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Emil Gilels zum 100. Geburtstag

Am 19. Oktober 2016 wäre Emil Gilels, dieser Titan unter den Pianisten des 20. Jahrhunderts, 100 Jahre alt geworden. Wie David Oistrach, der überragende Geiger seiner Epoche, wurde er in Odessa geboren, wäre also nach heutigen Maßstäben Ukrainer. Doch kulturell besteht kein Unterschied zwischen Russen und Ukrainern. Und auch, ihn der „russischen Schule“ zuzuordnen, führt schlicht in die Irre. Gilels war als Musiker ein einzigartiges Phänomen, und sicherlich der musikalisch und klangliche vollendetste Pianist, den Russland (oder eben seinerzeit die Sowjetunion) hervorgebracht hat. Was für ein Unterschied zwischen ihm und Svatoslav Richter, dem anderen großen Schüler des legendären Heinrich Neuhaus: Richter, der geniale Sucher, und Gilels, der geniale Finder, um es auf den knappsten Nenner zu bringen. Leider starb Gilels viel zu früh, am 14. Oktober 1985, also fünf Tage vor seinem 69. Geburtstag. Er wurde das Opfer eines Kunstfehlers. Bei einer Routineuntersuchung in einem Moskauer Krankenhaus erhielt er eine falsche Injektion und war binnen weniger Minuten tot. Sein geplantes Gesamtaufnahmeprojekt der Beethoven-Sonaten für die Deutsche Grammophon blieb kurz vor der Zielgeraden unvollendet. Nun  hat das russische Staatslabel zu seinem 100. Geburtstag eine Luxusedition mit 50 CDs zum stolzen Preis von 400 Euro veröffentlicht, das viele bislang unveröffentlichte Mitschnitte enthält und mit einer limitierten Auflage von 2016 Stück bereits fast vergriffen ist. Eine Zeitungsannonce in Russland genügte, und schon hatten viele das Nachsehen… Doch freilich herrscht kein Mangel an Erhältlichem.

Was machte die einzigartige Kunst Gilels’ aus? Es ist oft die Rede vom „goldenen Klang“, von der zutiefsten Ernsthaftigkeit, von der vollendeten technischen Beherrschung, von der strukturellen Strenge, die gleichwohl der Wärme und Leidenschaft keineswegs entbehrt. All das ist richtig. Seine natürliche, runde Wucht, seine filigrane Luzidität, überhaupt die „Natürlichkeit“ seines Spiels wurde stets gerühmt, und eben nicht nur von Kritikern und Strippenziehern, sondern auch von so herausragenden Musikern wie Rudolf Barschai oder David Oistrach. Barschai berichtete, dass es nie auch nur die geringsten psychologischen Schwierigkeiten beim gemeinsamen Musizieren gab, dass Gilels zugleich auf höchster Vollendung bestand und wie kein anderer mit dem Orchester oder in der Kammermusik mit den Streichern zu verschmelzen verstand. Für viele mag überraschend sein, dass dieser Mann, dessen Beethoven, Chopin, Tschaikowsky, Rachmaninoff, Prokofieff oder Schostakowitsch zu Recht aufs Höchste gepriesen wurde, ein phänomenaler Haydn- und Mozart-Spieler war. Und dies eben nicht nur, wenn er alleine spielte – man muss nur die wunderbare Aufnahme von Haydns F-Dur-Sonate mit seiner Schwester, der Geigerin Elisaveta Gilels, hören. Auch Couperin, Scarlatti oder Rameau fanden in ihm einen hinreißenden Meister, und unter den heutigen verehren ihn Klavierhelden wie Grigori Sokolov wie einen Gott. Wie auch anders – seine Fähigkeiten erscheinen unbegrenzt, und fast hätten wir noch erleben dürfen, dass er in München mit Celibidache aufgetreten wäre. Was für ein Zusammentreffen, das nur der so unerwartete Tod verhindern sollte.

