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Hoffnung, Versprechen, Gewissheit

Am 15. und 17. Dezember 2023 spielte das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter der Leitung von John Storgårds im Großen Musikvereinssaal Wien die Midnight Sun Variations der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen, Ludwig van Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 und Carl Nielsens Symphonie Nr. 5 op. 50. Als Violinsolist war Augustin Hadelich zu hören.

Die Welt ist voll mit hervorragenden Geigerinnen und Geigern, Virtuosen, die keine technische Schwierigkeiten kennen; Beherrscher ihres Instruments, wie es sie in dieser Zahl vielleicht noch nie gegeben hat. Jedoch gibt es in der absoluten Spitze, wo die technische Meisterschaft bereits allein im Dienst der Kunst steht, nur ganz wenige, die ein Werk nicht nur brillant darstellen können, sondern wirklich etwas zu sagen haben, hinter das Werk zurücktreten und ihr Instrument als Künstlerinnen und Künstler beherrschen.

Zu dieser außergewöhnlichen Kategorie gehört Augustin Hadelich, der in diesen Tagen, begleitet vom Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester, in Wien mit dem Violinkonzert von Ludwig van Beethoven zu hören war – nach wie vor und für alle Zeiten das Konzert, mit dem man entweder den Olymp besteigt oder an ihm scheitert.

Sein phänomenales Spiel berechtigt zu jener seltenen Hoffnung, einmal wieder einen absoluten Geiger hören zu können, jemanden, der sich musikalisch und künstlerisch jenseits des Instrumentalen bewegt.

Fast war es also perfekt, doch fehlte die letzte und absolute Eindeutigkeit der Meisterschaft. Dies war zunächst, unabhängig vom Solisten, der Temponahme im ersten Satz geschuldet, und zwar nicht als Problem des musikalischen Pulses, sondern in seiner Organisation als Metrum: der Dirigent John Storgårds konnte oder wollte sich nicht entscheiden, ob er vier oder zwei schlagen sollte, vielmehr bevorzugte er es, sich frei dem jeweiligen musikalischen Augenblick anzupassen, die Kontinuität des Metrums damit einer gewissen instinktiven Willkür überlassend. Das entspricht eventuell einer modernen Ansicht des Dirigierens, ist im Ergebnis jedoch eine der Möglichkeiten, an der perfekten Balance eines Werkes wie dem Violinkonzert von Beethoven zu scheitern.

Details, die Zeit gebraucht hätten, um ihre vollkommene Schönheit zu entfalten, wie zum Beispiel der Pianissimo-Wendepunkt beim Einsatz der Trompeten am Ende der Durchführung, fielen diesem metrischen Mäandern zum Opfer. Hier muss leider auch bemerkt werden, dass dies, neben der typischen Routine und mutmaßlich mangelnden Probenzeit, die für ein Solokonzert grundsätzlich im Normalbetrieb vorgesehen ist, dazu führte, dass die ansonsten hervorragenden Tonkünstler ausgerechnet bei Beethoven ihr wirkliches Potenzial klanglicher und musikalischer Differenziertheit nicht entfalten konnten.

Der zweite Satz entbehrte dann in einer schönen Linearität leider des harmonischen In-die-Tiefe-Hörens und wurde so bereits am Beginn der Tiefe und einzigartigen Wirkung der frühen Erweiterung der harmonischen Perspektive beraubt, als es von G-Dur mit einem ganz kurzen Anklang von e-moll direkt auf den vermeintlichen Ruhepunkt auf Fis-Dur geht – weiter entfernt und scheinbar der Schwerkraft enthoben geht es kaum. Es ist dies ein Moment, dessen heute noch erhör- und erlebbaren Radikalität des seelischen Ausdrucks in dieser Aufführung nicht stattfand und dadurch nach nichts und wieder nichts klang: flach und ziellos, wie es eben passiert, wenn man nur auf die Melodie hört. Das innige Spiel des Solisten konnte das fehlende innere Momentum nicht mehr ausgleichen, die weiteren Töne und Klänge wurden nur noch schön aneinandergereiht anstatt zu einem Ganzen vereint.

Dem vollkommenen Gelingen des letzten Satzes stand dann ein etwas zu rasches Tempo im Wege, so dass die aus der erforderlichen inneren Ruhe entstehende Farbigkeit und Lebendigkeit des 6/8-Takts der geigerischen Brillanz geopfert wurde, was unter anderem dazu führte, dass die entwaffnend schöne Dialogstelle zwischen Fagotten und Solovioline zu vordergründig geriet und in ihrer Sensibilität nicht funktioniert hat.

Alles in allem hörenswert, teilweise beglückend, nur eben mit der leisen Einschränkung, dass Solist, Dirigent und Orchester letztlich im künstlerischen Konjunktiv blieben, letztere aufgrund von Routine und Augenblickswillkür; ersterer, künstlerisch auf diese Weise von letzteren unmerklich gebremst.

