Schlagwort-Archive: Joseph Haydn

„Schöne“ neue Welt

Joseph Haydn: Klaviersonaten Nr. 47, Hob 16,32; Nr. 38, Hob. 16,23; Nr. 31, Hob. 16,46; Nr. 33, Hob. 16,20; Nr. 58, Hob. 16,48 – John O’Conor (unter Verwendung des Steinway Spirio-Selbstspielsystems)

Label: Steinway & Sons; Art.-Nr. 30058 (Vertrieb: note1)

Dieses Album des Steinway-Labels zeigt uns die „schöne“ neue Welt der Klassikbranche: Ein Pianist hat an dem Ort, an dem er das Album gern einspielen möchte, einen Steinway Model B-Flügel zur Verfügung. Erklingen soll das Ganze aber (weil sich das heutzutage schließlich so gehört) auf einem Steinway Model D. Früher ging das nicht ohne Reise in ein Top-Aufnahmestudio ab. Heute spielt man das Repertoire unter Verwendung der Steinway Spirio-Technologie auf dem heimischen (?) Model B ein, schickt die dabei entstandene Spirio-Datei an das Label seines Vertrauens und lässt es dort im Studio des Labels auf einem Model D wiedergeben.

Informationen über das „hochauflösende Selbstspielsystem“ Spirio finden sich auf der Website von Steinway (Link dazu hier). Das Problem dabei: Ein Model B reagiert anders auf Anschlag usw. als ein Model D. Eine auf einem Model B eingespielte Datei wird auf einem Model D anders klingen. Vielleicht ist dies der Grund, warum diese Haydn-Sonaten des ansonsten für ausgezeichnete Könnerschaft bekannten irischen Pianisten John O’Conor merkwürdig unterkühlt und aseptisch klingen.

Ich bin mir sicher, dass das Spirio-Verfahren längst von vielen Plattenfirmen genutzt wird, ohne dass diese es auf dem Cover ausweisen, wie das Steinway-Label es hier ehrlicherweise macht. Besser wird es dadurch trotzdem nicht. Selbstspielsysteme sind heute (Spirio) wie damals (Welte Pianorolle) eben auch nur ein Ersatz für den echten Pianisten am Instrument vor Ort. Dass so heutzutage Einspielungen großer Künstler entstehen und dass diese sich darauf einlassen, ist schlicht und ergreifend enttäuschend.

[Grete Catus, Februar 2017]

Karl Richter – die Legende lebt weiter

Profil Edition Günter Haenssler 31 CDs PH 16010; EAN: 881488160109

Karl Richter spielt und dirigiert
Schütz: Musikalische Exequien; A. Scarlatti: Su le sponde del Tebro (Stader); J. S. Bach: Brandenburgische Konzerte Nr. 1-6, Orchestersuiten Nr. 1-4, Musikalisches Opfer, 4 Cembalokonzerte, Orgelwerke BWV 565, 639, 582, 645, 542, 650, 606, 538 und 548, Sonaten für Flöte und Cembalo BWV 1030 und 1031, Goldberg-Variationen, Partiten Nr. 1-6 für Cembalo, Magnificat, Matthäus-Passion, Messe h-moll, Weihnachts-Oratorium, Kantaten BWV 78, 67, 108, 127, 79, 4, 45, 51, 8, 55 und 147; G. F. Händel: 12 Orgelkonzerte opp. 4 & 7, 5. Cembalo-Suite, Chaconne G-Dur für Cembalo, Arien aus Xerxes, Giulio Cesare und Samson (Haefliger), Arien aus Messias und Josua (Stader); C. P. E. Bach: Sonate g-moll für Flöte und Cembalo; Gluck: Reigen der seligen Geister aus Orfeo ed Euridice; Haydn: Symphonien Nr. 94 und 101, FlötenkonzertD-Dur, Arien aus ‚Die Schöpfung’ und ‚Die Jahreszeiten’ (Stader); Mozart: Requiem, Flötenkonzerte KV 313 & 314, Andante für Flöte und Orchester KV 315, Konzert für Flöte und Harfe KV 299; Mendelssohn: ‚Höre, Israel’ aus ‚Elias’ (Stader)

Der Plauener Karl Richter (1926-81), in Leipzig Schüler von Karl Straube und Günther Ramin und damit Erbe der großen deutschen Bach- und Orgeltradition, wurde bald nach seinem Amtsantritt an der Münchner Markus-Kirche zum vergötterten Bach-Exegeten in der bayerischen Landeshauptstadt. Sein Tod nach einem Herzanfall hinterließ eine trauernde Gemeinde, die lange brauchen sollte, um wieder in andere Bach-Gralshüter einigermaßen vertrauen zu können. Bis heute konnte sein Verlust in München nicht ersetzt werden. Richter was bekannt als kräftig dem Alkohol zusprechender Mann, der seine Gesundheit nicht schonte. Als Musiker schöpfte er stets aus dem Vollen, was ihm posthum den Ruf eintrug, Bach „hoffnungslos romantisiert“ zu haben. Diese üble Nachrede kann nach dem Hören der vorliegenden Anthologie nicht bestätigt werden. Vielmehr wird er hier als natürlicher, leidenschaftlicher Musikant erlebbar, dem spätere ‚Bachisten’ des süddeutschen Raums wie Helmuth Rilling nicht annähernd das Wasser reichen konnten. Richter ging vollkommen in den Partituren auf, auch wenn es übertrieben wäre, ihn als Meister der Verfeinerung der Phrasierung und Transparenz zu bezeichnen. Nein, er war vor allem ein Emphatiker, mit einer Neigung zum Pathetischen, das er mit einer sachlich musikantisch geschulten Ader im Zaum hielt. Als Instrumentalist erscheint er mir insbesondere an der Orgel bedeutend, sowohl in den Bach’schen Solowerken (man höre die c-moll-Passacaglia, die mit gravitätischem Momentum hypnotisiert) als in den Orgelkonzerten Händels, wo wir ihm die vielleicht bis heute glänzendste, würdevollste Gesamteinspielung verdanken. Da konnte er sich anscheinend noch bedingungsloser in die Musik versenken als wenn er am Pult stand. Die Brandenburgischen Konzerte und Orchester-Suiten Bachs sind durchwachsener in der Qualität und manchmal etwas schwerfällig, aber stets blutvoll und glutvoll. In den Cembalokonzerten Bachs muss ich gestehen, dass es einige wunderbare Aufnahmen mit modernem Klavier gibt (vor allem Murray Perahia), die diese rein klanglich authentischere Ausführungsweise nun doch sehr monochrom und gleichförmig erscheinen lassen.