Aber ich kann hier natürlich noch viel erzählen… Also lasse ich, unter Verweis auf ergiebiges Material im Internet, lediglich noch ein paar CD-Empfehlungen folgen, auch wenn dies niemals ersetzen können wird, dass wir ihn im Konzert nicht erlebt haben. Rechtzeitig hat die Deutsche Grammophon sämtliche je von ihr veröffentlichte Gilels-Aufnahmen in einem schmucken 24-CD-Schuber zusammengefasst (DG 479 4651) – da sind natürlich die bis auf fünf Sonaten kompletten Beethoven-Sonaten dabei (nur wenige konnten die Hammerklavier-Sonate ähnlich souverän meistern), herrlicher Mozart, die Brahms-Konzete, Chopin, Lyrische Stücke von Grieg, und viel Kammermusik und Konzerte, unter welchen ich das 3. Prokofieff-Konzert mit Kondraschin besonders erwähnen möchte. Von Warner gibt es in der Icon-Serie eine Zusammenstellung der kompletten Emi-Aufnahmen auf 9 CDs, wo sich gleich zweimal die fünf Beethoven-Konzerte befinden (einmal mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell) und die drei Tschaikowsky-Konzerte, das 3. Rachmaninoff-Konzert usw. Sony hat in diesem Jahr sämtliche RCA-Aufnahmen Gilels’ auf 7 CDs wiederveröffentlicht, darunter das 1. Tschaikowsky-Konzert und das 2. Brahms-Konzert mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner, zwei Schubert-Sonaten, Liszts h-moll-Sonate und Schostakowitschs 2. Sonate, Bach und Chopins 1. Konzert mit Ormandy (Sony Classical 88875177312). Und mit einem ganz besonderen weiteren 4-CD-Juwel wartete Melodiya auf: ‚Emil Gilels in Ensembles’ – neben besagter Haydn-Sonate mit seiner Schwester fulminantes Duo-Spiel mit Yakov Zak und Yakov Flier, das 1. Klavierquartett von Brahms, die Beethoven’sche Hornsonate op. 17 mit Yakov Shapiro und das Klaviertrio in cis-moll von Andrey Babayev (Melodiya MELCD 10 02210). Also: Hören und selbst erfahren, was ein vulkanischer Künstler, der sich niemals gehen ließ, uns zu schenken imstande war. Für alle Pianisten ist Gilels ohnehin zeitloses Pflichtprogramm, und eine schönere Pflicht kann es kaum geben…

[Christoph Schlüren, Oktober 2016]

The New Listener feiert Geburtstag

Liebe Leserinnen und Leser,

nun ist es tatsächlich schon ein Jahr her, seit The New Listener seine Pforten öffnete, und entsprechend ist die Zeit gekommen, einen ersten Rückblick zu wagen und natürlich auch, um Danke zu sagen.

Es ist viel geschehen im vergangenen Jahr und ich bin selbst erstaunt und erfreut, wie schnell sich The New Listener entwickelt hat und wie viel Zuspruch der Blog schon nach kürzester Zeit erfuhr und immer mehr erfährt. Doch will ich anlässlich des heutigen Jubiläums von vorne beginnen: Es ist vielleicht bekannt, dass die Entstehung von The New Listener auf Dr. Rainer Aschemeiers Blog „www.the-listener.de“ zurückgeht, welchen er bereits 2003 gegründet hatte und nach elf Jahren im Dezember 2014 aus beruflichen Gründen schließen musste, da er eine Stelle als Pressesprecher in der Musikbranche erhielt, was unvereinbar mit der Aufgabe eines nicht interessengebundenen Rezensenten ist. Zu dieser Zeit begann ich, für verschiedene Medien zu rezensieren und Erfahrungen zu sammeln. Als ich schließlich auf den geschlossenen Blog Rainer Aschemeiers stieß, war meine Begeisterung für die Besprechungen auf dieser Plattform groß und bald schon der Plan geboren, diese Seite zu reanimieren und fortzuführen. Die Realisierung dessen scheiterte anfangs an einem Mangel technischer Kenntnisse, doch glücklicherweise erhielt ich bald Hilfe: Julius Reich, selbst ein wunderbarer Musiker, ermöglichte mir dankenswerterweise, die technischen Hürden zu überwinden: Er designte und programmierte alles, was heute unser Layout ausmacht. Von ihm stammt auch das Design für unsere CD-Cover, welches seit der Rezension „Der andere Wieniawski“ von Liv und Marian Migdal im Februar im Gebrauch ist.