Denn alle in allem nur latent erscheinende Ungehörtheiten und Unbedachtsamkeiten summierten sich in ihrer Wirkung, so dass das Publikum für jetzt nur die Gewissheit eines großen Versprechens hören konnte, das nicht deutlich genug betont werden kann: Augustin Hadelich ist in der Tat als ein wunderbarer, technisch überwältigend makelloser Geiger eine wirklich große Hoffnung auf eine Form von künstlerischer Reife, wie man ihr nur selten, und in der jüngeren Vergangenheit kaum, begegnet. Sein Wachsen wird sich fortsetzen und noch wunderbare Früchte tragen.

Der Konzertnachmittag wurde ansonsten eingerahmt von zwei in Wien selten zu hörenden Werken, eröffnet von den „Midnight Sun Variations“ von Outi Tarkiainen, uraufgefürt 2019, sowie der 5. Symphonie von Carl Nielsen.

Das Werk von Outi Tarkianen besticht durch klare Formgebung und sehr differenzierte und klarer Instrumentation. Es will nicht, was es nicht kann, und kann oder will auch nicht den Einfluss des finnischen Übervaters Jean Sibelius verleugnen, man könnte sogar sagen, dass die Komponistin im Sinne der Tonmalerei und pastoralen Adaption der fernen nordischen Welten ihm Reverenz erweisend eine legitime Nachfolgerin des Meisters ist. Und schon Ravel empfahl einst einem jungen Komponisten, sich in der Imitation eines Vorbilds zu üben, da nur in der unbewussten Abweichung vom Original zu hören sei, ob der junge Komponist etwas zu sagen habe. Dies ist bei Tarkianen zweifellos der Fall, womit zu hoffen ist, dass es auch in Wien möglich sein wird, die weitere vielversprechende Entwicklung dieser Komponistin mitverfolgen zu können.

Die kraft- und effektvolle 5. Symphonie von Carl Nielsen entfaltete nach der Pause ein eindrückliches Psychogramm einer Zerissenheit zwischen ebenfalls pastoraler Stimmung und einer traumatisierenden Störung dieses Idylls. Auffallend ist, wie Nielsen einige motivische Details bis zur Redundanz repetiert, es im Ganzen jedoch im ersten Satz trotzdem schafft, zu einer geschlossenen Form zu finden. Der zweite Satz bleibt leider hinter dieser Geschlossenheit zurück und hinterlässt die Frage, ob er der Form entbehrt, oder, was wahrscheinlicher ist, ob die Aufführenden nur nicht in der Lage waren, diese entstehen zu lassen. Nielsen konnte hier, jedenfalls nach diesem Höreindruck, nicht an den großen Wurf seiner 4. Symphonie anknüpfen, sondern unterwirft sich hier unter Inkaufnahme der Gefahr, dieses Werk der Zeitlosigkeit zu entziehen, einer Ästhetik, die nicht immer die seine zu sein scheint.

Der Dirigent John Storgårds war nun aber in seinem Element und brachte das hier furios aufspielende Niederösterreichische Tonkünstlerorchester zur orchestralen Exzellenz.

[Jacques W. Gebest, Dezember 2023]

Rückkehr zur Gunst des Publikums

Chan 10982; EAN: 0 95115 19822 3

John Storgårds dirigiert das BBC Philharmonic Orchestra mit Orchesterwerken von George Antheil. Zu hören sind die Symphonien Nr. 3 „American“ und Nr. 6 „After Delacroix“ sowie Archipelago, der Hot-Time Dance und die Filmmusik Spectre of the Rose.

Während sich andere Komponisten seiner Generation immer neueren Experimenten und stilistischen Extremitäten hingaben, kehrte George Antheil zurück zur weitgehend tonalen Musik und somit auch zur Gunst des Publikums. Als Enfant Terrible machte er in jungen Jahren von sich sprechen und legte bisweilen sogar einen Revolver auf den Flügel, um während seiner futuristischen Klaviersonaten nicht gestört zu werden. Doch als er Europa verließ und wieder in der Heimat, den USA, lebte, trieb es ihn dazu, sich der Entwicklung eines eigenen, amerikanischen Stils zu verschreiben, der nicht zuletzt auch die Massen ansprechen solle. Die Symphonik erschien ihm als prädestinierte Ausdrucksform für solch ein Vorhaben und Antheil widmete sich Jahrelang intensiv dezidiert der Symphonik, schrieb und verwarf zahlreiche Skizzen.