Eine ganz besondere Freude ist es (und ich weise den Vorwurf prophylaktisch ab, dass es sich hier um meinen Landsmann handelt…), den großen Flötisten Aurèle Nicolet wieder zu hören, mit seiner fast etwas nervösen, jedenfalls alles andere als glatten Tongebung und von Leben durchpulsten Phrasierung und Artikulation: in den Flötenkonzerten und dem Doppelkonzert mit Harfe von Mozart, in Haydns D-Dur-Konzert und Glucks idylischem ‚Reigen der seligen Geister’, im Duo mit Richter in Sonaten von Bach Vater und Sohn, im Musikalischen Opfer – da lebt ein feinnerviger Geist wieder auf, wie ihn dieses doch so viel gespielte Instrument nicht wieder erleben durfte. Zeitlos bezaubernd!

Richter ist hier als Dirigent ein besonnener, diskreter, aber auch durchaus kraftvoller, weniger jedoch subtiler Begleiter. Auch seine Haydn-Symphonien sind absolut in Ordnung, echt und mit Wärme, ohne Extravaganzen, aber auch etwas füllig und schwer. Jedoch kennen wir aus jener Zeit viel schwerfälligere und innerlich unbeteiligtere Darbietungen, und „romantischere“ sowieso. Eine ganz besondere Freude ist es, die wunderbare oratorische Sopranistin Maria Stader zu hören, die damals die große Favoritin vieler Dirigenten war – sowohl mit geistlichen Arien von Alessando Scarlatti, Händel, Haydn und Mendelssohn als auch in Mozarts Requiem und der h-moll-Messe und Kantaten Bachs. Eine pure, sternenklare Stimme, unprätentiös und gradlinig schön. Viele weitere übliche Verdächtige jener Epoche tauchen auf: die Sänger Ernst Haefliger, Irmgard Seefried, Hertha Töpper, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, Gerd Lutze, Antonia Fahberg, Kieth Engen, Max Proebstl usw., die Geiger Otto Büchner, Friedrich Wührer und Fritz Sonnleitner, der Flötist Paul Meisen, der Obosit Edgar Shann, die Trompeter Adolf Scherbaum und Georg Donderer, die Harfenistin Rose Stein und die Organistin Hedwig Bilgram, und viele weitere. Auch der Heinrich-Schütz-Kreis, den Richter ab 1951 leitete, ist zu hören mit Schütz’ deutscher Totenmesse ‚Musikalische Exequien’, mit welcher Sergiu Celibidache viereinhalb Jahre nach Karl Richters Tod die ungeliebte Münchner Philharmonie am Gasteig höchst unorthodox einweihen sollte . damit nun kann man Richters Schütz gar nicht vergleichen, gegenüber solcher Transzendenz bleibt es so hausbacken, wie es auch sonst üblich ist. Bleiben die großen Bach-Werke: Messe h-moll, Matthäus-Passion, Weihnachts-Oratorium – und hier kann jeder eintauchen in die Welt, die vor einem halben Jahrhundert Gegenwart und für viele Konzertgänger das Höchste war: eine erhebende, erhabene Angelegenheit, nicht allzu differenziert, aber leidenschaftlich und zugleich mit einer gewissen Nüchternheit vorgetragen, immer intensiv und aus dem Vollen geschöpft.

Die einzige betrübliche Sache ist das Booklet der vorliegenden 31-CD-Box. Nicht nur, dass es spartanischer eigentlich nicht geht und ich mich frage, ob man wirklich so schwäbisch sparen musste – vor allem enttäuscht die Lieblosigkeit der Redaktion, die so viele grobe Fehler und Lücken entstehen ließ. So ist die Solistin in Mozarts Doppelkonzert nicht erwähnt (Rose Stein an der Harfe), und es fehlen die Solistennamen in den Brandenburgischen Konzerten (u. a. Meisen, Scherbaum, Wührer und Richter selbst) und sogar in der h-moll-Messe (Stader, Töpper, Fischer-Dieskau und Engen). Auch sind die Aufnahmen nicht datiert, dass man – wüsste man es nicht besser – fast glauben könnte, es handele sich um eine Raubpressung. Immerhin, der kundige Text über Richter (der einzige Text im Beiheft) von Lothar Brandt bessert den Gesamteindruck dann doch noch etwas auf. Mehr Respekt vor der Lebensleistung eines solchen Mannes hätte den Produzenten wohl angestanden. Der Hörer kann sich jedoch auch so erlaben, sollte aber meine Rezension lesen, um zu wissen, wer da singt und spielt, wo nichts vermerkt ist… Die Legende Karl Richter lebt all dessen ungeachtet weiter.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2017]

Sterile Wiener Klassik

Querstand, VKJK1619; EAN: 4 025796 016192

Norbert Anger spielte gemeinsam mit den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny die beiden Cellokonzerte Joseph Haydns (C-Dur Hob. VIIB:1 und D-Dur Hob. VIIB:2) ein. Zudem gibt es ein Konzert D-Dur für Violoncello und Orchester nach Mozarts Konzert für Horn Es-Dur KV 447 zu hören, eine Bearbeitung von Gaspar Cassadó.

