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Hvoslefs Klavierkonzert endlich auf CD

Simax Classics, PSC1375; EAN: 7033662013753

Unter drei Dirigenten spielt das Bergen Philharmonic Orchestra drei Werke von Ketil Hvoslef. Zunächst hören wir das Klavierkonzert mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes unter Stabführung Edward Gardners, dann „Ein Traumspiel“ unter Eivind Gullberg Jensen und zuletzt „Barabbas“ unter Juanjo Mena.

Vor einigen Jahren hörte ich einen Radiomitschnitt eines Klavierkonzerts: Ich weiß nicht mehr genau, unter welchen Umständen dies war, aber als die Musik begann, vergaß ich Zeit und Raum, war gefangen von diesen einmaligen wie packenden Klängen, die mich bis heut nicht loslassen. Als ich nachher auf die Uhr blickte, waren dreißig Minuten vergangen, die mir vorkamen wie nur wenige Augenblicke. Bei dieser Musik handelte es sich um das 1992 komponierte Klavierkonzert von Ketil Hvoslef, das nun der Widmungsträger Leif Ove Andsnes gemeinsam mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter Edward Gardner auf CD gebrannt hat.

Das Konzert öffnet mit einem Wirbel der großen Trommel und mächtigen Akkorden des Klaviers (beinahe eine Karikatur auf das a-Moll-Konzert Griegs); die Akkorde verklingen nach und nach zu einer Zweitonfigur, bis der Solist seine Finger von den Tasten nimmt – doch noch immer klingt die Figur weiter! Hinter der Bühne steht ein zweiter Flügel, etwas tiefer gestimmt als das Soloinstrument, und erzeugt eine einmalige Echowirkung. Das gesamte Werk strotzt vor solchen Überraschungseffekten, was die Spannung hoch hält. Vom Solisten wird enorme rhythmische Energie und Präzision verlangt, die Akzente der einzelnen Figuren gehen beinahe immer gegen die Taktstruktur und oftmals gegen das gesamte Orchester. So abstrakt die Motive teilweise erscheinen, so sehr gehen sie dabei ins Ohr und schaffen eine stringente Form, die auf enorme Kontraste und perfektes Timing beim Wechsel der einzelnen Abschnitte aufbaut. Im Mittelsatz kehrt das Echo zum zweiten Klavier wieder, hier noch enger geballt. Magisch wirkt der gewaltige Aufbau des ganzen Orchesters inklusive des Solisten, bis allerdings die Spannung kippt und das Orchester wieder verebbt, während aber das Klavier weiter in die Höhe treibt. Hvoslef revidierte das Werk bereits mehrfach, in meiner Partitur sind alleine drei Revisionen bis 1999 verzeichnet; für die vorliegende Aufnahme arbeitete der Komponist noch einmal an dem Konzert. Die Veränderungen betreffen das Finale, in dem eine überraschende Kürzung kurz vor Ende den Kontext strafft. Außerdem überarbeitete Hvoslef den Schluss, der nun nicht mehr so düster wirkt wie zuvor, sondern offener und mit Rückbezug auf das Echo-Klavier. Leif Ove Andsnes spielt das Konzert mit mechanischer Perfektion und präzise ausgearbeitetem Anschlag. Für große Emotion ist wenig Platz in dieser Musik, doch Andsnes gelingt es, ein gewisses Maß an Sentiment und Einfühlung in die Noten zu legen. Dynamisch setzt er minutiös die an die Grenzen der Realisierbarkeit stoßenden Vorzeichnungen um und reißt das Orchester mit, was zu erstaunlichen Kontrasten führt.

Bei den anderen beiden Werken dieser CD-Produktion handelt es sich um Archivaufnahmen: „Ein Traumspiel“ wurde bereits 2011 von Eivind Gullberg Jensen eingespielt, Barabbas geht auf das Jahr 2013 zurück. Das einsätzige Werk „Ein Traumspiel“ basiert auf dem poetischen Drama „Ett drömespel“ von August Strindberg und katapultiert den Hörer vom ersten Ton an in eine magische Welt. Es handelt sich um eines der lichtesten Werke Hvoslefs, das selbst eine ausgiebige tänzerische Passage zulässt (wenngleich die Musik wie fast immer bei Hvoslef im 4/4-Metrum verweilt). Jensen dirigiert das ihm gewidmete Stück mit viel Seele und intuitivem Gespür für Klang. Wie kaum ein anderer Dirigent unserer Zeit versteht Jensen instinktiv die Musik, erfasst organische Formen und große Kontexte, setzt diese auf eine Weise um, die den Hörer direkt ansprechen. Auffällig gerät besonders die Schattierung der kurzen Noten von extremem Staccato bis zu voluminös nachklingenden Akzenten.

Die Oper ohne Sänger „Barabbas“ ist das genaue Gegenteil von „Ein Traumspiel“: sie erkundet die Tiefen und hält eine düster-dramatische Aura aufrecht. Kaum ein Lichtblick glimmt in den drei Sätzen/Akten auf, die Musik treibt vorwärts in einem finsteren Sog voller Leid und Qual. Doch genau hierin liegt auch ihre ureigene Qualität, die den Hörer bannt.  Die drei Sätze zeichnen die Geschichte nach um den Entscheidungsprozess, ob Jesus begnadigt werden soll, oder doch Barabbas. Juanjo Mena geht auf die düstere Haltung der Musik ein und fokussiert den Drang in die Tiefe. Wir kennen ihr hauptsächlich als Dirigenten spanischer Musik; hier zeigt sich, welch einen Tiefgang und Gespür er auch für die nordischen Meister besitzt.

