Die letzte der „Stationen der Musikgeschichte“, des diesjährigen Konzertzyklus der Reihe Klavierspielkunst von und mit Jürgen Plich, beschäftigt sich mit „Mussorgsky plus“, wobei das Plus am Nachmittag des 5. Juni 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München für Claude Debussy steht. Von Debussy erklingen die Estampes aus dem Jahre 1903 (Pagodes, La Soirée dans Grenade und Jardins sous la pluie). Aus der Feder von Mussorgsky werden die unverwüstlichen Bilder einer Ausstellung (Erinnerungen an Viktor Hartmann, 1874) dargeboten sowie mit der Mezzosopranistin Dorothee Labusch der Liederzyklus Kinderstube von 1870-72 in deutscher Übersetzung (Mit der Njanja, Im Winkel, Der Käfer, Mit der Puppe, Abendgebet, Kater Prinz, Steckenpferdreiter).
„Er war einst mein Schüler, nun ist er mein Kollege“, so lobte der gefragte Pädagoge und Pianist Professor Gregor Weichert den heute zu hörenden Jürgen Plich bei seinem Konzert im April diesen Jahres, welches ich ebenfalls für The New Listener besprach. Bei solchen auf distinguierte Art anerkennenden Worten konnte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, das heutige Konzert zu besuchen, welches den Abschluss dieser Saison von Klavierspielkunst darstellt. (Doch keine Angst, die Termine für die kommende Saison sind bereits bekanntgegeben, im November gibt es Schubert und im kommenden Jahr sechs Konzerte mit allen Klaviersonaten von Mozart.)
Das Saisonfinale führt den Hörer zu zwei absoluten Nationalisten, deren Musik meist ganz und gar im Zeichen ihrer Heimat steht: Claude Debussy und Modest Mussorgsky. Den Beginn macht Debussy mit seinen Estampes, drei kurzen „Zeichnungen“, bestehend aus den von der Gamelanmusik beeinflussten Pagodes, den flüchtigen Impressionen spanischer Musik in Le Soirée dans Grenade und dem perlig-verregneten Jardins sous la pluie. In diesen kurzen Stücken liegen ganze Welten voll prächtiger Farbenspiele, innovativer Zusammenklänge und stets dem auf den Punkt gebrachten „lyrischen Moment“.
Die Verbindung zum folgenden Liederzyklus Kinderstube von Modest Mussorgsky schafft Jürgen Plich durch seine höchst informative Werkeinführunge, lobte doch Debussy alias Monsieur Croche die Lieder des Russen in einer Zeitungsrezension als absolutes Meisterwerk. Und auch heute noch, weit mehr als 100 Jahre später, kann man Debussy nur zustimmen. Die sieben Lieder glänzen in ihrer leicht-beschwingten Art in erhabener Zurückgenommenheit, welche jeder Akkordwendung Bedeutung schenkt und nicht eine Note überflüssig erscheinen lässt. Die ebenfalls von Mussorgsky stammenden Texte sind in der Singstimme wie in der Klavierbegleitung unmittelbar ausgedeutet, geben immer wieder zum Grinsen Anlass, können aber auch einmal einen kurzen Schauer über die Rücken der Hörer gleiten lassen. Gerade die (teils nur vermeintliche, teils aber auch tatsächliche) Unschuld aus den Mündern der hier sprechenden Kinderfiguren zeugt durchweg inspirierte und phänomenal beschworene Momente.
Nach der Pause folgt der große Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung, Erinnerungen an Viktor Hartmann. Zehn Bilder des großen russischen Malers und engen Freundes vertonte Mussorgsky, ging dabei allerdings weit über die bildliche Vorlage hinaus und schuf eine ganze Geschichte, die dadurch gegeben ist, dass der Ausstellungsbesucher (wohl Mussorgsky selbst) mit abgebildet ist, wie er von einem Kunstwerk zum nächsten schreitet – in den Promenaden. Warum die Promenade nach den Katakomben nicht mehr als eigener Abschnitt betitelt ist, sondern mit „Con mortuis in lingua mortua“ einen neuen Titel erhält sowie im Großen Tor (dem Heldentor) direkt eingebunden erscheint, wird dabei allen Erbsenzählern wohl immer ein Rätsel bleiben. Ob der Besucher nun so von den Bildern in den Bann gezogen wird, dass das Gehen als unbewusste Aktion geschieht, oder ob doch die Toten in der Grabstätte den Besucher in die Kunstwerke selbst gebannt haben, dass er Teil von ihnen wird, werden wir nicht belegen können.