Zwei herrliche Cellokonzerte schenkte uns Haydn, beide heute wohlbekannt und ins Standardrepertoire der Cellisten aufgenommen – im Gegensatz zu den Violin- und Klavierkonzerten (wobei von Letzteren die meisten vermutlich nicht von Haydn selbst stammen). Mozart bedachte das Violoncello nicht mit einem Solokonzert, was seit jeher alle Cellisten zutiefst bedauern. Der spanische Virtuose Gaspar Cassadó schuf Abhilfe, indem er das Hornkonzert Es-Dur KV 447 für sein Instrument bearbeitete, wobei er sich kompositorische Freiheiten gönnte und nicht zuletzt die Tonart ins für Streicher dankbarere D-Dur transponierte.

Technisch makellos gibt sich die Aufnahme dieser Konzerte von Norbert Anger mit den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny. Doch klingt alles steril, ohne Lebendigkeit oder Freiheit, beinahe museumsreif aufdrapiert. Zum einen trägt eine recht trockene Aufnahmetechnik dazu bei (obgleich die Aufnahme in einem großen Raum, der Lukaskirche Dresden, und nicht in einem Studio entstand), zum anderen – und dies ist wesentlich folgenschwerer – die uninspirierte Darbietung. Die Musik wird mit Banalitäten gespickt wiedergegeben, dabei werden die träumerischen Melodien unzusammenhängend abgehackt, so dass kleine aneinandergereihte Fetzen anstelle einer sinnfälligen Linie herumgeistern. Allgemein mangelt es an dynamischen Kontrasten und musikalischer Ausgestaltung – alles findet in einer monotonen Komfortzone statt, harmonische Feinheiten bleiben dabei außen vor. Der Solist zeigt zumindest Ansätze, einmal etwas musikalisch aus der Gleichförmigkeit auszubrechen, wird jedoch sogleich vom Orchester in die Schranken gewiesen. Von dem lebensbejahenden Frohsinn, von der sprühenden Vitalität dieser Musik ist kaum etwas zu erahnen. Um zumindest noch etwas Leben hinein zu interpretieren, werden die Tempi der Randsätze hastig überzogen, was allerdings zur Folge hat, dass gerade in den rasenden Schlusssätzen viele subtile Details im hochgepeitschten Spielrausch verloren gehen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Große Aufgaben für kleines Ensemble

Linn Records CKD 516; EAN: 6 91062 05162 0

Die berühmte Gran Partita KV 361 von Wolfgang Amadeus Mozart ist das Titelstück der neuen CD von Trevor Pinnock gemeinsam mit dem Royal Academy of Music Soloists Ensemble für Linn Records; zudem gibt es Joseph Haydns Notturno Nr. 8 in G-Dur Hob: II:27.

Regelrecht als revolutionär ist Wolfgang Amadeus Mozarts Serenade in B-Dur KV 361 mit dem Titel „Gran Partita“. Sie sprengt den Rahmen der bis dahin gebräuchlichen Harmoniemusik, einer reinen Bläserbesetzung aus Holz mit dem sich in den Holzbläserklang gut einfügenden Horn als zentralem Bestandteil, der nur selten auch mal ein Streichinstrument beigegeben wird. Anstelle der üblichen verspielt kurzen und meist leichten Stücke für diese meist unter freiem Himmel spielenden Ensembles verfasst Mozart ein siebensätziges Werk von über 45 Minuten Länge, welches jedem der dreizehn Bläser sowie dem hinzugefügten Kontrabass (welch eine herrliche Besetzung!) heikle Schwierigkeiten und solistische Anforderungen zukommen lässt, welches dergestalt die Harmoniemusik in den großen Konzertsaal überführt. Auch stilistisch wagt Mozart wie so gerne einen Blick in die Zukunft und schreibt hier eine Musik, die wieder einmal beileibe nicht dem typischen „Mozart-Klischee“ entspricht, viel freier und unkonventioneller ist sie, durchzogen mit unerwarteten Wendungen und mancherorts gar düsteren Zusammenklängen. Kaum weniger reizvoll, wenngleich wesentlich unbekannter, ist Haydns Notturno Nr. 8 in G-Dur Hob. II:27 für sechs Streicher, zwei Hörner, Flöte und Oboe (letztere waren in der ursprünglichen, kürzeren Fassung durch zwei Lyren zu besetzen). Das dreisätzige Werk umfasst eine große Stilbreite von Elementen der Barockzeit bis hin zu unerhört fortschrittlichen Passagen, die man gut und gerne ins 19. Jahrhundert verorten könnte – eine spannende Entdeckung.

Trevor Pinnock entlockt dem Royal Academy of Music Soloists Ensemble einen sehr durchsichtigen und lupenreinen Klang mit einer offenen Ausstrahlung. Alles ist in sehr feiner Manier dargeboten und zeichnet sich durch edle Zurückhaltung aus. Den Musikern beziehungsweise den Solisten gelingen ihre Aufgaben mit Bravour und spielerischer Leichtigkeit. Dabei sind stets die zentralen Stimmen gut hörbar und lassen einen fein abgewogenen Kontrapunkt entstehen. Mancherorts wäre noch wünschenswert, mehr Fokus auf die organische Entfaltung der Musik zu spüren, das Tempo driftet gerne etwas aus dem Ruder und die harten Kontraste verlieren sich in Gleichförmigkeit, die durch Verfeinerung der Dynamik im kleinen wie im großen Kontext schnell an Vielschichtigkeit gewinnen könnte. Was leider stört, sind die vollkommen gleich vorgetragenen Wiederholungen – es ist, wie wenn man ein Buch um einige Seiten zurückblättert und die Geschichte haargenau noch einmal von dieser Stelle aus liest, ohne dabei zumindest den Tonfall zu ändern, es als Spannungssteigerung oder als sich auflösende Spannung zu empfinden. Damit kann der Spannungsbogen nicht funktionieren, der energetische Fluss setzt aus. Es wäre schöner, wenn man kein Gespür dafür hat, die Wiederholungen einfach auszulassen, als somit die Musik unnötig in die Länge zu ziehen, ohne dass es als Ganzes funktionieren kann.