[Oliver Fraenzke, Januar 2020]

Intimität und hochkarätige Konzerte: Festspiele in Bergen 2019

Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen.  Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.

Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs Klavierkonzert.

Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte – schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten. Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik, hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.

Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor.
Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!

Troldhaugen Villa (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.

Griegs Steinway & Sons aus dem Jahr 1892 (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.

In SIljustøl (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.

Das Komponierzimmer Harald Sæveruds (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs 80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von: Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev. 1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen, Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden, gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall, indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie; oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein, bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird; er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben steht.

Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er, während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt. Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen. Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren, dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt. Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich, teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben, den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden Musikern, die so präzise hörten und interagierten.

Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt wurden.

[Oliver Fraenzke, Mai-Juni 2019]

Von Beethoven bis Bierflaschen

Lawo, LWC1130; EAN: 7 090020 181523

Ketil Hvoslef: Chamber Works No. IV; Ricardo Odriozola, Māra Šmiukše (Violin), Einar Røttingen (Klavier), Ilze Klava (Viola), John Ehde (Cello), Steinar Hannevold (Oboe), James Lassen (Fagott), Britt Pernille Lindvik (Trompete), Håvard Sannes (Posaune), Håkon Nilsen (Klarinette)

Die vierte der insgesamt neun CDs mit Kammermusik des norwegischen Komponisten Ketil Hvoslef ist erschienen: Sie enthält das frühe Sextett, das Beethoventrio, das Klavierquintett und den Nordischen Kontrapunkt für Fiedeln und Bierflaschen.

Seine Eigenständigkeit und persönliche Aussage sowie sein instinktives Gespür für Form machen Ketil Hvoslef zu einem der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. 1939 wurde er als jüngster Sohn des großen Symphonikers Harals Sæverud geboren, dessen Ruf zwar kaum die Grenzen Norwegens überschreitet, aber dessen Werke doch von Musikern wie Leopold Stokowski oder Jan Henrik Kayser geschätzt, gespielt und aufgenommen wurden. Als Ketil nach Anfängen als Maler entschloss, sich doch der Musik zuzuwenden, nahm er den Namen seiner Mutter Marie Hvoslef an. Doch woher kam der Entschluss, sich von der bildenden Kunst abzuwenden? Es war das Urteil seines Lehrers, das Hvoslef zu diesem Bruch trieb: es gebe keine eigene Aussage in seinem Werk. Und vielleicht gab dies auch Anstoß zu einer nie endenden Suche nach dem „Eigenen“ in seiner Musik: Hvoslef schwört allen Konventionen ab, hat sich nie den Avantgardisten angeschlossen, den Postavantgardisten, Spektralisten, Minimalisten oder sonst einer Stilgruppe. Stattdessen schreibt er Musik, wie sie in ihm aufkommt und sich in ihm entwickelt.

Die Musik von Ketil Hvoslef entwickelt sich frei und organisch, überrascht den Hörer immer wieder und spielt mit Erwartungen. Der Norweger liebt es, sich selbst Grenzen zu setzen und in seinen Möglichkeiten zu beschneiden, um dadurch einen stringenten Fluss zu fördern, der eben nicht durch eine unendliche Vielzahl an Ideen und Möglichkeiten seinen Lauf verliert. Einfachste Mittel genügen Ketil Hvoslef, um mit ihnen die Spannung aufrechtzuerhalten, ohne gekünstelte Manierismen oder Effekthascherei. Die Musik erregt den Hörer und bannt die Aufmerksamkeit, ein Zurücklehnen oder passives Hören hingegen verwehrt sie vollständig.

Das früheste Werk, das für die CD-Reihe eingespielt wurde, ist das Sextett, welches noch Bezüge zu Strawinsky aufweist und durch kontinuierliche Rhythmik und herbe Kontraste besticht. Dunkel und beinahe gruselig erscheint das Beethoventrio, wenngleich ein heiteres Thema aus Beethovens Trio op. 11 immer wieder dazwischenfunkt – wobei diese Ausgelassenheit durch den Kontext immer weiter in Frage gestellt wird. Der Nordische Kontrapunkt für Fiedeln und Bierflaschen wirkt wie ein humorvolles Intermezzo, und doch handelt es sich um seriöse Musik, die beweist, dass Ketil Hvoslef sogar aus Bierflaschen ein Melodieinstrument zaubern kann. Die Flaschen dienen nicht einem reinen Effekt, sondern geben tatsächlich einen Kontrapunkt zu den beiden Violinen und werden eher wie eine Panflöte behandelt. Das Hauptwerk dieser CD ist allerdings das Klavierquintett, welches Hvoslef dem Pianisten Einar Røttingen widmete, es für und mit ihm schrieb. Es besteht aus einem einzigen Satz, der mit einer Länge von 27 Minuten zu den längsten Kammermusiksätzen des Norwegers gehört. Thematisiert wird die Wechselwirkung zwischen einem Klavier und vier zusammengehörigen Streichern. Das Quintett ließe sich als Anti-Quintett bezeichnen, denn das Klavier ist weder virtuos, noch sticht es als Solist hervor: Hvoslef beschneidet seine Möglichkeiten, indem er nur die nötigsten Töne setzt und dabei aus wenigen nackten Noten den vollen Ausdruck schöpfen will. Das Klavier kämpft meist gegen die Streicher an, aber nimmt doch hin und wieder ihre Ideen und Klänge auf – nicht ohne sie in ganz anderes Licht zu rücken.

