Ein Portrait des Komponisten Josef Schelb (* 14. März 1894 in Krozingen; † 8. Februar 1977 in Freiburg im Breisgau)
Überblickt man den Lebensweg von Josef Schelb (1894–1977), reflektiert dieser an mancher Stelle beinahe exemplarisch das Schicksal vieler Tonkünstler des 20. Jahrhunderts, zeugt von großen Visionen und herben Rückschlägen. Schelb stand über Jahrzehnte im Licht der Öffentlichkeit, wohl aber ohne jemals als einer der „Stars“ der Szene zu gelten. Dabei steht außer Frage, dass er eine wahre Künstlernatur gewesen ist, die sich mit Talent und unermüdlichem Fleiß bis zuletzt aufopfernd in den Dienst der Musik stellte. Mehr denn je ist es an der Zeit, sein Schaffen aufblühen zu lassen, um es vor der Vergessenheit zu retten.
Geboren wurde er als Christian Albert Joseph Schelb am 14. März 1894 in Krozingen, heute Kurort, nahe Freiburg in einem interessiert laienmusikalischen Haushalt. Sein erster wichtiger Lehrer wurde der Pianist und als Symphoniker bedeutende Hans Huber (1852–1921), zu dem Schelb nach Basel pendelte. Nach seinem Abitur zog er zum Studieren nach Genf, wo der damals populäre Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen (1862–1914) ihm Unterricht gab; daneben besuchte er die Kontrapunktklasse von Otto Barblan (1860–1943). Zwanzigjährig erhielt er das „Diplôme de Virtuosité avec Distinction“, etablierte sich schon während des Ersten Weltkrieges als Pianist und lehrte über seinen Wehrdienst hinaus zwischenzeitlich am Freiburger Konservatorium.
Im Jahr 1924 erhielt Josef Schelb eine Anstellung am Konservatorium in Karlsruhe, die er (mit Unterbrechung in den 40er-Jahren) bis 1958 innehatte. Die vielfältigen Berichte aus dieser langen Epoche seines Lebens lassen schlussfolgern, dass Schelb ein gewissenhafter wie bemühter Lehrer war, der jedoch immer das Künstlerische dem Pädagogischen vorzog. Er beteiligte sich rege an Lehrerkonzerten und brachte eine Vielzahl seiner Kompositionen in den Veranstaltungen der Ausbildungsstätte unter, doch durch seine intensiven Konzertvorbereitungen und seinen kompositorischen Fleiß kam es oftmals zu Zeitkonflikten: Über die Jahre verteilt finden sich mehrere Beschwerden, da er oft zu spät erschien oder bei wichtigen Institutsveranstaltungen fehlte. Schelb versuchte mehrfach, seine Mindestunterrichtszeit zu senken, um mehr Zeit fürs Komponieren und Üben zu haben. Ein früher Höhepunkt seiner Karriere war eine dreimonatige Amerikareise mit dem Violinisten Juan Manén (1883–1971).
Am 21. Juli 1936 heiratete Josef Schelb die 1915 geborene Sängerin Lotte Schuler, die vor ihrer Gesangsausbildung Schelbs Klavierklasse besuchte. Lotte Schelb hob die meisten der Vokalwerke ihres Mannes aus der Taufe. 1938 erlangte das Konservatorium in Karlsruhe staatliche Anerkennung, wodurch auch Schelb eine angemessenere Vergütung zuteil wurde; im Folgejahr wurde er verbeamtet und zum „Dozentenführer“ ernannt, was aber hauptsächlich lästige Pflichten ohne künstlerische Mitsprachen mit sich brachte.
Während eines Fliegerangriffs 1942 wurden große Teile des Konservatoriums zerstört und auch Schelbs Wohnung fiel den Bomben zum Opfer, wobei große Teile seiner bisherigen Kompositionen unwiederbringlich verbrannten. Schelb nutzte den Einschnitt, um sich vorläufig für ein Jahr beurlauben zu lassen, damit er sich aufs Konzertieren konzentrieren konnte: Aufgrund der „Wichtigkeit der Wehrmachtsbetreuung während des Krieges durch gute Konzerte“ wurde ihm die Abwesenheit gewährt. Josef Schelb verlängerte seine Beurlaubung jährlich bis Kriegsende. Für den letzten Volkssturm wurde er eingezogen, er setzte sich jedoch vor dem Einsatz ab.
Wegen seiner hohen kulturellen Stellung besonders als Dozentenführer sowie seines allgemeinen Ansehens während der NS-Zeit (er war 1933 – eigenen Aussagen zufolge aus Zwang – Mitglied der NSDAP geworden) hatte es Josef Schelb in der Zeit nach dem Krieg schwer. Er wurde trotz vielfacher Stellungnahmen und Empfehlungsschreiben durch Kollegen, welche ihm unpolitische bis systemkritische Haltung attestierten, nach mehreren Verhandlungen erst 1947 als Mitläufer gegen Geldstrafe entnazifiziert. Im Februar 1948 erlangte er seine alte Stellung zurück. Schelb hielt sie bis Ende 1958, als er sich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensionieren ließ.