Bei Haydn funktioniert die Kontinuität besser, es entsteht mehr das Gefühl der unzertrennlichen Einheit der Sätze. Besonders hervorzuheben hier sind die beiden Violinen – gerade die erste -, die einen ganz eigentümlichen, beinahe folkloristischen Ton hervorbringen, was stellenweise die Barockelemente unterstreicht, teils aber auch vollkommen neue Farben hineinzuzaubern vermag in diese herrliche Musik. Es entsteht eine gewisse Natürlichkeit, die der Musik sehr gut tut.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Pastoralen, Blumen und armenische Trompetenmusik

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Quer durch drei Jahrhunderte erstreckt sich das Programm der Württembergischen Philharmonie unter Leitung von Chefdirigent Ola Rudner am 24. April 2016 im Herkulessaal der Münchner Residenz: Von Haydns Trompetenkonzert Es-Dur Hob.VIIe:1 von 1796 und Beethovens F-Dur-Symphonie, der Pastorale, über Mahlers Symphonischen Satz C-Dur mit dem Titel „Blumine“ bis zu dem As-Dur-Trompetenkonzert von Alexander Arutjunian, geschrieben 1941. Solist ist der norwegische Trompetenvirtuose Ole Edvard Antonsen.

Wagnerisch wird es direkt zu Beginn des Abends mit der „Blumine“ von Gustav Mahler. Der Satz, welcher ursprünglich Teil der ersten Symphonie werden sollte, weist solch signifikanten Parallelen zum Komponisten des Ring-Zyklus auf, dass man stellenweise fast meinen möchte, im Programm stehe ein falscher Name. Es ist ein beschauliches Stimmungsgemälde, in aller intendierten Bedeutungslosigkeit unfassbar schön und träumerisch. Weitaus substantieller dann das Trompetenkonzert von Joseph Haydn in Es-Dur Hob. VIIe:1, welches nicht zu Unrecht das wohl meistgespielte Trompetenkonzert überhaupt ist (wenngleich sicher auch aufgrund des schmalen Repertoires). Dieses Konzert schmeichelt dem Solisten auf der Es-Trompete in den schönsten Tönen in seiner ihm ureigenen Tonart. Das Instrument erhält höchst sangliche Kantilenen, dankbar virtuose Läufe und rhythmisch prägnante Themen. Von äußerstem Gegensatz in der harmonischen Spannung ist dazu das in etwa gleichlange Trompetenkonzert des Armeniers Alexander Arutjunian, jenes Werk des damals erst 21-jährigen, welches ihm zu internationalem Durchbruch verhalf und bis heute eines der wenigen oft gespielten Stücke des Komponisten ist. Es ist geprägt von den unverkennbaren Einflüssen armenischer Volksmusik, von östlichen Tonskalen und sowjetisch bunt orchestrierter, orientalisch anmutender Harmonik sowie von problemloser Verständlichkeit und Unbeschwertheit für Spieler wie für Hörer. Das letzte Werk des Abends ist die Pastorale, die Symphonie Nr. 6 von Ludwig van Beethoven in der Tonart F-Dur. Das Schwesterwerk der Schicksalssymphonie besticht durch seine malerischen Naturbilder, durch endlose Motivrepetitionen im Kopfsatz, durch unendliche Melodien im folgenden Andante sowie die fast erzählerische Abfolge der kommenden drei Sätze, die unmittelbar miteinander verbunden sind. Eine besondere Schau ist natürlich der mitreißende Sturm-Satz mit ungebändigten Läufen, tiefem Grummeln in Streichern und Pauken sowie der stürmisch zischenden Piccoloflöte, die einen ihrer ersten solistischen und für das Werk substanziellen Einsätze in der Musikgeschichte erfährt.

Über die Darbietung lässt sich kurz und knapp sagen, sie war ausgesprochen gelungen und überzeugend. Vor allem bei Beethovens Pastoral-Symphonie war sie direkt frappierend gut. Diese Symphonie ist bekannt dafür, als endlos sich dahinziehender Einheitsbrei aus thematisch in sich kreisenden Motiven zu erscheinen, welcher banal und entwicklungslos vor sich hinplätschert, wie es sogar bei den Spitzenorchestern gerne der Fall ist. Es ließ also sehr aufhorchen, wenn an diesem Abend endlich einmal die großen Spannungsbögen entfaltet werden und die Musik die Kraft der befreiten Entwicklung erleben darf. Ola Rudner lässt die Musik aus ihrer Natürlichkeit und Schlichtheit entstehen, verleiht ihr nicht zu viel Härte – auch nicht im Sturm – und sorgt doch für einen ansteckenden Schwung und prächtige Ausdrucksvielfalt. Dass manch hörenswerte und thematisch bedeutsame Stimme dabei nicht ganz zum Vorschein kommt, ist wie stets hauptsächlich der teils etwas schwer zu strukturierenden Instrumentation des Werks geschuldet, welche die Hauptstimmen teils sehr effektiv überdeckt. Der schwedischstämmige Dirigent Ola Rudner zeigt hier eindrucksvoll, dass man mit tiefergehendem Verständnis für das Werk es schaffen kann, aus dem Trott der ewig gleichen Wiedergaben herauszukommen und der Symphonie wieder neues, frisches und unverbrauchtes Leben einzuflößen.