Wie auch der Komponist wohnen die meisten Musiker dieser Aufnahme in Bergen und kennen sich, musizieren entsprechen lange Zeit miteinander und mit Ketil Hvoslef. Wir hören ein Klangresultat aus jahrelanger Freundschaft, intensiver Arbeit und Verständnis für diese Art von Musik. Alles ist am rechten Platz, die Musiker spielen wie aus einem Atem heraus und können jedes noch so feine Detail umsetzen: Imponierend gestaltet sich das Finale des Klavierquintetts, welches aus einem sich langsam steigernden Crescendo und ebenso langsam abfallenden Decrescendo besteht, beide beinahe unrealisierbar lang. Doch es gelingt den Musikern, eine absolut konstante Dynamikschwellung zu verwirklichen! Andere Effekte wirken auf subtilerer, unterschwelligerer Ebene, wurden in gleicher Weise fein und bewusst umgesetzt. Hier hören wir eine absolut grandiose Leistung aller Beteiligten, wie sie ihresgleichen sucht.

[Oliver Fraenzke, September 2018]

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Grandiose Kammermusik

Lawo, LW 1066 & 1081; EAN: 7 090020 180694 & 7 090020 180939

Das gesamte Kammermusikwerk des norwegischen Komponisten Ketil Hvoslef wird derzeit für Lawo eingespielt. Die ersten beiden CDs sind mittlerweile erschienen, auf ihnen sind zu hören: Erkejubel, Duo Due, Frammenti Di Roma (I-XI), Scheherazade Forteller Videre, Canis Lagopus, Duodu, Ludium for 7 flutes, Oktett für Flöten, Dano Tiore, Duo for accordions, Quartetto Percussivo.

Obgleich unbestreitbar einer der substanziellsten und eigenständigsten Komponisten unserer Zeit, ist der Name Ketil Hvoslef bisher fast nie in Konzerten oder Einspielungen außerhalb seines Heimatlandes zu hören. Der Norweger wurde 1939 als Sohn des großen Symphonikers Harald Sæverud (bekannt u.a. durch Kjempeviseslåtter oder seine neue Schauspielmusik zu Ibsens Peer Gynt, durch neun Symphonien, seine Instrumentalkonzerte oder brillanten Miniaturen für Klavier) geboren, nutzt als Künstler seit seinem 40. Lebensjahr den Nachnamen seiner Mutter, um nicht mit dem berühmten Vater verwechselt zu werden. Nicht eine einzige Symphonie komponierte Hvoslef bisher, dafür eine große Auswahl an verschiedenartigsten Instrumentalkonzerten (zum Teil für spannende Besetzung wie Violine und Pop-Band oder Flöte, Gitarre und Streicher) und noch weit mehr Kammermusik für die abenteuerlichsten Konstellationen. Diese soll nun für Lawo komplett erscheinen, die ersten beiden CDs sind bereits auf dem Markt.

Der Stil von Ketil Hvoslef ist unverkennbar sein eigener, er gehört keiner Schule an und auch von der Musik seines Vaters setzt er sich klar ab. Die Musik Hvoslefs zeichnet sich aus durch improvisatorisch freie Formen, die stets grenzenlose Inspiration versprühen und dabei trotz aller Freiheit bezwingend stringent sind, immer eine fesselnde Klangmagie entfalten, die schlichtes Material mit scharfen Dissonanzen und rhythmischen Finessen zu unerhörtem Zusammenwirken verbindet, sowie durch eine rücksichtslose Obsessivität, die restlos ausgereizt wird, ohne je ihre Spannung und ihren Zauber zu verlieren oder gar ins Monotone, Redundante umzuschlagen. Dabei hat jedes Stück seinen unverwechselbar persönlichen Charakter, nicht zuletzt indem Hvoslef nur selten die gleiche Instrumentation in zwei Stücken verwendet, und er kann mit absolut jeder nur erdenklichen Besetzung spielerisch umgehen, ohne an Gewandtheit einzubüßen oder nur ein einziges Mal banal zu werden.

Vier Duette finden sich auf den beiden CDs, darunter die beiden hinreißenden Streicherduette Duodu (Geige und Bratsche), welches eines seiner meistaufgeführten Werke ist und dessen Name sich von „du og du!“ (soviel wie „Oh mein Gott!“) ableitet, und Duo Due (zweites Duo) für Geige und Cello. Obwohl die Werke so unterschiedlichen Charakter haben, weisen sie doch beide die oben genannten Charakteristika auf und halten die Spannung von der ersten bis zur letzten Sekunde, ohne jemals abzufallen. Neben einem Duo für Akkordeons gibt es auch ein Duo für Geige und Harfe mit dem Titel Scheherazade forteller videre (Scheherazade weitererzählt), ein besonders interessantes Werk, das dort anknüpft, wo Rimsky-Korsakovs Scheherazade aufhört, und mit orientalischem Flair eine geradezu orchestrale Wirkung entfaltet, dabei immer wieder um kleine Motive kreisend, um die herum sich neue Geschichten entspinnen. Sehr bemerkenswert ist das Flöten-Oktett, welches (wie das Cover zeigt) ein achtbeiniges Wesen – wie einen Octopus – darstellt. Es ist faszinierend, welche Klänge der Besetzung für acht Flöten entlockt werden können, die einen dichten, beinahe an Ligeti gemahnenden Ton bis hin zur fast elektronisch wirkenden Clusterbildung erzeugen können, und wie sich die Flöten tatsächlich zu einem großen Lebewesen einen, das sich fühlend und windend vorwärts bewegt. Nicht weniger ein Highlight zeitgenössischer Kammermusik ist Dano Tiore für Sopran, Violine, Viola, Cello und Cembalo. Anstelle eines sinnigen Textes trägt die Sopranistin Fantasiewörter vor, die lediglich dem Ausdruck der Musik dienen und deren Wirkung intensivieren sollen – eine Rechnung, die frappant aufgeht. Schnelle rezitativische Passagen und geheimnisvolle Kantilenen wechseln sich ab, dem entsprechend stehen klangvolle Streichtrio-Passagen oder trockene Cembalo-Flächen als Begleitung zur Verfügung, die kontrastieren, aber auch sich mischen können. Jedes Werk – auch die hier nicht besonders gewürdigten – besitzt jedenfalls eine vollkommen eigene Persönlichkeit und gibt eine weitere Facette des unbändig kreativen Geists Hvoslefs preis.

