Schlagwort-Archive: Johannes Brahms

Music for Yodit

Music For My Love – Celebrating the Life of a Special Woman
100+ New Works for String Orchestra, Volume One

Johannes Brahms / arr. Ragnar Söderlind: ‚Von ewiger Liebe’; Robin Holloway: Music for Yodit; Poul Ruders: Lullaby for Yodit; Mihkel Kerem: A Farewell for Yodit; Andrew Ford: Sleep; Steve Elcock: Song for Yodit, Op. 23; Brett Dean: Angels’ Wings (Music for Yodit); Jon Lord / arr. Paul Mann: Zarabanda Solitaria; John Pickard: –forbidding mourning…; Ragnar Söderlind: ‚Å, den svalande wind…’: 15 Variations on a Norwegian Folk Tune, Op. 120; Maddalena Casulana / arr. Colin Matthews: Il vostro dipartir

Kodály Philharmonic Orchestra (Debrecen), Paul Mann

Toccata Classics, TOCC CD 0333 (EAN: 9060113443335)

Eigentlich hätte die Albumserie ‚Music for Yodit’ heißen sollen, doch davon ausgehend, dass dies stets erklärungsbedürftig geblieben wäre, entschied sich Martin Anderson, Labeleigner und künstlerischer Leiter von Toccata Classics, für den Titel ‚Music For My Love’. 2008 hatte er die im eritreischen Asmara geborene Yodit Tekle kennengelernt, und als der gemeinsame Sohn Alex vier Jahre alt war, erfuhren sie, dass Yodit Magenkrebs hatte. Martin bat einige Komponistenfreunde um Stücke zu ihrem Trost, die dann – nach ihrem Tod am 24. April 2015 – zu Gedenkstücken wurden. Vor allem aber war die Reaktion so überwältigend, dass die Zahl der Stücke mittlerweile auf über 100 angewachsen ist, allesamt für Streichorchester – und diese Werke sollen nun also nach und nach alle auf CD erscheinen, in der Serie ‚Music For My Love’, deren erste Folge jetzt vorliegt. Es handelt sich also zugleich um einen einmaligen Akt der Repertoireschöpfung. Das erste Album wird von einem Streicherarrangement des Brahms-Lieds ‚Von ewiger Liebe’ (ohne Gesang) durch den großen norwegischen Symphoniker Ragnar Söderlind eröffnet, der mit 15 Variationen über eine norwegische Volksweise auch das hochdramatisch romantische, so mannigfaltige wie einheitliche Hauptwerk beigesteuert hat. Und Söderlind ist nicht der einzige bedeutende Meister, der hier vertreten ist. Robin Holloway hat ein herrlich herb einprägsames und in der Substanz verdichtetes, sehr poetisches Stück geschrieben, und John Pickard, der große britische Tondichter unserer Zeit, verfasste mit ‚…forbidding mourning…’ ein Meisterwerk  ornamentischer Kontrapunktik, das auch durch seine Geschlossenheit überzeugt. Kleinigkeiten trugen der Däne Poul Ruders und der Australier Brett Dean (sehr apart!) sowie Andrew Ford bei. Der in Tallinn gebürtige Mihkel Kerem hat ein introvertiertes Stimmungsgemälde geschaffen, wie auch Steve Elcock, dessen ‚Song for Yodit’ als erste Gabe entstanden ist. Der Dirigent der Aufnahme, die in Debrecen mit dem Kodály Philharmonic Orchestra gemacht wurde, hat die feierliche ‚Zarabanda Solitaria’ des einstigen Deep Purple-Keyboarders Jon Lord arrangiert, und zum Abschluss erklingt das ergreifende Madrigal ‚Il vostro dipartir’ von Maddalena Casulana (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, gedruckt 1568 in Venedig), der ersten Europäerin, deren Musik einen Verleger fand, in einer schönen Einrichtung von Colin Matthews. Die Zusammenstellung ist sehr gelungen, einige der Werke sind eine echte Bereicherung für die reiche Literatur für Streichorchester. Die Aufnahmen und die Klangqualität sind ordentlich, das Booklet ist sehr informativ. Ein wirklich gelungener, berührender Beginn einer Serie, die nicht nur aufgrund ihrer Entstehungsumstände weithin Beachtung verdient – und Martin Anderson beweist auch hier einmal mehr, dass er es versteht, das unmöglich Scheinende möglich zu machen, dank der Wertschätzung, die die Komponisten ihm persönlich und seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Entdecker, Produzent, Enthusiast, Kritiker und Verleger entgegenbringen.