Auch in den anderen Programmpunkten überzeugen Orchester und Dirigent auf hohem Niveau, vermitteln Anmut und feinen Glanz in Mahlers Blumine und geben dem Solisten Ole Edvard Antonsen einen flexiblen Widerpart zu seinen Solostimmen. Außergewöhnlich anzusehen für so große Hallen sind die Gesten von Ola Rudner, die sehr innig, kompakt und komplett ohne Schielen auf außermusikalischen Effekt erscheinen, anstatt das von den meisten Dirigenten praktizierte publikumshascherischen Show-Gehabe zu präsentieren.

Einen wahren Star an der Trompete hat sich die Württembergische Philharmonie an das Solistenpult geholt, Ole Edvard Antonsen. In den zwei so verschiedenen Konzerten demonstriert er die verschiedenen Facetten seines Könnens und ist auch, wie seine pittoreske Zugabe „Fanfare“ zeigt, ebenso für zirkushaften Spaß und Hochseilartistik zu haben. Hervorzuheben ist sein unbeschreiblich ausgereiftes Spiel mit Distanzwechseln, sein Klang kann quasi direkt beim Hörer sein, aber auch in der Nähe vor der Bühne stehenbleiben oder gar wie hinter dem Podium befindlich erscheinen – zwischen diesen Ebenen kann er ohne Luft zu holen changieren. Im Haydn behält ein sanglicher und offener Ton in sprühender Farbigkeit und Lebendigkeit die Oberhand, bei Arutjunian differieren die diversen Tongebungen natürlich viel mehr und er stellt unter Beweis, auch zerbrechlich-zurückgezogen oder extrem auftrumpfend-anstachelnd spielen zu können. Mit technischer Makellosigkeit ausgestattet brilliert Antonsen in Lockerheit und bewusst gesetzter wie angenehmer Distanz zu den Stücken, die er zwar von seiner inneren Beteiligung her auskostet, aber emotional  nicht in ihnen zu versinken droht.

Die Württembergische Philharmonie unter Ola Rudner zeigt sich herausragend auch als Begleiter, mit ausgereiftem musikalischen Verständnis – hieran sollte sich manch eines unserer A-Orchester ein Vorbild nehmen!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Ein Programm, zwei Dirigenten

Das erste Programm der Munich Young Classical Players wird gleich an drei kleinen Spielstätten in München dargeboten, am 6. März in der Moor Villa, am 10. März im Bürgersaal Fürstenried sowie am 17. März im Kleinen Theater Haar. Für The New Listener höre ich die zweite Vorstellung mit einem Programm bestehend aus Joseph Haydns Ouvertüre in D Hob. Ia:7 und seiner Symphonie Nr. 87 in A-Dur Hob. I:87, der Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 von Wolfgang Amadeus Mozart und der 5. Symphonie in B-Dur D 485 von Franz Schubert. In der ersten Hälfte wird das Dirigat von Sergey Lunev übernommen, die Symphonien von Haydn und Schubert leitet Maximilian Leinekugel.

Die Munich Young Classical Players wurden dieses Jahr erst gegründet von den beiden Dirigenten Sergey Lunev und Maximilian Leinekugel aus Studenten der Münchner Musikhochschule und anderen Musikern mit (beziehungsweise: in) hoher musikalischer Ausbildung. Ziel ist es, auch in kleinen Konzerthäusern Musik auf spieltechnisch hohem Niveau aufzuführen – Zentrum dabei soll vorerst München bleiben.

Spieltechnisch liegt die Qualität tatsächlich recht weit oben, die Musiker sind größtenteils auf einem beachtlichen Niveau und halten trotz der kurzen Zeit, die das Kammerorchester besteht, erstaunlich gut zusammen. Die Besetzung ist ziemlich klein, es gibt nur je drei erste und zweite Geigen, die Kontrabasssektion besteht gar aus nur einem einzigen Spieler, dafür ist ein ziemlich vollständig besetzter doppelter Bläsersatz vorhanden. Diese Ungleichheiten der Aufstellungen werden jedoch gut kaschiert, so dass das Verhältnis erstaunlich ausgewogen erscheint. Der Klang ist entsprechend recht trocken, da sich drei Geigen pro Stimme schlecht mischen, was durch große Präsenz und größtenteils reine Intonation wettgemacht wird. Besonders hervorzuheben ist zweifelsohne der grandiose Kontrabassist, der dem ganzen Streicherapparat eine solide Klanggrundlage schenkt, sein spiel ist exakt und sauber, auch gehört er zu den wenigen Streichern, die das Vibrato einmal vernünftig einsetzen (ein übermäßiges Vibrato ist bekanntlich der ständige Begleiter von vor allem hohen Violinen und Celli, letztere meist mit noch größerem und störenderem Ambitus). Auch der gesamte Bläserapparat glänzt durch Präzision und durch einen gediegenen Klang.