Wie für die meisten amerikanischen Komponisten etablierte sich in Antheils Musik der Jazz als unentbehrliches Element. Bernstein erklärte in einem seiner „Young People‘s Concerts“ die Entwicklung der amerikanischen Musik und stellt anschaulich dar, wie die Elemente des Jazz immer weiter Fuß fassten in den „klassisch“-amerikanischen Stil. Die American Symphony von  Antheil lässt eben dies spüren: Synkopische Rhythmen und jazzige Harmonien verleihen ihr erst den „amerikanischen“ Flair, den Antheil zum Ausdruck bringen will. Archipelago lebt ebenfalls von Jazzrhythmen, zieht jedoch eine ganz andere Art der Instrumentation mit ein, die sich auf Antheils Zeit in Frankreich zurückführen lässt. Der Hot-Time Dance entfernt sich erstaunlich weit vom Jazz, obgleich gerade dieses Stück den Stil bereits im Titel trägt – viel mehr tönt freudige und unbekümmerte Zirkusmusik durch. Auf Frankreich bezieht sich auch Spectre of the Rose zurück, genauer gesagt auf die Harmonik und Instrumentation von Maurice Ravel. Die Musik gibt sich schlicht und beinahe naiv, versprüht dennoch einen Funken außergewöhnlicher Ideen. Das einzige Werk auf dieser CD, das überhaupt keine hörbaren Jazzelemente beinhaltet, ist die an Schostakowitsch gemahnende sechste Symphonie „after Delacroix“, das üppigste und weitschweifendste dieser Werke. Antheil geriet oft in die Kritik für seinen wieder-tonalen, gefälligen Stil und für die effekthascherische Orchestration. Das beiliegende, ausführlich informierende Booklet von Mervyn Cooke zitiert Rezensionen über die sechste Symphonie, welche sie „hohl und Hollywoodartig“ nannten und ihr vorwarfen, sie habe „die leere Vehemenz einer Wahlkampfrede“. Wenngleich das Pathos in Antheils Orchestermusik durchaus dazu einläd, sie nicht ganz ernst zu nehmen, darf doch nicht der Ideen- und Farbenreichtum in dieser Musik vernachlässigt werden, der packende Drive und die eingängige Melodie, welche mit kecken Rhythmen unterlegt wird.

Storgårds holt eine beachtenswerte Vielfalt an orchestralen Farben aus dieser Musik heraus. Er gibt sich nicht der Versuchung hin, in den opulenten Passagen die Kontrolle über den Klang abzugeben, sondern behält die Zügel durchgehend in den Händen. Zeitgleich gelingt es ihm und dem Orchester, die Musik vollkommen mühelos und zwanglos darzustellen, die Spielfreude hörbar zu machen. Die BBC Philharmonic sind souverän aufeinander eingestimmt und präsentieren einen ausgewogenen, durchhörbaren Sound, welcher der jazzbeeinflussten Musik ebenso gerecht wird wie der etwas abstrakteren in der sechsten Symphonie.

[Oliver Fraenzke, März 2019]

Vom Staub zu den Schwänen

Unter John Storgårds spielen die Münchner Philharmoniker am 27. und 28. Februar sowie am 1. März 2019 Orchesterwerke aus dem Norden. Für The New Listener besuche ich das Konzert am 28. und höre dort die beiden Suiten aus Peer Gynt op. 46 und op. 55 von Edvard Grieg, das Violinkonzert op. 33 von Carl Nielsen mit der Solistin Baiba Skride sowie die Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82 von Jean Sibelius.

Als Gastdirigent und Violinsolist mit dem Münchner Kammerorchester machte sich John Storgårds bereits einen Namen hier in München. Nun dirigiert er die Münchner Philharmoniker mit einem rein nordischen Programm. Zu Beginn beider Konzerthälften erklingt je eine der Suiten aus Peer Gynt von Edvard Grieg, die zum größten Teil mit viel Liebe zum Detail erarbeitet wurden. John Storgårds setzt die je vier Stücke nicht lose nebeneinander, sondern schafft einen dramaturgischen Bogen, der in der ersten Suite deutlich zwischen den voll orchestrierten Randsätzen und den rein mit Streichern besetzten Mittelsätzen kontrastiert, in der zweiten Suite immer weiter kulminiert bis zum fulminanten Sturm, wonach die Musik zu Solveigs Sang verebbt. Ausgerechnet das rein für Streichorchester gesetzte Stück Åses Død stellt den einzigen Tiefpunkt der Aufführung dar: Es fehlen dynamische Kontraste und ein facettenreiches Pianissimo, zudem ist der Streicherklang zu weich und friedvoll. Hier wünsche ich mir dieses ur-nordischen Timbre der Streicher her, wie es Juha Kangas mit seinem Ostrobothnian Chamber Orchestra perfektioniert hat und das auch Storgårds den Streichern des Lapland Chamber Orchestras entlockt; in Ermangelung dessen bei den Philharmonikern zieht John Storgårds das Tempo an und versucht dadurch, die unpassende Reinheit des Klangs zu überspielen. Überzeugen können dafür die Kontraste in Bruderovet und die kontinuierliche Steigerung in I Dovregubbens Hall. Mitreißend gestaltet sich auch der bildhaft dargebotene Sturm von Peer Gynts Hjemfart, auch wenn bedauernswerterweise das letzte Aufbegehren der Holzbläser etwas untergeht.

