consciousness, we know from James Joyce’s Ulysses, or basically from Busoni’s piano concerto. The individual themes are permanently being transformed and clash in always new combinations – resulting in absurd rhythmical complexity most of the time, intricate to play. The non-stop four staves are black of notes – Reger to the square. Bowyer’s registration in view of that massiveness proves astonishing transparency with a certain beauty of tone even in the thickest chordal accumulations. Still the first climaxes with long sustained ffff-chords put parts of the audience to flight. The acoustics of the Elbphilharmonie is really ideal for this music. With the reverberation of a church many details would get lost; here they are shown to their fullest advantage, with subtle nuances of dynamics and varied timbres. A listener, who unfortunately has only time until lunch, tells me, that she received this movement, despite the harmonics she initially had to get used to, like a “well told story” at any time.

The 2nd movement, entitled in the score as Thema cum variationibus (49), what could be expected knowing about Sorabji’s obsession with square numbers, indeed has 50 – there are Var. 43a and 43b. Apart from the immense duration it is much easier comprehensible than the first one, and more tonal, too. Unnecessary to say, that the composer’s inventiveness regarding the musical texture (on up to seven staves!) and expression represents a real cosmos the listener can hardly resist. This again gives Bowyer reason to enchant with sounds, that are partly crazy or strident, but always convenient for the structure and the ideas beyond. For me there are only a little too much tremolo effects. The listener can grasp all this beauty best with closed eyes – then there will emerge a three-dimensional sound shape of shrewd clarity. This shows how demanding Sorabji’s music is of our brain: If you leave out the observation of the incredibly agile organist, Sorabji immediately takes advantage of the capacities thus set free. The last variations gradually include all the themes from the first movement – at the latest from variation 48 onwards the fun’s over.

The 3rd movement Finale. Preludio, Adagio, Toccata et Fuga calmly, almost harmlessly starts with some references to Messiaen’s Le Banquet céleste, from the Toccata on it goes wild and highly virtuoso again – another three hours non-stop. The final fugue alone lasts 120 minutes and is probably the longest organ fugue ever composed, even unique in Sorabji’s output. Its complexity seems unbelievable – you mustn’t be fooled by the term triple fugue – it’s six-part most of the time. There are extensive expositions of all three themes, and everything comes in retrograde, inversion etc. in all possible combinations during the development. The concentration and constantly broad span in both hands demanded from the performer is really tremendous. And how many miles did the organist with his feet alone today? Bowyer apparently is in an absolute flow now – he even here achieves a level of transparency, one never would have believed in. The possibilities of the organ are superior to Sorabji’s fugues for the piano, of course. The final chord in the end indeed has an effect like a view from Mt. Everest, or even outer space, on earth. The hardly hundred remaining listeners – many of the newcomers again have given up already before the fugue – are celebrating Kevin Bowyer, modestly bowing, with standing ovations. They are deservedly a little bit proud of their own stamina. But the applause isn’t only for the outstanding “Ironman” performance, but also for the overstepping of the boundaries, which Sorabji’s music provokes. For the audience, including the reviewer, this was a great concert experience in every sense.

 [Martin Blaumeiser, September 2019]