Nach der kurzen, aber typisch Haydn’schen Ouvertüre in D wagt sich das frisch gegründete Orchester unter Leitung von Sergey Lunev direkt an Mozarts Symphonie Nr. 40 in g-Moll, ein vielgespieltes und somit mit hohen Erwartungen versehenes Stück mit hohen technischen und inhaltlich-musikalischen Anforderungen. Dieses Werk des späten Mozart wird durch seinen dunklen und teils doppelbödig erscheinenden Charakter ausgezeichnet, es wirkt nur bei genauestem Verständnis von Dynamik, Phrasierung und Tempi. Sergey Lunev dirigiert es vor allem aus den Unterarmen heraus, dennoch mit ausladenden Gesten, und spornt das Orchester damit immer wieder an; seinem Schlag ist leicht zu folgen. Das Tempo gerät jedoch immer wieder ins Bröckeln und weist Inkonsistenzen auf, das Andante ist um einiges zu schnell, dafür fällt die Geschwindigkeit im Trio des Menuetts rapide ab. Das eh schon schnell begonnene Finale (eine Herausforderung vor allem für die Streicher) wird immer noch rasender, was es den Kammerorchestermusikern nicht einfach macht, da noch mitzuhalten. Obgleich die hohen Fähigkeiten der Musiker hier deutlich werden, macht das Stück stellenweise den Eindruck, nur auf Durchkommen geprobt zu sein. Einen schönen Klang macht dafür vor allem der Kopfsatz her, und auch das Allegretto-Menuett gerät knackig und frisch.

Nach der Pause steht Maximilian Leinekugel am Dirigentenpult. Der 1995 geborene Student, der bereits zwei Jahre Gaststudent in Dirigieren an der Musikhochschule war, leitet Schubert und erneut Haydn. Die Haydn-Symphonie avanciert zum Höhepunkt des Abends, hier wird die intensive Arbeit auch an musikalischer Struktur, dem atmenden und pulsierenden Bogen und vor allem an nuancierter Dynamikabstufung deutlich. Leinekugels Leitung geschieht hauptsächlich aus dem Oberarm, seine Gesten sind ausgearbeitet und sehr schwungvoll mit vielen kleinen Schnörkeln. Er geht viel mehr als Lunev auch aus seiner aufrechten Position heraus, mal krümmt er sich und geht in die Knie, mal bewegt er sich förmlich auf sein Ensemble zu. Die Orchestermusiker folgen gerne seiner Einladung zur aktiven Gestaltung dieser Symphonie und holen das beste heraus, was einem so frisch gegründeten Ensemble nur irgend möglich ist.

Abschluss des Abends ist die fünfte Symphonie von Franz Schubert, ein Werk von subtiler Komplexität und Vielschichtigkeit, das von den meisten leider unterschätzt und fast immer sehr oberflächlich dargeboten wird. Wahrhaftig wirkt das Werk bereits nach kurzer Übezeit, doch ein kurzer Blick in die Partitur genügt, um festzustellen, wie viel mehr doch dahinter steckt. Auch hier wird wieder viel Arbeit an Details sichtlich, wenn auch das Orchester teilweise an seine Grenzen stößt mit den hohen Anforderungen Schuberts, beispielsweise den Anfang tatsächlich Pianissimo zu spielen, die Stimmpolyphonie im zweiten Satz glaubhaft zur Geltung zu bringen oder auf kürzeste Distanz viele Sforzati einzeln aus der Melodie herauszumeißeln. Doch werden gerade die Randsätze sehr prägnant genommen, und auch das Allegro molto-Menuett hat beschwingten Charme.

Die jungen Musiker der Munich Young Classical Players sind auf einem hohen Niveau und werden sich unter guter Leitung sicherlich sehr bald zu einem Kammerorchester mit starkem Zusammenhalt und Liebe zum Detail entwickeln können. Sie schlagen bereits bei ihren ersten Konzerten einen ausgezeichneten Weg ein, den fortzuführen sich lohnen wird.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

[The New Listener international:] Well-known and unkown music personalities

The anniversary concert of the Blutenburg Kammerphilharmonie München orchestra had Haydn’s final symphony No. 104 in D major, also known as the “London” symphony, and Egon Wellesz’s first symphony in C major, Op. 62 in its programme. On the evening of 25 October 2015, Jörg Birhance, conductor from the founding years, took up the baton again for the 10th anniversary concert in Maria-Ward-Straße 5, near Nymphenburg Palace in Munich.

The Blutenburg Kammerphilharmonie München selected a very daring programme on various levels for its anniversary. Will the audience like the unknown symphony awaiting its third performance on this evening? And will the orchestra manage to rise to the occasion of this musical battleship that even demands an intense period of preparation from professional orchestra players? The symphony Op. 62 with its first and last movement in c minor ending in C major and the second movement in g minor is, no doubt, one of the greatest challenges for the musicians and the conductor. The prima facie seemingly pompous first movement, if approached superficially with its catchy theme, reveals unforeseen dense and intricately channelled lower voices. Understanding and then also conducting these intricacies is a virtual Sisyphean challenge. The second movement comes up with perpetual quintuplets, demanding utmost virtuosity and finesse from all parties. The finale, that seems like the Abgesang of all previous hustle and bustle and simultaneously contains major points of culmination, opens up completely new spheres of sound; it could obviously be reminiscent of Mahler‘s later work or of Bruckner’s ninth, albeit more cohesive in terms of formality and more concise than Mahler thanks to its brevity. This is where the whole cast of brass comes into play, filling the stage with four French horns, three trumpets and trombones each, and a tuba. The reason why Wellesz’s outstanding first symphony, as well as the composer himself are still unknown remains a true enigma. Wellesz, who can boast excellent teachers both in musicology with Guido Adler and in composition with Arnold Schönberg, completed nine symphonies (how could it be otherwise!) in spite of entering into the genre quite late (he was almost sixty); at this stage, however, he had already written a large volume of orchestral work and operas, and a plethora of chamber music. As an expert in Byzantine music and even though he studied with Schönberg, Wellesz’s style was by no means dedicated to dodecaphony; instead, he concentrated on a highly interesting and still very appealing free tonality, appearing in all possible textures thanks to his exceptional orchestration gift. The first symphony was performed two years after its completion by Sergiu Celibidache and the Berlin Philharmonic Orchestra in 1947, followed one year later by Joseph Krips and the Wiener Symphoniker; this is where the history of reception ends, apart from one rather poor CD recording that was neither preceded by a proper performance nor by proper rehearsals – to this very day!