Das groß angelegte Violinkonzert von Carl Nielsen gilt nach wie vor als Rarität in den großen Hallen, obgleich einige prominente Violinisten sich für dieses Stück eingesetzt haben. Das Stück besticht durch seine eigenwillige Form, die gleichsam sperrig wie auch faszinierend ist. Bei diesem Virtuosenkonzert steht das Orchester im Hintergrund, wird zum Impulsgeber degradiert und erhält kaum eine themengebende Funktion, ist allgemein selten ohne die Solovioline zu hören. Den Solisten jagt Nielsen dafür durch fünf kadenzartige Abschnitte, ihm überlässt der Komponist auch die meisten Themen und deren reiche Verarbeitungen und Variationen. Trotz zahlreicher Ornamentik und Figurationen gehen die Themen ins Ohr und der Hörer kann die allmähliche Transformation der Keimzellen gut mitverfolgen. Baiba Skride meistert den hoch anspruchsvollen Solopart scheinbar mühelos, obgleich sie in den kurzen Orchesterzwischenspielen doch froh um die Pause scheint: was wir aber nur sehen und nicht hören! Selbst in den wildesten Passagen verliert Skride nicht den thematischen (und auch nicht den harmonischen) Überbau aus dem Auge, wodurch sie den Hörer im Mitverfolgen der Musik unterstützt. Das Orchester ordnet sich ihr unter und hält seine Mittel zurück, um sie nicht zu übertönen, greift dennoch ihre Impulse gekonnt auf und setzt sie um.

Zum Abschluss erklingt die grandiose Symphonie Nr. 5 von Jean Sibelius, die durch ihr „Schwanen-Thema“ einen festen Platz in den Konzertprogrammen gefunden hat. Hier wurde besonders intensiv geprobt, wie man schnell erkennt: Die Keimzellen fließen ineinander über, man kann dem Thema förmlich beim Entstehen zuhören und auch sein Zerfasern aktiv miterleben. John Storgårds fürchtet sich nicht vor den teils grellen Dissonanzen in dieser Symphonie, die von anderen Dirigenten nach Möglichkeit entschärft werden: nein, heute erhalten sie besonderen Nachdruck und verleihen der Symphonie sogar erst ihre besondere Würze. Ohne übermäßige Effekthascherei hält Storgårds selbst den Mittelsatz formal zusammen und führt das Orchester unbeschwert hinüber in das Finale, welches durch extreme Kontraste und die zwei unvergesslichen Themen sowie ihr Ineinander-Übergehen überragt. Die Sonne scheint aufzugehen, wenn sich das Schwanen-Thema langsam aus der Hülle der energischen Streichermotive schält und die Musik in ungeahnte Höhen transzendiert: Vom Staub zu den Schwänen.

Am Kalevala-Tag, dem Tag der finnischen Kultur, dieses Monumentalwerk hier in München zu erleben und darüber hinaus in solch einer ausgeklügelten und inspirierten Darbietung der Münchner Philharmoniker unter John Storgårds, das hat etwas Erhebendes.

[Oliver Fraenzke, März 2019]

Nicht unterkühlt [Rezensionen im Vergleich]

FINNLANDS DIRIGENTEN – VESA SIRÉN
Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen

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SCOVENTA 2017; ISBN 978-3-942073-42-4

Ein dicker, fast 1000 Seiten umfassender Wälzer über Finnlands Dirigenten? Wer liest denn so was? Habe ich mich am Anfang auch gefragt, als ich das kiloschwere Werk in der Hand hielt… Aber nach kurzer Lektüre war das gar keine Frage mehr, eher: Wie kann man in der heutigen klassischen Musikwelt ohne die finnische „Übermacht“ an Dirigenten überhaupt so ein Buch nicht schreiben und dann eben auch nicht lesen. Denn dem Autor Vesa Sirén gelingt es nicht nur, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, nein, dieses dicke „Ding“ liest sich ausgesprochen gut und trotz aller Materialfülle erstaunlich flüssig und unterhaltend. Dazu tragen auch die vielen umfassenden Interviews und Statements sowohl der Dirigenten als auch der betroffenen Musiker bei, die dem Ganzen das Akademische oder Langweilige austreiben. Ob man einem, und welchem der vorgestellten Meisterdirigenten man nun den Vorzug gibt, ob den Älteren wie Kajanus, Sibelius oder Schnéevoigt oder den Jüngeren wie Salonen oder Saraste oder den noch Jüngeren wie Oramo, Lintu, Storgårds oder Mälkki, alle werden mit großer Ausführlichkeit und großem Sachverstand vorgestellt, kommen teilweise auch selbst zu Wort und geben dem ganzen Buch eine „undeutsche“ Leichtigkeit, die man sich bei Büchern dieser Art des Öfteren wünscht.

Wer also dem Thema der heute in aller Welt vertretenen finnischen Dirigenten nachspüren will, darüber hinaus einen tiefen Blick in die finnische Mentalität und Art des Vermittelns und Weitergebens erfahren will, der ist mit diesem dicken Buch bestens bedient. Und erfährt unter anderem, warum die Überlegenheit so sich entwickeln konnte, denn Finnland hat nicht allein das beste pädagogische System, was das Schulwesen angeht, wie alle Pisa-Studien seit Jahren zeigen, auch die Musik-Vermittlung ist allen anderen Ländern meilenweit voraus. Warum, diese Frage wird im Buch von Vesa Sirén genauestens beantwortet und zeigt auch, warum nicht nur finnische Dirigenten so begehrt sind: auch finnische Musiker – z. B. hier an deutschen Musikhochschulen – genießen als Lehrer und Musiker einen besonders guten Ruf.