Am 28. Juli 2015 schließlich wurden die ersten zwei Rezensionen veröffentlicht, The New Listener trat zaghaft ans Licht der Öffentlichkeit. „Divergierende Werke des 21. Jahrhunderts“ heißt der erste Text und behandelt Werke für Streichtrio und -quartett, gespielt von Stimmführern des Orchesters der Akademie St. Blasius – darauf bezugnehmend wird zur Feier des heutigen Tages noch eine CD-Rezension über selbiges Orchester erscheinen. Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, vom ersten Tag an als Mit-Initiator dabei, veröffentlichte am gleichen Tag noch eine Rezension über die geniale Pianistin Ottavia Maria Maceratini und ihr Debüt in der Berliner Philharmonie mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Gustavo Gimeno. Im kommenden Monat begann auch Peter Fröhlich, für The New Listener zu schreiben, einen Monat später Ulrich Hermann, welcher bereits für Dr. Aschemeiers The Listener tätig war und äußerst rege und couragiert kontrovers agiert. Weitere Autoren folgten: Hans von Koch, Grete Catus, Stefan Reik, Georg Glas, Josef Rottweiler, Paul Prechtel, Raphael Buber, Ernst Richter – sie alle trugen zum schnellen Aufstieg von The New Listener bei.

Am 10. Januar eröffnete The New Listener zudem eine Facebookseite für all diejenigen, die unsere Publikationen direkt auf ihrer Pinnwand sehen wollen.

Von Beginn an war es mein Hauptanliegen, nicht primär über die großen Namen und stark beworbenen Einspielungen zu schreiben, sondern gerade auch für unbekanntere Musiker und Komponisten zuständig zu sein, denen auf anderen Plattformen keine oder viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das ist gewiss einer der wichtigsten Aspekte – vielleicht neben der häufig weit überdurchschnittlichen Länge und Detailgenauigkeit der hier erscheinenden Rezensionen -, die The New Listener ausmachen. Es ist mein größter Wunsch, daraus resultierende Erfolg zu sehen in Form von Aufführungen, Einspielungen oder allgemein größerem Interesse am einen oder anderen der hier vorgestellten Komponisten, die noch zu wenig Aufmerksamkeit genießen.

Und nun, wie geht es weiter? Auch wenn ich auf ein schönes und ereignisreiches Jahr zurückblicke, sind wir natürlich noch lange nicht dort, wo wir hin wollen. Die Reise hin zur Musik endet ja bekanntlich nie, so unendlich viel gibt es zu erforschen, doch wir haben gerade erst die Segel gehisst. Wir streben nicht danach, die inhaltliche Qualität einfach nur aufrecht zu erhalten, sondern sie mit jedem neuen Text zu erhöhen, an jeder Besprechung zu wachsen und unsere Qualität weithin auszustrahlen. Genau so wie ich kritisch höre, betrachte ich auch mein eigenes Resultat durchgehend selbstkritisch und werde mich auch nie zufriedengeben. Dies ist die Maxime, mit der ich jeden Tag aufs Neue ans Werk gehe, um an mir selbst Schritt für Schritt zu arbeiten.

Zuletzt gilt es noch, einen weiteren Dank auszusprechen: Und zwar an diejenigen, ohne die alle in The New Listener gesteckte Arbeit sinnlos wäre, ohne die diese Plattform gar nicht erst auf diese Weise existieren würde. Und das sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, die unsere Texte verfolgen und uns immer wieder besuchen. Ich weiß, dass unter Ihnen einige professionelle und zum Teil sehr bekannte Musiker sind, aber auch Studierende oder bald-Studierende ebenso wie Liebhaber klassischer Musik – und ich bedanke mich bei jedem einzelnen auf die gleiche Weise, denn es ist die Musik, wo gilt: „Alle Menschen werden Brüder“. Danke, dass Sie dieses eine Jahr The New Listener mit ermöglicht haben, und ich hoffe, dass wir auf dieser Seite noch viele Jahre gemeinsam verbringen werden,

Ihr Oliver Fraenzke