All in all, the Blutenburg Kammerphilharmonie München gave a strikingly superior performance. Of course one could find the odd inaccurate tone, asynchronicity or little squeaks few and far between; in general, however, the overall performance of this amateur orchestra was outstanding. The great man of the evening, however, was Jörg Birhance, who founded the orchestra in 2005 and conducted it until 2011. His distinctive work with the orchestra can be felt in every single bar of music, redeeming with a consciousness for chamber music all the instrumentalists‘ technical imperfections. What he as a conductor can make of the orchestra is nothing less than astounding! His air in his generous gesture of Haydn is very clear and reveals the symphony‘s form in all its clarity; even the compositional intricacies of the master’s last symphony become very clear. With Wellesz, he places an emphasis on the multitude of lower voices of which a considerable proportion is exquisitely balanced in texture, again allowing the shape to become perfectly sculpted: The fugue in the middle of the first movement commences with such clarity, leaving no doubt it could have been otherwise. In contrast to Haydn, that seemed to be easier, the enormous efforts of rehearsing are clearly discernible in this first movement and reap a bountiful harvest with even more precise intonation in spite of all difficulties. The second movement is particularly captivating and diverse with repeated pleasant surprises. For those who were not inclined to take their hats off to the orchestra earlier, this point definitely was the most compelling; the quintuplets pearl in an impressively clear manner and the askew and seemingly free-tonal voices are arranged at a high level with freed expression. It is last but not least the conductor to whom we should take off our hats after this modern and seemingly most peculiar movement of the symphony – the well-nigh folly of rhythmical polyphony and the interchange of the main voice between four instruments sometimes in each bar is revealed in splendid precision. Even the surprising twists appear spontaneous and fresh, new acoustic landscapes emerge unexpectedly and disappear in the same way they appeared. Unfortunately, an outbreak of audience coughing disturbed the third movement; the conductor and the Kammerphilharmonie, however, remained concentrated and provided a dignified finish to this great work.

It is a striking charisma with which Jörg Birhance steps in front of the orchestra, creating the central point of concentration ab initio. Once he has found his way into the happening, he remains “one” with the soundscape, leading his musicians in a suggestive manner. Birhance conducts with perfected technique, standing tall with a sophisticated beat that principally emerges from his elbow and sometimes expands to the entire arm and shoulder with which he inadvertently picks up the instrumentalists and joins them in unison. His actions are fully dedicated to music and his profound devotion to the works of music can be felt in every single moment.

It is merely two questions that have yet to be answered after this evening: Why is Egon Wellesz still so fameless in view of such impressive work that is still catchy in spite of free tonality and would surely appeal to many people? And why has Jörg Birhance not fared better than the master whom he favours with such devotion? Even after so many years of excellent work, Jörg Birhance is still only known among experts. He conducts small orchestras and amateurs instead of well-known orchestras where he would – no doubt – more than enrich their selection of programmes and range of expression.

[To the german review of this concert]

[Oliver Fraenzke, October 2015 / Translation: Remains anonymous]

Bekannte und Unbekannte Musikergrößen

Auf dem Programm des großen Festkonzertes zum zehnjährigen Bestehen der Blutenburg Kammerphilharmonie München stehen Haydns finale Symphonie Nr. 104 in D-Dur mit dem Beinamen „London“ sowie die erste Symphonie in C op. 62 von Egon Wellesz. Der Abend des 25. Oktobers 2015 fand in München im Festsaal an der Maria-Ward-Straße 5 Nähe Schloss Nymphenburg statt, als Dirigent für das Jubiläum konnte der Leiter der Gründungszeit gewonnen werden, Jörg Birhance.

Für das große Gründungsjubiläum hat sich die Blutenburg Kammerphilharmonie München ein mehr als gewagtes Programm ausgesucht und dies gleich auf mehrere Ebenen. Wird dem Publikum die unbekannte Symphonie gefallen, die an diesem Abend erst zum dritten Male aufgeführt wird? Und wird das Orchester überhaupt diesem musikalischen Schlachtschiff gerecht, dass von einem Laienorchester fordert, woran manche ausschließlich aus Berufsmusikern bestehende Klangkörper lange feilen müssten? Die Symphonie Op. 62, deren Randsätze in c-Moll notiert sind, aber jeweils in C-Dur enden, und deren Mittelsatz in g-Moll vorgezeichnet ist, ist zweifelsohne eine große Herausforderung an die Musiker und den Dirigenten: Der bei oberflächlicher Herangehensweise pompös erscheinende erste Satz mit seinem eingängigen Thema fährt ungeahnt dichte und polyphon eng geführte Unterstimmen auf, die zu verstehen und dann auch noch auszuführen eine Sisyphusarbeit darstellt; der zweite Satz wartet mit durchgehenden Quintolen auf und verlangt größte Virtuosität und Gewandtheit aller Beteiligten; das Finale schließlich, ein scheinbarer Abgesang auf allen Trubel zuvor, in dem aber doch große Kulminationen stattfinden, eröffnet ganz neue Klangsphären – offenkundig an den späten Mahler mag es erinnern oder auch etwas an Bruckners Neunte, jedoch ist er formal viel geschlossener und durch seine Kürze prägnanter als Mahler. Hier schließlich ist einmal das volle Blech gefordert, das mit vier Hörnern, je drei Trompeten und Posaunen sowie Tuba die Bühne gut ausfüllen kann. Warum dieses herausragende Erstlingswerk in Wellesz’ Symphonik sowie der Komponist selber so unbekannt blieben, ist ein wahres Rätsel. Wellesz, der sowohl im Bereich der Musikwissenschaft mit Guido Adler als auch in der Komposition mit Arnold Schönberg ausgezeichnete Lehrer vorzuweisen hat, schuf trotz seines späten Beginns innerhalb des Genres (mit knapp sechzig Jahren) neun Symphonien (wie sollte es anders sein!), konnte aber auch vorher bereits eine große Anzahl an Orchesterwerken und Opern sowie eine Fülle an Kammermusik hervorbringen. Der Stil des Wellesz, der auch auf dem Gebiet der byzantinischen Musik als Experte zu bezeichnen war, ist trotz der Studien bei Schönberg keineswegs der Dodekaphonie verpflichtet, sondern konzentriert sich auf eine höchst interessante und dennoch äußerst ansprechende freie Tonalität, die durch seine außergewöhnliche Gabe im Gebiet der Orchestration in vielfarbigem Licht erstrahlt. Zwei Jahre nach der Komposition wurde die erste Symphonie 1947 von Sergiu Celibidache und den Berliner Philharmonikern aufgeführt, ein Jahr später folgten die Wiener Symphoniker unter Joseph Krips – danach endete die Rezeptionsgeschichte abgesehen von einer sehr schwachen CD-Einspielung, der nicht einmal eine Aufführung und auch keine angemessene Einstudierung vorangingen – bis heute!