Was läge also näher, als dieses umfassende Buch den entsprechenden Lesern dringend ans Herz zu legen, was hiermit geschehen ist.

[Ulrich Hermann, Juni 2017]

Standardwerk eines Musiktauben zum finnischen Dirigentenphänomen [Rezensionen im Vergleich]

Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen (finnische Erstausgabe von 2010 erweitert, gekürzt und aktualisiert vom Autor und übersetzt von Ritva Katajainen, Benjamin Schweizer und Roman Schatz)

Leskov0008
Scoventa Verlag, 2017; ISBN: 9783942073424

Nichts läge näher und mehr im musikalischen Trend der Zeit, als ein Buch über die Dirigenten (übrigens auch die Komponisten) Finnlands zu schreiben: ein Land mit ca. 5 Millionen Einwohnern produziert mittlerweile mehr international bedeutende Kapellmeister als Deutschland, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Italien zusammen. Das ist ein bisschen so, als kämen die alle aus dem Großraum Berlin oder Wien, aus Paris oder Rom… Vesa Sirén, alteingesessener Kritiker bei einer der beiden großen Tageszeitungen in Helsinki und lange schon auf den Fersen der Maestri, hat sich an die Aufgabe gewagt und ein hinsichtlich Informationsmenge und historischer Panoramasicht beeindruckendes Kompendium von fast 1.000 Seiten verfasst. Für alle, die durchblicken wollen beim finnischen Dirigentenphänomen, ist dies ein Standardwerk, und es ist zugleich für jedermann unterhaltsam und in vieler Hinsicht hochinteressant zu lesen. Geschrieben in laienhaft feuilletonistischer Manier, liegt die große Stärke des Buchs in der mühevoll zusammengetragenen Fülle von Originalzitaten, historischen Fakten, Kommentaren von Zeitzeugen (Dirigentenkollegen, Orchestermusiker, Kritiker), was äußerst wertvoll ist, und die biographischen Beschreibungen der Karrieren und Wechselwirkungen.

Also: das Buch lohnt die Anschaffung, wenn man Bescheid wissen und mitreden will, wenn man sich über einzelne Dirigentenpersönlichkeiten kundig machen will (höchst lesenswert sind z. B. die Kapitel über Kajanus, Sibelius, Schnéevoigt, Funtek, Berglund oder Segerstam). Doch zugleich ist es mit Skepsis, mit Vorsicht und Abstand zu lesen. Denn fortwährend beweist Sirén entwaffnend, dass er von Musik so gut wie gar nichts versteht. Peinliche Fehlurteile kommen stapelweise, und die amateurhaft-kompetenzgierige Argumentation bei der Besprechung von Aufnahmen und der Schilderung von Konzerteindrücken zeigt auf Schritt und Tritt, dass nur musikfremde Konventionalität und peinlich einengende Ideologien, Prominenz und das Absichern an vermeintlichem common sense die Grundlage der subjektiven Urteile bilden. Daher wird natürlich Esa-Pekka Salonen in peinlicher Weise vergöttert, und andere – wie Hannu Lintu oder gar John Storgårds – kommen ziemlich bis offenkundig schlecht weg. Dafür gibt es jede Menge Gossip, der Ton des Autors neigt zu verächtlicher Häme, wo der wahrscheinliche Rückschlag sich in Grenzen hält. Sirén ist ein Angeber und Feigling, und im Grunde versteht er wie viele Kritiker schlicht nicht die Grundlagen dessen, wovon er schwadroniert. Anscheinend mangelt es nicht nur hierzulande an verantwortungsbewusst kompetenten Kritikern! Dass John Storgårds’ bahnbrechende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien mit dem BBC Philharmonic in einem Satz als „Manchester-Tunke“ herabgewürdigt wird, schlägt dem Fass den Boden aus. Und ein weltweit unübertroffener Meister der Streichorchester-Kultivierung und Pionier substanziellen Repertoires wie Juha Kangas, der Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra, wird mit hauptstädtischer Ignoranz so nebensächlich und unspezifisch abgehandelt, dass man sich fragen muss, ob die finnischen Meinungsmacher überhaupt etwas von dem mitbekommen, was in ihrem Land abgeht. Das geht so weit, dass Kokkola auf der Karte der wichtigsten finnischen Musikstädte nicht auftaucht. Nein, Vesa Sirén ist entweder ein bösartig schwatzender Manipulateur oder einfach nur musiktaub, ahnungslos autoritätshörig und dumm. Der Kaiser ist nackt. Trotzdem, all dessen eingedenk, ist das Buch zwar oft sehr ärgerlich, aber doch höchst informativ zu lesen. Und es gibt (noch) keine Alternative zu dieser geschickt und flüssig formulierten Fleißarbeit. Und was er nicht beurteilt oder proportional entstellt, also was objektive Tatbestände betrifft, ist dieses schön und solide aufgemachte Buch jetzt die maßgebliche Quelle für den deutschen Leser.