Alle Musiker einzeln zu loben würde jeden Rahmen sprengen, so gern ich es tatsächlich machen würde. Doch agieren kurzum alle auf allerhöchstem Niveau und es gibt absolut nichts auszusetzen. Die Werke sind auf kongeniale Weise dargeboten – alles wurde unter Anwesenheit des Komponisten geprobt und eingespielt. Durchgehend ist die Essenz erfasst, die unmöglichsten Schwierigkeiten sind spielerisch gemeistert und alles befindet sich im kontinuierlichen Fluss, der die improvisatorische Leichtigkeit der Form trägt. Die Musiker wirken als Gemeinschaft zusammen und sind in jeder Besetzung in makelloser Synchronizität, in gemeinsamem musikalischen Atem aufeinander eingespielt. Die Musiker sind: Gary Peterson, Britt Pernille Lindvik, John-Arild Suther, Kjell Erik Husom, Einar Røttingen, Alexander Ulriksen, Ricardo Odriozola, John Ehde, Steinar Hannevold, Christian Stene, Per Hannevold, Marija Kadovič, Măra Šmiukše, Ilze Klava, Peter Palotai, Moa Bromander, Sofya Dudaeva, Cecilia Lind, Rebecca Lambrecht, Ingrid Søfteland Neset, Knut Magnus Bøen, Juana Gundersen, Gro Sandvik, Hilde Haraldsen Sveen, Jostein Stalheim, Kai Andre Hansen, Torleif Torgersen, Peter Kates und Manuel Hofstätter.

Die beiden vorliegenden CDs gehören zu den besten Kammermusikeinspielungen der letzten Jahre, sowohl von der künstlerischer Qualität her als auch hinsichtlich der Inspiration und handwerklichen Vollendung der Werke. Gespannt erwarten wir nun sieben weitere CDs!

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Nordlichter am Gitarrenfirmament

SIMAX Classics, PSC1339, Abbey Road Studios; EAN: 7033662013395

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Ausschließlich Musik von Ketil Hvoslef, dem vielleicht spannendsten und gewiss unverkennbarsten norwegischen Komponisten unserer Zeit, findet sich auf dem neuesten Album des norwegischen Gitarristen Stein-Erik Olsen. Zu hören sind das Quintett für Gitarre und Streichquartett von 2004, das Gitarren-Trio SEONVEH – das zudem titelgebend ist – aus dem Jahre 2011, das Doppelkonzert für Flöte, Gitarre und Streichorchester von 1977 sowie die bereits 1966 entstandenen Sechs Stücke für Sechs Saiten. Olsens Mitstreiter sind die Gitarristen Egil Haugland und Njål Vindenes, Gro Sandvik an der Flöte, ein Streichquartett bestehend aus Elise Båtnes, Daniel Dalnoki, Ida Bryhn und Torunn Stavseng sowie das Norwegischen Kammerorchester unter Leitung von Christian Eggen.

Zweifelsohne als einer der substanziellsten zeitgenössischen Komponisten ist der Norweger Ketil Hvoslef anzusehen. Der Sohn des überragenden norwegischen Symphonikers Harald Sæverud beschreitet seit jeher vollkommen eigene Bahnen und löste sich auch ohne Zögern von der Tradition seines Vaters: Nicht eine Symphonie schrieb Hvoslef bisher, dafür eine bemerkenswerte Zahl an Solokonzerten für alle möglichen Besetzungen, teils auch recht ungewohnt wie für singende Säge, für Violine mit Popband, oder für Saxophonquartett. Die Musik von Ketil Hvoslef hat stets einen freien und geradezu improvisatorisch anmutenden Charakter, ist zugleich kraftvoll rau und von enormer Leichtigkeit, und wirkt in höchstem Maße spielerisch. Typisch ist die Zelebrierung von markanten Themen, die gleich einem roten Faden immer wieder auftreten und die Form zusammenhalten. So kann trotz der Freiheiten nie von einer zerfallenden oder gar strukturlosen Musik gesprochen werden, alles hat seinen Platz in den Stücken und nichts scheint unnötig oder zu viel. Obgleich Hvoslef durchaus nach neuen Zusammenklängen und energetischen Bahnen sucht und diese tatsächlich findet, bleibt er instrumental der natürlichen Klangerzeugung verbunden ohne Hinzunahme von reinen Geräuscheffekten. In seiner Orchestration weist Ketil Hvoslef durchgehend höchstes handwerkliches Geschick auf, kombiniert mit nicht endendem, durchaus auch obsessivem Wagemut. Er fordert die spieltechnischen Möglichkeiten der Instrumente bis ans Maximum und schafft es, vollkommen neue Wirkungen beim Zusammenspiel der Instrumente hervorzubringen. Ketil Hvoslef ist zeitgleich ein Neuerer, der einen unverwechselbar eigenen Stil geschaffen hat, als auch ein klassischer Musikant in Bezug auf die absolute Priorität der strukturgebenden Grundpfeiler der Musik: Melodie, Harmonie und Rhythmik – all das ist bei Hvoslef ausgeprägt vorzufinden und in ureigener Weise bis an die Grenzen, ja eigentlich gefühlt über diese hinaus, ausgeschöpft.