In den letzten knapp zwanzig Jahren wirkte Josef Schelb als freischaffender Komponist, der bis zuletzt mit ungebrochenem Eifer neue Werke schrieb. Seine Musik genoss durchaus Ansehen, wurde im Rahmen großer, öffentlichkeitswirksamer Konzerte und Festivals uraufgeführt; besonders die Musica Viva profilierte sich durch eine Vielzahl an Premieren. Dabei muss angemerkt werden, dass Schelbs kompositorische Präsenz im Konzertleben in erster Linie auf die unermüdlich neuen Uraufführungen zurückzuführen ist, denn nur die wenigsten der Werke wurden Zeit seines Lebens wiederholt.
1976 erlitt Schelb einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Am 7. Februar 1977 starb er in Freiburg, wo er im Familiengrab beigesetzt wurde.
Die Musik Josef Schelbs beweist sich durch Eigenständigkeit. Am einfachsten fasslich zeigt sie sich durch ihren formalen Sinn, denn die Werke wie deren einzelne Sätze sind in klassischen Formschemata errichtet, die recht streng eingehalten werden. Halt gibt ebenfalls die motivische Arbeit, die stringent durch die Werke navigiert und ein Gefühl vermittelt, wo im Werk man sich befindet. Modern hingegen ist der Inhalt, der sich kaum an harmonische Gesetzmäßigkeiten hält, sondern frei durch den Tonraum mäandert. Interessanterweise nutzt Schelb dabei vergleichbar wenige chromatische Verläufe, sondern erlaubt sich, neue Zwischenzentren auch sprunghaft zu erreichen, wodurch er die Dichte der Kontraste zur ständigen Verfügung hat, im Umkehrschluss Abwechslung durch rasche Änderungen bezüglich Dynamik, Artikulation und Tempo schaffen muss, was nicht zuletzt die Musik auszeichnet.
Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei Werke aus dem Bereich der Kammermusik kurz vorgestellt werden, deren Noten bereits veröffentlicht vorliegen und von denen entweder bereits eine Aufnahme existiert oder sich zumindest auf dem Wege der Publikation befindet.
Das früheste der hier zu nennenden Werke ist das Zweite Klaviertrio von 1954, ein lebendiges, keck sprunghaftes Werk, das seine packende Energie aus dem regen Zusammenspiel der Instrumente zieht. Motorische Begleitfiguren treiben nach vorne, während die melodischen Stimmen kontrapunktisch kommunizieren, sich in den Verschiedenheiten ergänzen. Die ersten zwei Sätze erscheinen wie aus einem Guss, wobei das Vivace leggiero die Wucht des Kopfsatzes noch potenziert, dabei Motive aus diesem neu entwickelt. Das Adagio basiert auf einer Zwölftonreihe, die aber einerseits verschiedene Dreiklangbrechungen beinhaltet und somit Ausgangspunkt für die harmonische Entwicklung bildet, andererseits nicht durch dodekaphone oder gar serielle Fortspinnung weitergeführt wird, sondern als klar erkenntliches Thema behandelt wird. Dies nimmt Schelb als ein in vielen Werken vergleichbar erscheinendes Prinzip. Auch das Finale beginnt mit einer Zwölftonreihe, doch hier auseinandergerissen in zwei getrennte Motive plus den Auftakt zur Fortführung des Materials.
Während das Trio durch seine heitere Kurzatmigkeit und den musikalischen Scherz lebt, kommt im Quartett für Violine, Horn, Cello und Klavier aus dem Jahr 1962 mehr Dramatik auf. Das Werk ist ungemein dichter konzipiert und weist größere Flächen auf, die dabei für ein freitonales Werk bewundernswert orientierungsbewusst durchschritten werden. Schelb verwendet das Horn gerne für Haltenoten und das Klavier für motorisch gleichförmige Figuren, während sich die Streicher rhythmisch geladen ergänzen. Allgemein nutzt er prägnante Rhythmik für innermusikalischen Zusammenhalt wie auch Wiedererkennbarkeit seiner Motive, meißelt gerade durch dieses Element die Gesamtstruktur heraus.
Im späten Klavierquintett von 1970 sucht Josef Schelb vermehrt die Einheit und Ausgewogenheit. Die vier Sätze weisen annähert gleiche Länge auf, tarieren die ruhigeren und drängenderen Momente untereinander aus; auch die Instrumente wirken weniger kontrapunktisch gegeneinander, sondern entfalten Einklang. Die Tonsprache, vor allem aber die Rhythmik wirkt gesetzter, weniger sprunghaft und mehr auf große Bögen konzentriert. Im Quintett kehrt sich Schelb vermehrt zu polytonalen Strukturen, die dafür untereinander klarere Verläufe besitzen. So heben die drei hier angeführten Werke gänzlich unterschiedliche Aspekte der Musik Josef Schelbs hervor, legen eine klare Entwicklungslinie frei und entfalten parallel eine durchgehend wiedererkennbare Handschrift.
[Oliver Fraenzke, April 2022]