Folgende Dirigenten werden behandelt: Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt, Armas Järnefelt, Leo Funtek, Toivo Haapanen, Martti Similä, Tauno Hannikainen, Simon Parmet, Nils-Eric Fougstedt, Jussi Jalas, Paavo Berglund, Jorma Panula, Ulf Söderblom, Leif Segerstam, Okko Kamu, Atso Almila, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Juha Kangas, Sakari Oramo, Mikko Franck, Pertti Pekkanen, Petri Sakari, Ari Rasilainen, Markus Lehtinen, Tuomas Ollila, Tuomas Hannikainen, Hannu Lintu, John Storgårds, Susanna Mälkki, Ralf Gothóni, Olli Mustonen, Jaakko Kuusisto, Pekka Kuusisto, Jari Hämäläinen, Ville Matvejeff, Boris Sirpo, Nikolai van der Pals, Miguel Gómez-Martinez, Muhai Tang, Jean-Jacques Kantorow, Sergiu Comissiona, Leonid Grin, Valery Gergiev, Pietari Inkinen, Dima Slobodeniouk, Santtu-Matias Rouvali

[Annabelle Leskov, Juni 2017]

Maximum an Verfeinerung, Intensität und Reichtum des Ausdrucks

Das Münchener Kammerorchester im Höhenflug – Prinzregentheater, München, 6. April 2017

Mit dem neuen ständigen Gastdirigenten John Storgårds steht ein Mann am Pult des Münchener Kammerorchesters, der das Niveau des exzellenten Klangkörpers zu Höhen zu beflügeln vermag, die man in solcher Konstanz bislang allenfalls erahnen mochte – auch wenn, wie im hier zu besprechenden Konzert, die Probenzeit angesichts des sehr schweren Programms äußerst knapp bemessen war und zwischen Generalprobe und Aufführung weniger als eine Stunde verstrich.

John Storgårds, der als Leiter des Lappländischen Kammerorchesters legendär ist und auch die Philharmoniker aus Helsinki als Chef zu außergewöhnlichen Leistungen anzuspornen imstande war, hat sich nicht nur als Dirigent bewiesen, sondern auch als grandioser Violinsolist, sei es mit seiner frühen Aufnahme von Robert Schumanns Violinkonzert für Ondine (für mich immer noch die schönste) oder zuletzt in München im Violinkonzert von Kaija Saariaho. Er ist heute erster Gastdirigent beim BBC Philharmonic in Manchester, wo er für Chandos den herausragendsten Zyklus der Sibelius-Symphonien seit Jahrzehnten aufnahm und auch die Symphonien von Carl Nielsen auf außerordentlichem Niveau einspielte. In München hat man ihm ein über zwei Jahre sich erstreckendes Haydn-Ligeti-Projekt anvertraut, und mit dem neuen Chefdirigenten des Münchener Kammerorchesters, Clemens Schuldt, verbindet ihn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Diesmal bildeten zwei Londoner Symphonien Joseph Haydns den Rahmen: die Nr. 95 in c-moll und die berühmte Nr. 101, ‚Die Uhr’. Schon zuletzt waren wir uns einig, seit vielen Jahren keinen so guten Haydn in München gehört zu haben, und dieser Eindruck wurde diesmal in schlagender Weise bestätigt. Storgårds ist in seinem Naturell ein erdiger, kraftvoll leidenschaftlicher, zum Eruptiven neigender Musikant von unerhörter Präzision, Vitalität und Klarheit der Vorstellung. Sein Musizieren zeichnet sich zugleich durch absolute Natürlichkeit und feingliedrige, die metrischen Schwerpunkte schwungvoll transzendierende Phrasierung aus, und das Orchester folgt ihm mit feurigem Willen und erlesener Liebe zum Detail. Ich gestehe, dass ich einige Details bei Haydn anders machen würde: die langsame Einleitung zur ‚Uhr’ ist mir etwas zu geschwind, in den Menuetten stelle ich mir einen geringeren, subtileren Tempounterschied zwischen Menuett und Trio vor (dies würde in der 95. ein breiteres Grundtempo erfordern und in der ‚Uhr’ ein etwas weniger bewegtes Trio), auch könnte das Blech gelegentlich noch mehr im Zaum gehalten werden. Doch all dies fällt angesichts der hinreißenden Vorzüge der Darbietung nur marginal ins Gewicht. Hinzu kommt, dass in der 95. Symphonie mit Cello-Stimmführer Mikayel Hakhnazaryan ein auch musikalisch herausragender Solist agiert, und dass mit Elissa Cassini, der einstigen Konzertmeisterin des fantastischen New Yorker Arcos Orchestra unter dem leider verstorbenen, unvergesslichen John-Edward Kelly, eine Konzertmeisterin von Weltrang verpflichtet werden konnte. Haydn gelang beide Male sensationell, und eben nicht nur hinsichtlich der gelegentlich fast schon atemberaubenden Virtuosität und alles durchdringenden Konzentration und Präsenz, sondern auch im Sanglichen, im intuitiven Erfassen der Charaktere und modulatorischen Spannungsverläufe, in der rhythmischen Prägnanz, dem Auskosten der Überraschungen, dem überschäumenden Humor und in den fein durchartikulierten Piano- und Pianissimo-Passagen. So wirkt diese Musik frisch wie am ersten Tag, ohne zopfig-besserwisserische Attitüde belehrenden Historismus’, und geistreich, wie dies seit den Tagen eines Celibidache nicht zu hören war.