Vier Werke bietet die bei SIMAX classics erschienene CD, die in einem Zeitraum von 45 Jahren entstanden. Den Beginn macht das fünfsätzige Gitarren-Quintett von 2004, in welchem das Zusammenspiel zwischen Zupfinstrument und den Streichern des Quartetts ausgelotet wird. Mal wirken die beiden Pole zusammen und ergänzen sich (wie vor allem im dritten Satz), mal spielen sie komplett entgegengesetzte Stimmen (besonders deutlich im zweiten Satz). Auch im einsätzigen Doppelkonzert für Flöte, Gitarre und Streichorchester von 1977 wird das harmonische Zusammenwirken immer wieder unterminiert und nach neuen Konstellationen des gemeinsamen Spiels geforscht. Für Hvoslef stellt dieses Konzert eine imaginäre Liebesgeschichte zwischen den Instrumenten dar, so beginnt die Gitarre von ihrem ersten Einsatz an, sich der anfangs solistisch spielenden Flöte anzunähern, bis sie tatsächlich miteinander zu verschmelzen scheinen – immer wieder kommentiert und reflektiert vom Streicherapparat. Ganz anders begegnet SEONVEH (2011) der Frage nach dem Zusammenspiel: Viel eher schafft das ebenfalls einsätzige Werk – dessen Titel sich aus den Initialen der drei Widmungsträger (und hier Vortragenden) Stein-Erik-Olsen, Njål Vindenes und Egil Haugland zusammensetzt – von Anfang an die Illusion eines großen „Superinstruments“, zu welchem sich die drei sich klangfarblich mischenden Gitarren verschmolzen haben. Zuletzt sind noch sechs Miniaturen für sechs Saiten (also die einer solistisch spielenden Gitarre) aus dem Jahre 1966 zu hören, und auch hier wird das Gefühl von Mehrstimmigkeit evoziert.

Stein-Erik Olsen entlockt seiner von Daniel Friederich gebauten Gitarre ein außergewöhnliches Spektrum an Klangfarben und Nuancen der Schattierung. Die spieltechnisch extremen Anforderungen meistert er mit frappierender Lockerheit und unmittelbar sich übertragendem Verständnis des musikalischen Gehalts. Dynamische Feinheiten bringt er überzeugend und ungekünstelt ans Licht, die stetig wiederkehrenden Motive meißelt er mit charakteristischer Kontur heraus. Auch das Zusammenspiel der drei Gitarristen wirkt hier kein bisschen nivellierend, die drei Stimmen mischen sich sofort und fusionieren zu einer hinreißend vollendeten Einheit.

Gro Sandvik verzaubert auf ihrer Flöte mit einem so strahlenden wie hauchigen Ton von mächtiger Emotionalität und Tiefe des Ausdrucks. Sie kollaboriert fantastisch mit dem Orchester und Olsen, begehrt teils wie vom Komponisten initiiert gegen diese auf und lässt sich dann wieder auf den Ausdruck ihrer Mitstreiter ein. Nicht zuletzt das Orchester unter Eggen und nicht weniger das Streichquartett fesseln durch ihr dichtes und präzise abgestimmtes Spiel, sie übertönen niemals die dynamisch schwächere Gitarre und manifestieren einen vollen Klanggrund sowie in den Soli einen konzis abgestimmten Widerpart. Es wird deutlich, wie stark die intensive Zusammenarbeit aller beteiligten Künstler mit dem Komponisten sich auf ein restlos überzeugendes, suggestiv in Bann ziehendes Ergebnis auswirkt. Tief ist denn auch das grundsätzliche Verständnis seiner Musik, die alle Beteiligten mehr als nur makellos vortragen.

Was soll nach all den Lobesworten noch groß über diese einmalige Musik gesagt werden – sie sollte umgehend ganz einfach gehört werden, und jeder kann sich dem Feuer ihres Genius überlassen!

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Norwegische Impressionen

Das Reisen in andere Länder ist immer auch eine kulturelle Bereicherung, wenn man sich nur darauf einlässt. So war es für mich ein großer Gewinn, eine Rundreise durch eines der für mich schönsten und vielfältigsten Länder zu starten und dort alles nur Mögliche an musikalischen Impressionen in mich aufzunehmen, was sich einem als einfachem Touristen so bietet – in diesem Fall in Norwegen.