[Christoph Schlüren, Dezember 2016]

Alles von wild bis berückend zart

Konzert vom Sonntag, den 27. November 2016  19 Uhr; Herkulessaal der Münchner Residenz

Symphonieorchester Wilde Gungl München; Margarita Oganesjan, Klavier, Doren Dinglinger, Violine, Uladzimir Sinkevich, Violoncello; Michele Carulli, Dirigent

Ludwig van Beethoven: Konzert für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester (Tripelkonzert) C-Dur op. 56; Johannes Brahms: Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68

Photo Matthias Hallensleben
Photo Matthias Hallensleben

Die allererste Frage nach dem Tripelkonzert von Beethoven: Warum, unbegreiflicherweise, hört man diese wundervolle Musik nicht viel öfter im Konzertsaal?  Oder, etwas „cooler“ gefragt: Was ist besser als ein Solist? Eben deren drei, noch dazu von derart exquisitem Zuschnitt wie an diesem Abend. Dass Michele Carulli die Wilde Gungl und sich selbst hinter die drei Solisten postierte – übrigens auf seinen Wunsch, um dem Trio das bessere Zusammenspiel zu ermöglichen –, führte zwar an einigen Stellen zu leichten Irritationen, ist jedoch dennoch bemerkenswert. Und diese beeindruckende Musik unmittelbar beim Entstehen erleben zu können, ist jedesmal ein solches Erlebnis, damit kommt keine noch so gute und perfekte CD mit. Live is Life! Und die Musiker des Orchesters begleiteten die Solisten mit äußerster Intensität und bereiteten ihnen das wünschenswert obligate „Silbertablett“. Michele Carulli dirigierte wie immer mit Leib und Seele, befeuerte seine Instrumentalisten und brachte vor allem wieder einmal die Streichergruppen zum Blühen und zum Klingen. Besonders schön gelang der zweite Satz, das melodiöse Largo, in dem der Cellist zu Hochform auflief. Was allerdings nicht heißen soll, dass die anderen beiden Solisten es ihm nicht gleich getan hätten. Aber die dem Cello einkomponierte Kantilene ist eben besonders beeindruckend und war bei Uladzmir Sinkevich in allerbesten Händen. Margarita Oganesian, die in München schon des öfteren zu hören war, ist eine wunderbare Musikerin, die den Klavierpart nicht nur bravourös spielte, auch das Zusammenspiel der drei war großartig, wozu die Geigerin Doren Dinglinger ihre silberne Geige bestechend ins Spiel brachte. Intensiver Applaus und Blumen….

Nach der Pause stand ein Koloss auf dem ambitionierten Programm: Die erste Symphonie in c-moll op. 68 von Johannes Brahms. Im – im Ticketpreis inbegriffenen – Programmheft war über die vielen Skrupel des Komponisten zu lesen, mit denen die Entstehung seiner späten „Ersten“ befrachtet war. Nach der Aufführung wurde mir klar, warum Arnold Schönberg sich immer auch als Nachfolger und in der Tradition von Brahms stehen sah: So kühn und modern ist sie eben auch heute noch, diese Symphonie.

Nicht, weil sie ein wirklich großes Orchester verlangt mit Kontrafagott, vier Hörnern und drei Posaunen, wobei letztere bis zum letzten Satz warten müssen. Was  den Musikerinnen und Musikern da abverlangt wird, geht hart an die Grenze, da ist nicht mehr von Amateurorchester oder Laienspielern die Rede, da wird alles gefordert, auch vom Dirigenten – der „seine“ Wilde Gungl mit Feuereifer und vollem Körpereinsatz zum Entstehen dieses Werkes anleitete und anregte. Vom wilden Fortissimo bis zum sanftesten Pianissimo ist alles vertreten, bis hin zu den schönsten Klängen oder der berückenden, wohlbekannten Melodie im letzten Satz. Seine „kontrapunktischen Kunststücke“, wie sie Eduard Hanslick bemängelte, machten dessen Urteil nach der Wiener Erstaufführung nicht schlechter, im Gegenteil, er lobte sie als eines der „eigentümlichsten und großartigsten Werke der Sinfonieliteratur.“

Langanhaltender Beifall, wiederholtes Erscheinen des Dirigenten, der dann per Handschlag sich bei allen besonders geforderten Orchester-Solisten – Hörner, Bläser, Pauke usw. – bedankte und seiner Begeisterung mit einer Zugabe – einem Teil aus dem vierten Satz – freien Lauf ließ.