Im Violinkonzert von György Ligeti sprang für den erkrankten Renaud Capuçon Michael Barenboim ein und spielte mit einer Souveränität, geigerisch makellosen Clarté und selbstverständlichen Musikalität, die das Publikum zu Begeisterung hinriß. Als Zugabe trug er – passend – den langsamen Satz aus Béla Bartóks Solo-Sonate vor, auch das mit vollendeter Beherrschung in allen Nuancen. Aber auch bei Ligeti sei die Leistung des Dirigenten – und in Tateinheit damit des Orchesters – besonders hervorgehoben. Man kann diese hochkomplexe Musik unter normalen Probenbedingungen nicht besser aufführen. Ligeti ist da am besten, wo er die aggressive Grellheit ins Extrem treibt, was mit physisch erbarmungsloser Verve umgesetzt wurde, und es ist nicht übertrieben, festzustellen, dass alles mit einer Lebendigkeit und Zuspitzung umgesetzt wurde, die den Komponisten beglückt hätten wie keine der auf Schallplatten dokumentierten Aufführungen. Außerdem gab es die ‚3 unvollendeten Portraits’ des 1957 in Triest geborenen Fabio Nieder, musikalische Stillleben am Rande des Verstummens, eine Art neuer ‚Arte povera’, vom Münchener Kammerorchester unter Storgårds minutiös verfeinert dargeboten, dass der Komponist selbst wohl staunen mochte, was er da zustande gebracht hat – das Publikum im vollen Saal des Prinzregententheaters war ganz im Bann dieser Klänge, die vor allem vom Verschwinden künden, sei es in der eröffnenden Berio-Hommage, dem slowenischen ‚Sara-Portrait’ oder der phrygischen Introversion einer immer wieder aufscheinenden tartarischen Volksweise.

Das Orchester zeigte sich nicht weniger dankbar als das Publikum und schenkte seinem ersten Gastdirigenten einen Applaus, von dessen überschwänglicher Herzlichkeit die anderen Münchner Maestri nur träumen können. Wie Lavard Skou Larsen in Salzburg und Neuss versteht es auch Storgårds in einmaliger Weise, einem Kammerorchester ein Maximum an Verfeinerung, Intensität und Reichtum des Ausdrucks zu entlocken. Das Münchener Kammerorchester befindet sich im Höhenflug seiner bisherigen Geschichte.

[Christoph Schlüren, April 2017]

Virtuoses, nordisches Understatement beim MKO

Im Rahmen eines Nachtkonzerts fand am 11.03.2017 in der Pinakothek der Moderne mit dem Münchener Kammerorchester unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Clemens Schuldt ein ganz der anwesenden finnischen Komponistin Kaija Saariaho gewidmetes Konzert statt. Als Hauptsolisten hatte man den Violinisten John Storgårds eingeladen, der einmal mehr vollends zu überzeugen wusste.

Das 41. vom MKO veranstaltete Komponistenporträt ist erst zum zweiten Male einer weiblichen Protagonistin gewidmet. Zumindest in Europa darf man die Finnin Kaija Saariaho (*1952) zu den bedeutendsten Vertreterinnen ihres Berufsstandes zählen. Wichtige Grundlagen für die Herausbildung eines eigenen Stils waren die Berührung mit Vertretern einer streng seriellen Schreibweise (Brian Ferneyhough) wie die intensive Auseinandersetzung mit den Ideen der französischen Spektralisten (Gérard Grisey usw.). So verwundert es nicht, dass Frau Saariaho Ende der 1980er Jahre mehrere Stücke herausbrachte, die traditionelle Instrumentalensembles mit Elektronik verbanden. Dazu gehört Nymphéa (1987, für Streichquartett & Live-Elektronik). Mittlerweile bevorzugt es die Komponistin allerdings, Klangerfahrungen aus dem Umgang mit elektronischer Musik in direkten Instrumentalklang umzusetzen. Gerade beim Streichorchester verfügt Saariaho, alle nur erdenklichen Spieltechniken ausnutzend, über ein vielfältiges Spektrum auch ‚ungewohnter‘ Klänge, mit dem sie virtuos umgeht. Der erste Programmpunkt des Abends, Nymphéa reflections (2001), ist dann auch quasi eine Rekomposition besagten Quartetts für ein größeres Streicherensemble, das dann aber keiner Elektronik mehr bedarf. Geblieben ist die Einbeziehung von Sprache – durch die Spieler selbst, die im letzten Satz flüsternd aus einem Gedicht von Arseni Tarkowski rezitieren. Ich bin sofort beeindruckt von Clemens Schuldts präziser Zeichengebung und der offensichtlichen Fähigkeit, seine Musiker – alle quasi auf der Stuhlkante sitzend – zu höchster Anspannung und gegenseitigem Zuhören zu bringen. Das ‚Aufeinander-Hören‘ ist sowieso neben der gebotenen technischen Souveränität – allein die Vielzahl an verschiedensten Flageoletts ist unglaublich – die absolute Voraussetzung für eine adäquate Umsetzung von Saariahos Klangwelt. Das MKO ist völlig bei der Sache, reagiert aufeinander wie ein einziger Organismus und scheint wirklich Freude am gemeinsamen Spiel zu haben. Dies überträgt sich auch auf das gut besuchte Auditorium – trotz einiger Belanglosigkeiten, die die sechs kürzeren Sätze leider auch enthalten. Und mit der Akustik in der Pinakothek kommen die Streicher an diesem Abend deutlich besser zurecht als bei so manchem Konzert unter Alexander Liebreich.