Die Musikgeschichte in diesem Land unterscheidet sich grundlegend von der aller anderen Länder. Norwegen ist ein absoluter Sonderfall. Zentraler Grund dafür ist die lange Unterdrückung des heutigen eigenständigen Königreichs zuerst unter dänischer Herrschaft von 1380, als der dänische König Olav Håkonsson Norwegen erbte, bis 1814, und anschließend bis 1905 in Personalunion mit Schweden. Dies hatte zur Folge, dass sich keine höfische Kunstmusik entwickeln konnte, dafür aber die Volksmusik sich wie an kaum einem anderen Ort ausprägen konnte. Natürlich gab es auch Kunstmusik vor der Besatzungszeit; die norwegische Musikgeschichte beginnt nachweisbar ca. 1500 vor Christus, wie Funde von Bronzehörnern zeigen, und auch Lieder aus der Wikingerzeit sind uns heute bekannt, doch herrschte ebenso hier in jüngerer Zeit ausländischer Einfluss vor: 1030 wurde Norwegen christianisiert und der gregorianische Choral eingeführt, der jedoch sehr bald ein nordisches Sonderleben zu führen begann, was im Choralsatz in parallel geführten Terzen ersichtlich ist statt wie auf dem Kontinent in Quint- und Quartparallelen. Während der Personalunion mit Dänemark war der Musikerberuf hauptsächlich ausländischen Stadtmusikanten vorbehalten, die selbstverständlicherweise ihre Musik importierten. So verwundert auch nicht, dass Norwegens frühestes Stück eines namentlich bekannten Komponisten, des Caspar Ecchienus (ca. 1550 – ca. 1600), im niederländisch-polyphonen Stil verfasst ist. Die Volksmusik beschritt einen gänzlich anderen Weg; seit dem Mittelalter finden sich aus sämtlichen Epochen Stoff und Gattungen, von Kæmpeviser – Kampfweisen (heroischen Balladen) – bis zu religiösen Liedern, von Hirtengesängen bis zu ersten dichterischen Formen in etwas späterer Zeit, findet sich alles in den Wurzeln der Volksmusik. Ausländischer kontinentaler Volksliedtanz wurde recht bald verdrängt von noch heute existierenden Tänzen, unter denen die wohl berühmtesten Springar  oder Springdans genannt, Halling und Gangar sind. Besonders für den Solotanz der Männer, den Halling, gibt es heute etliche Wettbewerbe und sogar nordische Meisterschaften, in denen die Tänzer ihre akrobatischen Künste inklusive den so genannten Hallingkast, das Herunterschlagen eines Huts von einer hochgehaltenen Holzstange mit dem Fuß, unter Beweis stellen müssen. Begleitet werden sie dabei von dem urtypischen Instrument Hardingfele (Hardangerfiedel) – einer geigenartigen Fiedel, die neben den vier zu spielenden Saiten auch Resonanzsaiten besitzt, die ihr einen kernigen und bordunhaften Ton verleihen. Ein weiteres typisch norwegisches Instrument ist die Langeleik, übersetzt in etwa Langes Spiel, eine Brettzither mit einer Melodieseite mit Bünden auf dem Griffbrett, sowie mehreren Bordunsaiten, die nur leer angespielt werden können.