Ein Abend, der wieder einmal zeigte, zu welchem Niveau die Liebe zur Musik und die Arbeit an der Musik im Stande sind. Das Orchester „Wilde Gungl“ ist unter seinem neuen Dirigenten Michele Carulli wieder ein großes Stück gewachsen, was das zahlreich erschienene Publikum begeistert und dankend zu Kenntnis nahm und nimmt.

Ceterum censeo: Es wird Zeit, dass das verschlafene Münchner Zeitungsfeuilleton die „Wilde Gungl“ und ihre Konzerte endlich einmal zur Kenntnis nimmt. Auch das gehört zur Aufgabe einer Münchner Zeitung!

[Ulrich Hermann, November 2016]

Maximale Vitalität in den Sphären der Transzendenz

Die italienische Meisterpianistin Ottavia Maria Maceratini gab am 26. Juni im von Säulen durchzogenen Gewölbesaal der Mohr-Villa in München-Freimann ein Solo-Recital mit Ludwig van Beethovens ‚Mondschein’-Sonate, den jeweils ersten beiden Balladen von Johannes Brahms und Frédéric Chopin, der Sonatine von Maurice Ravel und der großen Phantasie ‚Guerrero Andino’ von Juan José Chuquisengo, die sie in diesem Jahr in der Zürcher Tonhalle uraufgeführt hatte.

Was für ein Ereignis! Ich bin kein Freund von Schwärmereien, doch hier fällt es mir schwer, einen nüchternen Tonfall anzuschlagen. Ottavia Maria Maceratini, die aus den Marche stammende, bei Lorenzo di Bella, Elisso Virsaladze und Christoph Schlüren ausgebildete Pianistin, soeben 30 Jahre alt geworden, hat zum wiederholten Male in München gespielt, nachdem sie als Solistin mit dem Deutschen Symphonieorchester in der Berliner Philharmonie und bei ihrem Debüt in der Zürcher Tonhalle bemerkenswerte Erfolge feiern konnte. Ich kannte bislang ihre beiden vorzüglichen, bei Aldilà Records erschienenen Solo-CDs, und so bedurfte es keinen großen Zuredens besser informierter Freunde, um sie mir endlich einmal live anzuhören.

Ich möchte es angemessen direkt angehen: Hier tritt eine der beeindruckendsten Musiker-Erscheinungen der jungen Generation vor uns, mit einer spürbaren, respektgebietenden Reife und Selbstbewusstheit, und vollkommen jenseits virtuosen und philosophierendes Beeindrucken-Wollens. Dieser jungen Künstlerin geht es überhaupt nicht um eine Karriere, sie schert sich nicht um das, was fast alle wollen, und sie versucht gar nicht erst, angepasst zu gefallen. Das Adagio von Beethovens Mondschein-Sonate ist in seiner durchlässigen Introspektion ein sehr heikler Einstieg, und sie ließ es so langsam angehen, dass der Kosmos geradezu herausgefordert wurde, mit Mut und Unerschrockenheit, und dabei mit einer sensitiven Gegenwärtigkeit, die Ehrfurcht einflößen kann. Das Finale dann hat das Publikum in ungeheurer Weise aufgeschreckt und erschüttert: was für eine Dichte, geballt dunkle Energie, gebündelte Wildheit. Sie spielt mit einer unglaublichen Kraft aus dem ganzen Körper, aus der Hüfte scheinen alle Klänge direkt übertragen, und egal wie wuchtig es klingt, ist es doch nie gefühllos geschlagen, der Klang wird nicht hart, sondern machtvoll kernig. Danach die beiden Brahms-Balladen, von wunderbarer Wärme und Empfindsamkeit, dabei herrlich klar strukturiert, so ganz organisch zusammenhängend verstanden, und mit einem ‚siebten Sinn’ für die hier so wichtigen tiefen Register. Ganz menschlich durchfühlt, und doch auf Transzendenz gerichtet. Chopin entfaltete eine überwältigende Kraft, vor allem in der g-moll-Ballade, die fast wie aus einem Guss entstand. Das Wunder ist, wie es zugleich aufs feinstrukturell Präziseste erarbeitet ist und doch mitreißend spontan wirkt. Und Ottavia Maria Maceratini ist das Gegenteil von einem Oberstimmen-Häschen! Sie hat stets den ganzen Umfang, die ganze Bandbreite des Tonsatzes im Blick, und selbst die Begleitfiguren sprühen vor Leben und – Wesentlichkeit!

