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Vom Wesen der Kammermusik – Wieniawski und Bruckner mit dem Glière-Quartett

DUX, DUX1918; EAN: 5 902547 019840

Das Glière-Quartett hat für Dux das Streichquartett a-Moll op. 32 von Józef Wieniawski (1837–1912) gemeinsam mit dem Streichquartett c-Moll WAB 111 von Anton Bruckner (1824–1896) eingespielt.

Es bedarf meist nur der ersten Töne einer Aufführung oder Aufnahme, um gleich zu wissen, mit wem man es zu tun hat. So ist es auch bei dem in Wien beheimateten Glière-Quartett und seiner neu herausgekommenen CD mit den Streichquartetten in a-moll op. 32 von Józef Wieniawski und dem in c-moll WAB 111 von Anton Bruckner.

Nach den ersten Tönen hören wir also bereits, dass wir es mit wirklichen Tonkünstlern zu tun haben, also mit Musikerinnen und Musikern, die die Werke vollkommen durchgehört und ihren Part individuell in Bezug auf das Ganze der Partitur nicht nur instrumental-musikantisch, sondern auch im symphonischen Sinne geistig durchdrungen haben und beherrschen. Und so hält der Rest der Einspielung, was schon die ersten Takte versprechen: Keine Note steht für sich allein, kein Tempo ist willkürlich, und kein noch so schöner Moment wird isoliert und damit an eine vordergründige Darstellung oder zweckfreie Virtuosität verschenkt.

Mit dieser freien, und im höchsten Maße einfachen wie komplexen Musizierhaltung des Glière-Quartetts ist es wohl möglich, aber kaum nötig, die eingespielten Quartette zu kontextualisieren, um sie aus einer vermeintlich zweiten Reihe des Streichquartett-Kanons hervorzuholen. Wir mögen den tonschönen, aber nie versüßten Wieniawski wohlklingend als Cousin ersten oder zweiten Grades von Brahms hören, und beim oft nicht ganz ernstgenommenen und als Studienwerk abgetanen Bruckner bestätigt finden, was in seinen Symphonien durch eine meist einseitige Klangorientierung zum Wagnerischen gerne mit falscher Verve überdeckt wird: dass er als Nachfolger von Haydn und Schubert deren Sinn für Klarheit und Form und für harmonisch subtile Farbgebung vereint.

Um so zu hören, bedarf es jedoch mit Wladislaw Winokurow (1. Geige), Dominika Falger (2. Geige), Martin Edelmann (Viola) und Endre F. Stankowsky (Cello) vier Musikerinnen und Musikern entsprechender Könnerschaft und Metierbeherrschung, und so geht die vorliegende Aufnahme noch einen Schritt weiter: beide Werke erklingen originär in ihrer Schönheit als das, was sie sind. Es wird, und das ist höchstes zu vergebendes Lob, nicht interpretiert und nicht dargestellt, sondern verwirklicht.

Das Glière-Quartett hat damit eine Referenzaufnahme der Werke, darüber hinaus aber ein Beispiel für das adjektivlose Wesen der Kammermusik, das so-wie-es-ist-wenn-man-aufeinander-hört, geliefert. Man kann es somit nur in den höchsten Tönen loben, ihm dankend auf weitere Zeugnisse ihrer Arbeit hoffen, und ihnen vor allem das Publikum wünschen, das die Ohren hat, so zu hören wie es selbst dazu in der Lage ist.

[Jacques W. Gebest, November 2023]

Der andere Wieniawski

NAXOS 8.573404; EAN: 7 47313 34047 7

Wieniawski

Liv und Mairan Migdal spielen für NAXOS die Sonate für Violine und Klavier in d-Moll Op. 24 von Józef Wieniawski sowie Allegro de sonate g-Moll Op. 2 und Grand Duo polonais G-Dur Op. 5, eine Zusammenarbeit der Brüder Józef und Henryk Wieniawski, ein.

Tochter und Vater spielen die Werke zweier Gebrüder; die Tochter an der Violine am Anfang ihrer verheißungsvoll beginnenden Karriere, der Vater am Klavier mit diesen letzten Aufnahmen vor seinem Tod im Frühjahr 2015 am Ende seiner Laufbahn: der eine Bruder ein noch heute weltbekannter Violinist und Komponist, der andere als Pianist und ebenso als Komponist vollkommen in Vergessenheit geraten – sowohl seine Violinsonate als auch die in Kollaboration der beiden Brüder entstandenen Werke für Violine und Klavier wurden bisher noch nie eingespielt.

Warum Józef Wieniawski nach wie vor keine Beachtung in der Musikwelt findet, ist ein großes Rätsel. Zu Lebzeiten war er ein gefragter Pianist, der 1855 bei Franz Liszt und danach bei Adolf Bernhard Marx studiert hat und nach Liszt der erste Pianist war, der alle Chopin-Etüden öffentlich aufführte. Er begleitete eine große Anzahl der größten Künstler seiner Zeit wie unter anderen Joachim, Sarasate und Vieuxtemps. Auch als Komponist schuf er gewichtige Werke, so unter anderem eine Symphonie in D-Dur, ein Klavierkonzert in g-Moll, eine Klaviersonate, 24 Etüden in teils recht interessanten Formen wie „Fantasie und Fuge“ und etliche andere Solo- und Kammermusikstücke.