Es folgen zwei Kammermusikwerke, die natürlich ohne Dirigenten vorgetragen werden. New Gates ist die Transkription eines Abschnitts aus dem Ballett Maa für Flöte, Viola und Harfe (1996) – schon die Besetzung weckt Assoziationen zu Debussy. Das Trio (Ivanna Ternay, Kevin Hawthorne u. Marlis Neumann) spielt mit Hingabe – ein angenehmer musikalischer Diskurs mit einigen intelligent gesetzten klanglichen Finessen, aber ohne jegliche Zielstrebigkeit oder gar Teleologie (auch das Ballett hat keinen ‚Plot‘). Häufig bei Kaija Saariaho wirkt dies wie ein Blick auf eine sich höchst differenziert verformende, plastische, aber opake Oberfläche, transformierte Räumlichkeit, ohne auch nur eine Idee davon zu erhaschen, was sich darunter noch verbergen mag. Das soll jetzt allerdings nicht als höfliche Umschreibung des Vorwurfs von ‚Oberflächlichkeit‘ missverstanden werden – es gehört durchaus zu einem gewissen Understatement Saariahos, wie es auch bei anderen nordischen Komponisten auszumachen ist.

Eher als Amuse-gueule zum eigentlichen Hauptwerk des Abends zu verstehen dann die Sept papillons (2000) für Violoncello solo, die die vier Cellisten des MKO – räumlich in die verschiedenen Himmelsrichtungen um die Rotunde verteilt – unter sich aufgeteilt haben. Schwierigste, ständig zweistimmige Klangstudien, die die Solisten faszinierend meistern. Im sehr aufschlussreichen und angenehm geführten Einführungsgespräch mit Clemens Schuldt berichtete Kaija Saariaho, dass sie diese Stücke jeweils nachts komponiert hat, um vom täglichen – für sie ungewohnten – Probenstress der Salzburger Uraufführung ihrer ersten Oper L’amour de loin herunter zu kommen.

Den Abschluss bildet dann das Violinkonzert Graal théâtre, 1994 für Gidon Kremer und großes Orchester geschrieben, hier in der alternativen Fassung (1997) für Kammerorchester – immer noch mit komplettem, einfachen Bläsersatz, Schlagwerk, Klavier und Harfe. Als Solist hat man John Storgårds gewinnen können. Ich war sehr gespannt, diesen mittlerweile als Dirigent international bekannten Musiker, der ja auch schon sehr erfolgreich das MKO leitete, auf der Violine zu hören. Bereits für die Erstfassung hatte er der Komponistin bei der Entwicklung des Soloparts mit Rat und Tat zur Seite gestanden, dann die zweite Version uraufgeführt und das Werk inzwischen – das verriet er nicht ohne Stolz – mehr als dreißig Mal gespielt. Dass Storgårds mit dieser Musik mittlerweile symbiotisch verwachsen zu sein scheint, alles konzentriert ‚einfach da‘ ist, zeigt sich von der ersten Sekunde an – bei völliger äußerlicher Gelassenheit. Eine durch und durch verinnerlichte Klangvorstellung, der die Hände bei immensen technischen Anforderungen geradezu mühelos folgen, und die sich darüber hinaus auch noch sensibelst in den augenblicklichen Gesamtklang des Ensembles zu integrieren vermag – das ist Weltklasse! Clemens Schuldt kann sich mit diesem Solisten wie in Abrahams Schoß fühlen, aber die nötige Aufmerksamkeit und Präzision ist dann auf den Punkt da, ebenso der Überblick für die Gesamtdisposition der beiden umfänglichen Sätze – zumindest der zweite ist auch konfliktgeladen. So vorgetragen gelingen Momente von Intimität, aber auch solche energischsten Zugriffs, die einfach überzeugen; eine Aufführung, wie man sie sich authentischer kaum vorstellen kann. Als Zugabe bedankt sich Storgårds noch mit einem Nocturne, selbstverständlich von Kaija Saariaho, die trotz Zeitdrucks – sie schreibt gerade an ihrer vierten Oper – wohl gerne nach München gekommen ist. Verdient großer Applaus für diese ‚Nachtmusik‘ geht an alle Beteiligten.

[Martin Blaumeiser, März 2017]