1Troldhaugen, Wohnstätte von Edvard Grieg, dahinter rechts der Konzertsaal

Und in diese unvergleichliche Musiktradition verschlägt es mich nun! Die Reise beginnt in Bergen, der zweitgrößten Stadt des Landes und zentralen Hochburg der norwegischen Kunstmusik. Als Geburtsstadt von Norwegens herausragenden Komponisten Edvard Grieg (1843-1907), Ole Bull (1810-1880), Harald Sæverud (1897-1992) und dessen Sohn Ketil Hvoslef (geb. 1939) ist Bergen singulär. Ole Bull war der Revolutionär der Transkription norwegischer Volksmusik – die bereits Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch Hinrich Meyer begann – und der „gute Engel“ Edvard Griegs: dem damals fünfzehnjährigen empfahl er als eine der größten musikalischen Autoritäten des Landes das Studium in Leipzig. Edvard Grieg ist seither international berühmt durch sein Klavierkonzert a-Moll, seine Suite aus Holbergs Zeit, seine Peer-Gynt-Suiten und einige seiner Lyrischen Stücke für Klavier, ist aber auch Autor hervorragender Kompositionen wie einer Klavier-Ballade und eines Streichquartetts (beide in g-Moll), von drei Violinsonaten, einer Cello- und einer Klaviersonate, und etlicher Bearbeitungen nordischer Weisen, die somit kunstmusikalisch geadelt im Konzertsaal ihren Platz finden. Bedauerlicherweise hat im letzten Jahrhundert Harald Sæverud noch nicht die Bekanntheit seines weltweit beliebten Vorgängers erreicht, doch hat auch er eine Peer-Gynt-Bühnenmusik geschaffen und gilt durch seine insgesamt neun höchst eigentümlichen Symphonien als größter Symphoniker Norwegens. Sæveruds Sohn Ketil Hvoslef schließlich beschritt ganz andere Wege und etablierte sich als Komponist einer großen Zahl vor allem von Solokonzerten und Kammermusikwerken im Grenzbereich von fast improvisatorisch wirkender, kontrollierter Spontaneität. Die Wohnhäuser der ersten drei genannten Komponisten sind heute als Museen zugänglich, doch leider erlaubte die Zeit nur einen Besuch in Troldhaugen, der Villa von Edvard Grieg. Unter Leitung seiner Witwe Nina wurde ein Teil des Mobiliars 1928 an die richtigen Plätze zurückgestellt und der Besucher kann einige fast unverfälscht wiederhergestellten Räume besichtigen und sich zurückversetzt fühlen in Griegs Lebzeiten. Der für den nur gut 1,50 Meter großen Edvard Grieg extra tiefgelegte Flügel, die dicken Bände mit Beethovensonaten, auf die er sich zum „Heraufreichen“ an die Tasten eines normalen Klaviers oft setzte, sowie seine Komponierhütte mit idealem Blick auf den Fjord bleiben hier besonders eindrücklich in Erinnerung. Auch die Grabstätte des Ehepaars unterhalb des Hauses ist einen Besuch wert, und hier scheint die Zeit stillgestanden zu haben. Neben dem Haus findet sich ein kleiner Konzertsaal, der zwar von außen mit seinen Betonmauern nicht gerade in die Idylle passt, aber von innen wahrlich eindrucksvoll erscheint und hinter dem Flügel durch eine Glasfassade den Blick auf das kleine rote Komponierhäuschen des Nationalromantikers freigibt. In dieser kleinen Halle werden immer wieder lange Abendkonzerte und halbstündige Lunsjkonserter (Mittagskonzerte) angeboten. Hier wurde auch ich erstmals mit norwegischer Pianistenpraxis vor Ort konfrontiert, Signe Bakke spielte Werke vom Meister. Als erstes Stück war der Kopfsatz seiner e-Moll-Sonate Op. 7 angekündigt, so kam die in Tracht fast ein bisschen an Nina Grieg erinnernde Pianistin auf die Bühne und spielte – den ersten Satz der Suite aus Holbergs Zeit Op. 40! Nun könnte man meinen, Signe Bakke habe einfach nicht genug Zeit gehabt, um die technisch delikate Sonate aufzupolieren, und genau diese Vermutung bestätigte sich auch anhand der oft verstolperten Perpetuum-Mobile-Sechzehntel im Prelude der Suite, die den gesamten Satz durchziehen. Glücklicherweise besserte sich die Ausführung in den folgenden Volksweisen aus Op. 17 und 52 sowie den Lyrischen Stücken aus Op. 43 und 71. Insgesamt war die Tendenz zu beobachten, dass das romantische Element bei Grieg viel zu sehr ins willkürliche Extrem gezogen wurde, zusammenhangslose Rubati und unbedachte sowie auch unsangliche Phrasierung war der Regelfall – ein Phänomen, dass mir mehrfach bei norwegischen Pianisten ins Auge stach! Doch plötzlich tat sich eine neue Welt auf, als Signe Bakke eine Stelle im Volksmusikcharakter authentisch wiedergab: Kurzzeitig machte sich der Eindruck breit, es spiele eine Hardingfele und kein Klavier mehr; so wurde jedes Volkslied und jeder Volkstanz zu einem einmaligen Erlebnis und der Springdans im berühmten Det var en gang (Es war einmal) avancierte zu einem hinreißenden Tanzcharakter von vollendeter Klangschönheit, wenn auch leider umgeben von einem überemotionalen und somit aufgesetzt wirkenden Andante-Rahmen, bei dem jede Auflösung, als sollte es absichtlich genau gegen die Natur sein, einen besonders starken Akzent erhielt. Nichts desto Trotz kann man hier lernen, wie die nordische Fiedelmusik auch auf dem Klavier einen stattlichen Charakter und Fülle entfalten kann.

2Das Instrumentenmuseum Ringve von außen

Trondheim hieß die nächste Station musikalischer Erfahrung, Heimatstadt von Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887), der jahrelang durch Norwegen reiste und Volksmelodien sammelte, welcher er fürs Klavier gesetzt in den Ældre og nyere norske Fjeldmelodier publizierte, die als wichtigste Volksmusikquelle auch für Edvard Grieg dienten. Etwas außerhalb der Stadt befindet sich das Ringve Museum, eine ehemalige Landvilla, die von den kinderlosen Besitzern, leidenschaftlichen Instrumentensammlern, als Erbe für die Gemeinschaft zum Musikinstrumentenmuseum umfunktioniert wurde. Hier steht alles auf Musik, schon bei der Ankunft wurden wir begrüßt von schwedischen Volksweisen auf der Geige, und auch zu Beginn der Führung im Herrenwohnsitz genossen wir zu Ehren der russischstämmigen früheren Besitzerin gespielten Rachmaninoff auf dem historischen Flügel. Im Museum selbst befindet sich ein kleiner Konzertsaal, in dem die Entwicklung des modernen Klaviers vom Clavichord bis zum Konzertflügel anhand jeweils zeitgenössischer Stücke wirkungsvoll demonstriert wurde. Auch eine Kostprobe von Hardingfele und Langeleik wurden gegeben, was immer wieder aufs Neue verzaubert. Hier gibt es die nordische Musikkultur noch zum Anfassen! Weiter geht die Führung in die faszinierende Sammlung unzähliger teils noch nie gesehener Instrumente. Der erste Raum ist bestückt mit paneuropäischen Instrumenten, einheimische Sammlerstücke stehen neben kontinentalen Raritäten, so zum Beispiel wunderschön erhaltene Klavierinstrumente und sogar ein Harfenklavier. Ein Zimmer weiter wird es interkontinental, afrikanische Rhythmusinstrumente und amerikanische elektronische Gerätschaften locken den Besucher an, sie einmal auszuprobieren: Highlight hierbei unbestritten das spielbereite Theremin, bei dem durch Annäherung an zwei Antennen Tonhöhe und Dynamik bestimmt werden können, allerdings entgegen der unmittelbar instinktiven Assoziation derart, dass die Lautstärke mit wachsender Entfernung zunimmt und das Gerät bei der Berührung verstummt. Eine kleine zweite Ausstellung widmet sich hauptsächlich der norwegischen Musik, hier sind besonders rare Sammlerstücke und auch Trachtenkleidung ausgestellt. Die Führer im Ringve, überwiegend ausgebildete oder in Ausbildung befindliche Musiker, sind sehr kompetent und gerade im direkten Gespräch sehr offen für Hintergrundinformationen zu einzelnen Ausstellungsstücken. Alle können sie ihr Instrument spielen und lassen aus einem normalen Museumsbesuch ein akustisches Erlebnis werden mit einer solchen Vielzahl an unerhörten Klängen, wie man sie sonst wohl nirgends so hautnah und live zu hören bekommen dürfte.