Einigen dieser Werke widmeten sich nun Liv Migdal und ihr Vater Marian Migdal in einem bereits seit längerer Zeit geplanten Projekt. In ihrer Kindheit komponierten die beiden Brüder, Henryk und der zwei Jahre jüngere Józef Wieniawski, einige Stücke zusammen: Auf dieser CD zu hören ist das beschwingte, mit kindlicher Leichtigkeit und (im positiven Sinne) Naivität durchtränkte Allegro de sonate g-Moll Op. 2 (Józef war zu diesem Zeitpunkt erst elf Jahre alt) und das fünf Jahre später entstandene Grand Duo polonais G-Dur Op. 5, ein wesentlich größeres und ernsteres Werk, mit spürbarem kompositorischen Geschick von beiden Seiten. Trotz des jungen Alters der Komponisten sind die Werke durchaus ausgereift und technisch für beide Partner mit hohen Schwierigkeiten versehen. Das gewichtigste Werk der Aufnahme ist die große Violinsonate in d-Moll Op. 24 von Józef Wieniawski, die Ende seiner zwanziger Jahre entstand. Die viersätzige Sonate beginnt mit einem großformatigen und ziemlich düsteren Kopfsatz, auf den ein zwielichtiges Andante religioso folgt, in welchem das Klavier immer wieder Trost bieten will, was allerdings von der Violine oft genug verneint wird und die Stimmung wieder in dunkle Gefilde wirft, wobei der Satz schließlich doch eher versöhnlich endet. Ein heller Lichtblick wird durch den dritten Satz erreicht, ein knackiges und prägnantes Scherzo von größter Eingängigkeit, worauf ein wildes, kaum zu bändigendes Allegro appassionato, ma non troppo presto die Sonate schwungvoll beendet.

Das Spiel von Liv und Marian Migdal ist vollendet abgestimmt, Tochter und Vater hören einander exakt zu und reagieren auf das musikalische Geschehen in der Stimme des Partners. Hier wird jahre- oder jahrzehntelange Erfahrung im gemeinsamen Spiel deutlich und lässt die beiden Solisten zu einer Einheit verschmelzen. Zwar sind beide recht kontinuierlich eine Dynamikstufe zu laut und vertrauen etwas zu selten auf die Farbnuancen des leicht oder hauchend gespielten Tones, doch kommt dies auch einer großen Expressivität und Extrovertiertheit zu Gute, die die Musik unmittelbar an den Hörer heranträgt. Und auch die wirklich lauten Passagen sind zu keiner Zeit bloß hart geschlagen oder mit nicht in Relation zum Resultat stehender Kraft gespielt, sondern stets volltönend und warm. Solch eine Wärme macht auch insgesamt den Klang von Liv und Marian Migdal aus, so dass man sich komplett heimisch fühlen kann in der Ausdruckswelt der beiden Musiker.

Fast könne man meinen, der Ton von Liv Migdal möchte explodieren, so erfüllt mit innerem Gefühl und Aussage ist er. Er wird in enormer Spannung gehalten und sogar noch weiter ausgebaut, anstatt dem Auflösungsbestreben nachzugeben, was einen ungeheuer fesselnden und in allen verzweigten Wegen der Musik Wieniawskis mitreißenden Effekt verleiht. Mehr als angenehm ist auch ihre Art des Vibratos, das in eleganter und zarter Manier dem Ton Singkraft verleiht, ohne durch zu starken oder quantitativ zu häufigen Gebrauch die Wirkung zu nivellieren.

Seinen ganz eigenen Weg hat auch Marian Migdal am Klavier gefunden. Er versuchte, sich als Spieler weitestgehend auszuschalten und nur die Musik für sich sprechen zu lassen. Resultat ist eine vollkommen natürliche und frei von Manierismen geführte Linie mit einem ausgewogenen Verhältnis von Spannung und Entspannung in einem klaren wie verständlichen Tonfall, der umgehend verständlich ist. In den vorliegenden Aufnahmen mit anspruchsvollen wie dankbaren Stimmen für beide Spieler kann auch Marian Migdal als Begleiter sich voll entfalten und sein enormes Können noch einmal unter Beweis stellen. Nach unzähligen brillanten Aufnahmen mit Hauptwerken bekannter Komponisten wie Haydn, Mozart, Grieg, Liszt und Chopin sowie eher unbekannten Größen wie Adolf Wiklund oder Franz Berwald ist die CD mit der Musik Józef Wieniawskis ein würdevoller Abschluss seiner Diskographie – und wie hätte man so ein Ende besser vollbringen können als im Kreise der Familie.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]