Nicht weniger gelang die Zauberwelt Maurice Ravels, wobei man sich besonders hier eine besseren Flügel gewünscht hätte als das recht bescheidene Hohner-Modell, das kaum ein leises Spektrum zulässt, zumal in einer so halligen Akustik. Aber es sind ja auch die besonderen Herausforderungen, in denen sich wahre Qualität erweisen muss, und zweifellos hat sie eigentlich mehr daraus gemacht als „das Beste“ – sie hat uns völlig vergessen lassen, wie unzulänglich die zur Verfügung stehende Materie war. Dies gilt auch für den gut 20minütigen ‚Guerrero Andino’, den ‚Andenkrieger’ von Juan José Chuquisengo, der sich anschickt, nicht nur der substanziellste Komponist seiner peruanischen Heimat zu sein, sondern der lateinamerikanischen Musik eine neue kompositorische Klasse erschließt, die hoffentlich noch viele Früchte tragen wird. Ohne den geringsten Zweifel dürfen wir annehmen, dass dieses Stück bald ein Klassiker unserer Zeit sein wird. Und die Hypervirtuosität des Klaviersatzes ist in diesem Fall nicht abschreckend, sondern in völliger Übereinstimmung mit dem inneren Reichtum des Komponisten und dem weiten Spektrum instrumentalen Ausdrucks, der einfach notwendig ist, um diesen Reichtum einzufangen. Als Zugaben folgten danach noch Chopins Nocturne Opus 48. Nr. 2 in fis-Moll und Schumanns Arabeske, ein bisschen sehr geschwind, aber faszinierend organisch erarbeitet. Glücklich, wer hier dabei sein konnte. Und wir beobachten mit großer Spannung, wohin sich Ottavia Maria Maceratini noch bewegen und entwickeln wird. Schon jetzt ist sie ein leuchtendes Beispiel für junge Musiker, die Orientierung suchen in einer Klassikwelt, die immer mehr zum Business der Stars und Exoten degeneriert ist. Sie ist auf einem Weg, der Musik als spirituelle Erfahrung möglich macht, ohne dass dies irgendwie den Lustfaktor beeinträchtigen würde – tatsächlich ein Wunder: maximale Vitalität mitzunehmen in die Sphären der Transzendenz.

[Ernst Richter, Juni 2016]

Rund um die Drei

Drei Jahrzehnte Bühnenjubiläum feiert Ingolf Turban mit den drei Violinsonaten von Johannes Brahms auf drei großartigen Geigen aus drei Jahrhunderten. Im großen Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater München findet am 13. April um 19:00 das Jubiläumskonzert statt, am Klavier dabei seine langjährige Kammermusikpartnerin Gabriele Seidel-Hell.

Wenn Ingolf Turban sagt, er habe sein 30-jähriges Jubiläum auf der Konzertbühne, so ist dem nicht ganz richtig. Schließlich spielte er bereits mit fünf Jahren seinem Gemeindepfarrer vor und stand mit sieben auf dem Podium des großen Konzertsaals der Hochschule für Musik und Theater München, dem Ort des heutigen Konzertabends. Vielmehr bezieht sich diese Zahl auf einen denkwürdigen Auftritt kurz nach seiner Ernennung zum Konzertmeister der Münchner Philharmoniker. Als Einspringer für eine erkrankte Solistin übernahm Turban damals den Solopart von Sibelius‘ grandiosem Konzert d-Moll Op. 47 unter Sergiu Celibidache, was ihm entscheidend zum Durchbruch verhalf, vor allem jedoch eine zutiefst prägende Erfahrung war.

Später wurde Ingolf Turban vor allem bekannt durch seine Darbietungen und Einspielungen unbekannterer Musik und holte teils komplett verloren geglaubte Schätze ans Licht. Umso glücklicher schätzt sich der Virtuose, wie er selbst bekundet, heute einmal drei Werke der Standardliteratur vorzutragen. Die drei großen Violinsonaten von Johannes Brahms sind drei grundverschiedene Werke: die zart-vernebelt scheinende G-Dur-Sonate Op. 78 – welche ja auch Regen-Sonate genannt wird, was auf den Titel des dort zitierten „Regenlieds“ aus Op. 59 zurückgeht -, dann die klare und brillante ‚Meistersinger’-Sonate in A-Dur Op. 100 sowie die dunkel-herbe in d-Moll Op. 108. So entscheidet sich Turban, jedem der Werke eine eigene Stimme zu verleihen und folglich ein französisches, ein italienisches und ein deutsches Instrument, je aus einem anderen Jahrhundert und von jeweils einem äußerst namhaften Geigenbauer, zu spielen.