        3       4       Die Eismeerkathedrale und Tromsø nach Mitternacht

Nicht vergessen werden darf auch ein Konzert in der zum Wahrzeichen gewordenen Eismeerkathedrale in Tromsø. Touristen wird hier ein Mitternachtskonzert geboten. Mitternacht auf der anderen Seite des Polarkreises ist allerdings etwas vollkommen anderes als in Deutschland: Während es im Winter grundsätzlich dunkel ist, geht nun im Spätsommer die Sonne erst gegen Mitternacht unter, ein heller Schimmer am Horizont verschwindet die ganze Nacht lang jedoch nicht. Zwischen prachtvollen gläsernen Front- und Rückwänden bieten die Sopranistin Berit Norbakken Solset, der Cellist Georgy Ildeykin und der Pianist Robert Frantzen ein gemischtes Programm nordischer Musik, darunter teilweise Folklore, dar, wobei auch zentraleuropäische und sogar samisch-einheimische Elemente Einzug finden. Neben eher selten gehörten Werken des Grieg-Vorgängers Halfdan Kjerulf und des Zeitgenossen Johan Mahtte Skum stehen auch Klassiker wir Griegs Lied Jeg elsker dig (Ich liebe dich) und erneut Det var en gang auf dem Programm. Auch hier geraten gerade die volksnahen Stücke zu einem besonders stimmungsvollen Ereignis, Solset bezaubert durch glänzendes Einfühlungsvermögen in die bäuerliche Tradition und lässt ihre fast etwas chansonartig wirkende Stimme in der Höhe brillieren. Ihre Mitstreiter können sich angemessen einfügen und unterlegen die dominierende Stimme mit stets passender Begleitung. Robert Frantzen präsentiert auch ein eigenes Duo-Stück für seine kleine Tochter mit dem Cellisten, ein gelungenes Werk mit neoromantischem Gestus. Ein wenig enttäuschend sind auch hier wieder die bekannten Programmpunkte: Bachs Prélude aus der Suite für Violoncello Nr. 1 in G-Dur BWV 1007 gerät strukturlos, wobei routinemäßig stets auf der Takteins ritardiert wird, Jeg Elsker Dig erfährt auch standardisierte Verzögerungen und extreme mechanische Betonungen der Spitzentöne, und Det var en gang ist hier ein formloses Stück überschäumender und offensichtlich äußerlich prätendierter Emotion. Doch will man Unbekanntes entdecken, so sei dieses Konzert trotzdem nachdrücklich empfohlen, denn gerade erst bei den fast vergessenen Werken blühten die Musiker richtig auf, und derart werden Volksweisen, samische Joiks und Lieder vergessener Komponisten zu kleinen, brillanten Meisterwerken, die in ungewohnt guter Qualität und optisch atemberaubendem Umfeld noch mehr an Wirkung gewinnen.

5Die malerische Landschaft im Trollfjord

Schon sehr lange Zeit hat besonders die norwegische Musik mein Herz gewonnen; diese im positiven Sinne naive Haltung, die Naturverbundenheit, dieses Gefühl von Freiheit, aber auch von Melancholie und archaischen Uremotionen der Menschen, die diese Musik enthält wie sonst nichts mir Bekanntes, hat mich von Anfang an nicht unberührt lassen können. Dies alles zum Ausdruck zu bringen ist eine ungeahnt diffizile Aufgabe für jeden Musiker, und viele scheitern an der idiomatisch angemessenen Ausführung selbst der leichtesten Werke von Edvard Grieg und anderen nordischen Komponisten. Oft habe ich den Eindruck, als flösse zu viel Künstelei und Falschheit in diese so schlichte und natürliche Quelle unbelassener Energie ein, anstatt dass der Künstler sich öffnet für die subtile Unmittelbarkeit und grundlegende Natürlichkeit, die alles durchströmt. Vieles ist mir klar geworden alleine durch den Anblick der Fjordlandschaften: Welch ein unbeschreibliches Gefühl es ist, mit dem Schiff in den Trollfjord hineinzufahren und zu spüren, wie hoch sich um einen herum die Berge auftun, zu erfahren, wie märchenhaft und fast unwirklich diese Landschaften wirken und wie sehr man sich zuhause fühlen kann in dieser Fantasielandschaft, die eine mysteriöse Art von Geborgenheit vermittelt. Jeder Augenblick gibt etwas Neues, nie kann man ermüden: Einfach nur zu schauen und zu spüren, wie sich Landschaften verändern, unzählige Erhebungen und Inseln vorüberziehen oder plötzlich Tiere vorbeihuschen. Genau das ist das Gefühl, was auch in nordischer Musik in Töne gebannt ist und welches es heraufzubeschwören gilt – nicht mit Professionalität alleine ist dies zu machen, sondern nur mit einem offenen, neugierigen Geist.

[Oliver Fraenzke, September 2015]