Jürgen Plich erweist sich als ein exzellenter Pianist, der die Musik durchdringen, auffassen und mit spielerischer Leichtigkeit glaubhaft vermitteln kann. Tatsächlich lässt sich vom technischen Aspekt her eine Parallele zu Gregor Weichert ziehen, was seinen gesamten Armeinsatz betrifft, der jedoch von Plich auch modifiziert und abgewandelt wurde. Besonders auffällig dabei ist sein federndes Handgelenk, welches die Energie vom Körper direkt in die Fingerkuppen bringt, der Arm dient vor allem als reiner, federleichter Vermittler, der absolut keinen Widerstand darstellt, sich auf alle geforderten Umstände einstellen kann. Dies hat einen sehr feinen, sensiblen Ton zur Folge, der eine Leichtigkeit und unmittelbare Wirkung beinhaltet, der man sich schwerlich entziehen kann. Durch eine vollkommen natürlich erscheinende Phrasierung wird der Hörer sogleich in den Bann gezogen und es herrscht durchweg eine beeindruckende Aufmerksamkeit im (leider zu wenig gefüllten) Saal, wie sie selten zu finden ist.
Besonders interessant ist Jürgen Plichs Vorgehen in Mussorgskys Bildern einer Ausstellung, denn hier wird auch er noch einmal schöpferisch tätig. Er vollzieht einige durchaus merkliche Änderungen gegenüber der üblichen Auslegung der Spielanweisungen, was Dynamik und auch Tempo betrifft. Ein Großteil dieser Änderungen funktioniert einwandfrei und unterstreicht einige Aspekte, die ihm besonders wichtig sind wie die zauberhaft-verschleierte Melodievariation im Alten Schloss, der fast aufständisch wirkende Gesang in der Mitte des Bydło, die markanten Unterschiede zwischen den beiden Juden Samuel Goldenberg und Schmuÿle oder das pittoreske Markttreiben in Limoges. Auch das Heldentor in der Hauptstadt Kiew erhält durch feiner gewählte Dynamik einen wesentlich größeren Aufbau zum Schluss hin. Lediglich der Gnomus erklingt etwas „harmlos“, da die aufbegehrende Anfangsfloskel häufig unscheinbar leise und zu schnell, somit schwer verständlich, herüberkommt. Im Gegensatz dazu wirken die unausgeschlüpften Küken etwas zu erwachsen, da aus dem piepsenden Pianissimo (bis ppp sogar) ein gesundes Mezzoforte wurde, wodurch sie stellenweise etwas plump tanzen. Interessant gestalten sich die Harmonien in den Katakomben, dem Umbruchstück des Zyklus‘. Die vollen Akkorde bilden sich gut abgestimmt aus mit der vielseitig unterlegten Dynamik zu einem stimmungsvollen Gemälde voll innerer Schrecken, die in die diesmal besonders düster flirrenden Stimmen der Toten übergehen. In die Promenade, so erscheint es mir, kann sich Jürgen Plich als Individuum gut hineinversetzen, hier bringt er am deutlichsten sich selbst ein und geht authentisch durch Hartmanns Ausstellung. So wird auch der Zuhörer hineingezogen in die Magie der Bilder, denn die Geschichte passiert unmittelbar vor ihnen und nicht irgendwo in weiter Ferne durch einen nicht anwesenden Dritten.
In der „Kinderstube“ begleitet Plich seine Sängerin als gleichwertiger und gut abgestimmter Widerpart, der nie ihre Stimme verdeckt und doch ein vollwertiger Partner mit präsenter musikalischer Aussage ist. Dorothee Labusch, extra aus der Schweiz angereist, präsentiert die sieben Lieder in einer hinreißenden Darstellung, in welcher sie direkt bildlich die Kinder und ihre Njanja verkörpert. Die Rollen kauft man ihr vorbehaltlos ab, so natürlich und ungekünstelt stellt sie diese dar. Mit reiner Intonation und zumeist problemloser Textverständlichkeit fliegt sie förmlich über der Klavierbegleitung dahin und bezieht den Zuhörer mit ein in die so charmant dargestellten Kinderwelt, die eigentlich niemanden unberührt lassen kann.
Auch die Welt von Debussy eröffnet sich dem Hörer in den einfühlsamen Darbietungen von Jürgen Plich, denn die der Natur lauschende Musik scheint eine besondere Stärke des Pianisten zu sein, und so fesselt er die Konzertbesucher direkt vom ersten abgerundeten Ton an und dringt tief in das Wesen dieser Musik ein.
[Oliver Fraenzke, Juni 2016]