Den drei hochkarätigen Instrumenten entlockt Ingolf Turban immer neue, scheinbar nicht enden wollende Nuancen der Tongestaltung. Bei all dem vermeidet er allerdings dennoch die Extreme und kann die Musik vor effekthascherischen Oberflächlichkeiten bewahren, zu denen viele Virtuosen etwa in der dritten Sonate neigen. Die bewegten Sätze geraten zu keiner Zeit hastig oder überstürzt, das Tempo wirkt kontrolliert und bodenständig, und auch die ruhigeren Sätze driften nicht in überzogene Träumereien aus, was auch ganz untypisch für die robust-männliche Musik Brahms‘ wäre. Gerade bei der Phrasierung zeigt sich, dass Turban aus der Schule von Sergiu Celibidache stammt, denn er behält stets eine Natürlichkeit darin, was ausschließlich über genaueste Auslotung der Spannungs- und Intervallverhältnisse bewusst geschehen kann, wie es Celibidaches Phänomenologie lehrt. Höchst bemerkenswert ist das Vibrato Turbans, welches einmal nicht als bloße Verstärkung jedes einzelnen Tons dient, sondern in verschiedenen Schattierungen besondere und ansprechende Effekte aus bestimmten Passagen hervorlockt, während manche Stellen auch komplett ohne dieses Hilfsmittel auskommen können.

Spürbar ist die langjährige kammermusikalische Verbindung mit Gabriele Seidel-Hell, welche die anspruchsvollen Klavierparts souverän gestaltet. Beide Musiker empfinden genau denselben Tempoimpuls und lassen Tempoänderungen vollkommen synchron gefühlt entstehen. Nur an wenigen Stellen könnte Seidel-Hell ein wenig mehr in den Vordergrund treten und als gleichwertige Duettstimme agieren, anstatt im Hintergrund zu bleiben. Auch manchen Kontrast könnte sie noch etwas stärker hervorheben, gerade die rastlose Konfliktrhythmik oder plötzliche Wechsel von thematischem Material oder Harmonik könnten das fahl abschattierte Licht der Verhaltenheit verlassen. Abgesehen davon strotzt ihr Spiel von Energie und Vitalität, bleibt dennoch zart und eher hintergründig. Alles erhält eine enorme Lockerheit und Leichtigkeit, wobei auch sie nie ins impressionistische Extrem abgleitet und somit dem Geiste Brahms’ ziemlich gerecht wird.

Wie Turban richtig vermutet, erwartet jeder im Publikum als Zugabe das Scherzo der F.A.E.-Sonate als einzigen weiteren Satz für diese Besetzung von Johannes Brahms. Doch genau deshalb spielen er und Seidel-Hell es nicht, sondern lassen den Abend gemütlicher auslaufen, und zwar mit einem innig-empfundenen und genießerisch-wachen langsamen Satz von Robert Schumann.

Das Publikum liebt und dankt es sehr. Bleibt nur, den Jubilar zu beglückwünschen und auf die nächsten dreißig Jahre gespannt zu sein.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Maeckel auf der Probe

„Liszt plus“ lautet der Titel des Konzerts von Professor Gregor Weichert am Nachmittag des 3. April 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München. Das Konzert der Reihe „Klavierspielkunst – Stationen der Musikgeschichte“, veranstaltet von Jürgen Plich, enthält Werke von Liszt, nämlich zwei Legenden, Die Zelle in Nonnenwerth und die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium, sowie von Louis Vierne Le glas und von César Franck Prélude, Choral et Fugue. Zwei Intermezzi von Johannes Brahms, dessen Todestag begangen wird, bilden die Zugabe.

Vor einiger Zeit besprach ich für The New Listener das Buch „Das organische Klavierspiel“ von O. V. Maeckel, eine in Vergessenheit geratene Methode eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden und damals hoch angesehenen Klavierpädagogen, der versuchte, die noch nie in Worte gefasste Methode der großen Klaviervirtuosen wie Franz Liszt zu entschlüsseln und authentisch zu unterrichten. Herausgeber des im Staccato-Verlag erschienenen Reprint ist Gregor Weichert, emeritierter Professor in Münster, der selber nach Maeckels Methode spielt und lehrt. So lasse ich mir natürlich die Chance nicht nehmen, seinem Konzert im Münchner Schloss Nymphenburg beizuwohnen und die praktische Umsetzung von Maeckels Methode unter die Lupe zu nehmen.