Die Blutenburg Kammerphilharmonie München spielt im Großen und Ganzen frappierend souverän. Natürlich ist manch eine Unsauberkeit oder Asynchronität zu hören oder hin und wieder einmal ein Kieksen, doch für die Verhältnisse eines Laienorchesters liegt eine überragende Leistung vor. Der große Mann des Abends allerdings ist Jörg Birhance, der das Orchester 2005 auch gegründet hat und bis 2011 leitete. In jedem Takt ist die Arbeit unverkennbar, die er mit dem Orchester verrichtet hat, so dass die nicht erreichbare technische Perfektion der Instrumentalisten durch die kammermusikalische Bewusstheit wettgemacht wird. Was dieser Dirigent aus dem Klangkörper herausholen kann, ist wahrlich mehr als erstaunlich! Beim großzügig besetzten Haydn lässt er einen sehr klaren Gestus vorherrschen, so dass die Form ganz genau ersichtlich wird und auch die satztechnischen Feinheiten der letzten Symphonie des Meisters der Wiener Klassik bloßliegen. Bei Wellesz legt er großen Wert auf die vielen Unterstimmen, von denen ein beachtlicher Anteil ans Licht treten kann, und auch hier ist die Form kristallklar: Die Fuge in der Mitte des Kopfsatzes beginnt so sprichwörtlich, dass sofort klar ist, dass nun nichts anderes hätte kommen können. Besonders bei diesem Kopfsatz wird die enorme Anstrengung bei den Proben ersichtlich und bringt reiche Ernte ein, denn das Spiel wirkt auch trotz aller Schwierigkeiten noch sauberer als beim einfacher erscheinenden Haydn. Besonders mitreißend und abwechslungsreich gelingt der Mittelsatz, der immer wieder für Überraschungen sorgt. Wenn nicht schon längst vorher, so wäre spätestens hier vor den Musikern der Hut zu ziehen, die Quintolenfiguren verlaufen bestechend sauber und die verqueren, freitonal erscheinenden Stimmen sind auf hohem Niveau mit befreitem Ausdruck ausgestaltet. Nicht zuletzt vor dem Dirigenten sollte man sich nach diesem modernsten und wohl auch eigentümlichsten Satz der Symphonie verneigen, all die rhythmisch fast wahnwitzigen Stimmpolyphonien und Wechsel der Hauptstimme teils taktweise zwischen vier Instrumenten kommen bravourös heraus. Auch die überraschenden Wendungen erscheinen spontan und frisch, unerwartet machen sich neue Klangsphären auf, die genauso plötzlich verschwinden, wie sie begannen. Leider spielt im dritten Satz das Publikum teilweise nicht mehr recht mit und immer wieder sind Störgeräusche zu vernehmen, doch bleiben Dirigent und Kammerphilharmonie konzentriert und bereiten dem großen Werk einen würdevollen Schluss.

Auffallend ist das starke Charisma, mit dem Jörg Birhance vor das Orchester tritt und das ihn von Anfang an zum Konzentrations-Mittelpunkt werden lässt. Nachdem er sich einmal hineingefunden hat in das Geschehen, bleibt er auch ganz eins mit dem Erklingenden und lenkt seine Musikern in suggestiver Weise. Birhance hat eine ausgereifte Dirigiertechnik mit gerader Haltung und ausgefeiltem Schlag, der vor allem aus dem Ellbogengelenk kommt, aber auch den ganzen Arm inklusive Schulter in Anspruch nehmen kann, womit er unweigerlich die Instrumentalisten mitnimmt und sie zur Gemeinschaft führt. Er agiert voll und ganz im Dienste der Musik und seine innige Zuwendung zu den Werken ist in jedem Moment spürbar.

So bleiben am Ende des Abends lediglich zwei Fragen offen: Warum ist Egon Wellesz noch immer so unbekannt angesichts von solch beeindruckendem Schaffen, das trotz freier Tonalität ins Ohr geht und sicherlich viele Menschen unmittelbar anspricht? Und warum ergeht es Jörg Birhance auch nicht anders als dem von ihm so liebevoll favorisierten Meister? Auch Birhance ist nach so vielen Jahren vortrefflicher Arbeit nach wie vor nur Kennern ein Begriff. Er dirigiert kleine Orchester und Laien anstelle von renommierten Orchestern, deren Programmauswahl und Ausdruckspalette er zweifelsohne mehr als nur bereichern würde.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]