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Tolle Repertoire-Entdeckungen des Expressionismus

Oehms Classics, OC 491; EAN: 4 260034 864917

Judith Igolfson (Violine) und Vladimir Stoupel (Klavier) widmen sich in ihrem bei Oehms Classics erschienenen Album expressionistischen Violinsonaten von Karol Rathaus, Heinz Tiessen und Paul Arma aus den Jahren 1925 und 1949. Die beiden letzteren Werke werden hiermit zum ersten Mal auf CD vorgelegt.

Diese CD ist eine große Überraschung, eine tolle Sache. Ich muss gestehen, mich immer noch darüber zu wundern, dass sie ausgerechnet bei einem so spießigen Label wie Oehms Classics erschienen ist, wo man praktisch gar keinen Wert auf Repertoireentdeckungen legt und eigentlich immer nur im kommerziell sicheren Fahrwasser von gängigen Symphoniezyklen und gehypten Opernproduktionen unterwegs ist, die von mittelprächtig bekannten Orchestern und Dirigenten aufgeführt werden, meist nur zur Selbstprofilierung der betreffenden Häuser und ohne Relevanz für den nationalen wie internationalen Tonträgermarkt. Naja, auch ein blindes Huhn wie Oehms kann gelegentlich ein goldenes Ei vorzeigen, wenn’s ihm andere (also hier die eigenwilligen Künstler und die finanzierende Koproduktionsanstalt Deutschlandfunk Kultur) ins Nest legen – obwohl: bei EDA, Genuin, Audite, Neos, um nur mal ein paar deutsche Labels mit ernsthafterem Anspruch zu nennen, wäre diese CD besser aufgehoben gewesen als beim zwar gut vernetzten, doch total unglaubwürdigen Oehms. Aber gut, kommen wir zum Inhalt:

Das Programm ist ausgesprochen spannend und in der expressionistischen Grundhaltung dramaturgisch so schlüssig wie überraschend abgestimmt. Der hochbegabte Schreker-Schüler Karol Rathaus (1895–1954) aus Tarnopol lebte in Berlin, als er 1925 seine dreisätzige, ausgesprochen individuelle Sonate für Geige und Klavier op. 14 schrieb – in dissonanzfreudiger freier Tonalität – ein durchweg fesselndes Werk. Mit Beginn des Dritten Reichs emigrierte Rathaus nach Paris, dann London, und schließlich 1938 nach New York. Er sollte wieder häufiger gespielt werden, gerade seine gehaltvoll expressive Orchestermusik würde die monotonen Spielpläne unserer Konzertsäle bereichern.

Der Ostpreuße Heinz Tiessen (1887–1971) wirkte schon recht früh in Berlin, wo er bis zu seinem Tode ein hochgeachteter Lehrer war, dessen Schule so bedeutende Musiker wie Eduard Erdmann, Wladimir Vogel oder Sergiu Celibidache durchliefen. In den ruhelosen 1920er Jahren gehörte er als Mitglied der fortschrittlich-linken Novembergruppe zu den großartigsten Komponisten des deutschen Expressionismus, und nun legen Ingolfsson und Stoupel hier die Ersteinspielung seiner einzigen, im gleichen Jahr 1925 komponierten Duo-Sonate op. 35 für Geige und Klavier vor. Vor allem der langsame Satz und große Teile des Finales gehören zum besten und originellsten, was für diese Kombination in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde, und es ist wirklich seltsam, dass niemand vorher auf den Gedanken kam, diese Musik, die einst von Georg Kulenkampff aufgeführt wurde, auszugraben. Eine ganz große Entdeckung!

Die vielleicht größte Überraschung freilich ist die 1949 komponierte Sonate von Paul Arma (1905–1987), geboren als Imre Weisshaus in Budapest, Schüler Bartóks, ab 1931 Assistent von Hanns Eisler in Berlin, 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflohen, dort Mitglied der Résistance, ab 1958 französischer Staatsbürger und ein äußerst fruchtbarer Komponist, den man vor allem seiner Flötenwerke wegen kennt. Er hat aber auch viel erstklassige Musik für andere Instrumente verfasst, zu welcher auch vorliegende Sonate gehört, die aus dem Manuskript ersteingespielt wurde. Diese Sonate ist den Instrumenten weniger „auf den Leib geschneidert“ als die Sonaten von Tiessen und vor allem Rathaus, sie ist eher strukturell konzipiert, mit viel dunklen Beleuchtungswechseln, scharfen Kontrasten, Erkundung sparsamer und langsamer Regionen. Aber immer ausdrucksvoll und sehr spannend. Der Kopfsatz dauert geschlagene 16 Minuten (so lang wie die gesamte, sehr dicht gebaute Tiessen-Sonate).

Die CD ist sehr solide musiziert, in jeder Hinsicht untadelig in der Geige, von offenkundigem Gestaltungswillen auch im Klavier, wo lediglich ein paar sehr aufgeraute Forte-Akkorde und vor allem das recht unorganische Rubato (vorschriftsgemäß zwar, doch zu eckig, nicht aus der Musik gewachsen) noch von geistiger Nachbesserung profitieren würden. Der Aufnahmeklang ist ebenfalls solide, die Kommentare der Künstler im Beiheft sind knapp aber korrekt. Am geringen Umfang von Letzterem zeigt sich, wie Oehms Classics diese eigentlich sensationelle Produktion behandelt.

[Sara Blatt, Oktober 2021]