Wie auch der Pädagoge des frühen 20. Jahrhunderts ist Weichert ein großer Anhänger von Franz Liszt und Erforscher auch von dessen geistig-spiritueller Seite. Da verwundert nicht, dass sowohl Liszt als auch das Religiöse das Konzertprogramm einem roten Faden gleich durchziehen. Zwei Legenden von großen Heiligen, die Zelle in Nonnenwerth, und eine Polonaise aus dem lediglich als Klavierparticell vorliegenden Stanislaus-Oratorium des Chopin-Freundes machen den ersten Teil des Recitals aus, Francks Prélude, Choral et Fugue sowie das Totengeläut, Le glas, des für seine Orgelsymphonien berühmten Franck- und Widor-Schülers Louis Vierne den zweiten. Kurze Moderationen Weicherts vermitteln leger und gekonnt sein fundiertes Wissen und tiefes Verständnis der gespielten Werke.

Der Klang verzaubert und erstaunt gleichermaßen von der ersten Sekunde an: Professor Gregor Weichert entlockt dem Broadwook & Sons Full Concert Grand von 1896 einmalige Schattierungen und einen sauberen, klaren und vollendet abgerundeten Ton. Tatsächlich manifestiert sein Spiel nach der Klaviermethode von O. V. Maeckel eine ganz eigene Art des Anschlags, der ein unerwartetes Hörerlebnis hervorruft. Besonders auffällig sind hierbei die weittragenden Gesangslinien (die 3. Spielart nach Maeckel) sowie die genauestens durchbalancierten Akkorde (wovon Maeckels zweites Kapitel handelt). Zu keiner Zeit scheint sich Weichert sonderlich anzustrengen, er geht nur mit dem nötigen Druck in die Tasten hinein, wodurch niemals Härte entsteht, alles geschieht aus der Entspanntheit der Muskeln und aus der natürlichen Schwerkraftenergie heraus.

Darüber hinaus ist für das Spiel von Gregor Weichert innere Ruhe und Gelassenheit bezeichnend, aus welcher heraus die Musik entstehen kann. Locker und entspannt nimmt Weichert selbst die virtuosesten Passagen und lässt sie in aller Einfachheit entstehen, ohne isolierte, nachdrückliche Effekte nötig zu haben.

Ein Stück, das noch besonders hervorgehoben werden sollte, ist die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium von Franz Liszt. Welch eine fortschrittliche harmonische Kraft in diesem Stück liegt, das ist wirklich faszinierend – niemals hätte man bei solch einer Musik an Franz Liszt gedacht, viel eher an einen späteren Neuerer. Besonders manche scheinbar falschen Noten stechen hervor, die im Gesamtkontext jedoch einen Sinn ergeben und nur punktuell fast wie „Blue Notes“ wirken. Nicht weniger beachtlich sind aber auch die restlichen Werke: die beiden programmbeladenen Legenden, Viernes düsteres und stimmungsgeschwängertes Le glas, welches wohl niemanden kalt lassen kann – vor allem nicht in solch einer reflektierten Darbietung -, und die chromatisch schillernde Virtuosität der Musik von César Franck, die rein musikalischen Zwecken dient. Unfassbar fesselnd geraten insbesondere die beiden Intermezzi von Johannes Brahms, welche es als Zugabe gibt, wie gewohnt in innerer Lockerheit und meditativer Ruhe – und umso stärker mit echt empfundenem Gefühl und Reife der Gestaltung.

So leitet Weichert direkt über in den nächsten Klaviernachmittag, der am 8. Mai mit seinem ehemaligen Schüler und nunmehr Kollegen sowie Veranstalter Jürgen Plich stattfinden wird. Bei „Brahms plus“ gibt es dessen dritte Sonate sowie die 3 Phantasiestücke Op. 111 von Robert Schumann. Auf dieses Konzert bin ich sehr gespannt.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Jubiläum in Regensburg

Sein 30jähriges Bestehen feiert das Regensburger Amateur-Orchester am Singrün mit drei Konzerten, am 20. Februar in Nittenau, am 21. in Viechtach und am 28. im heimischen Audimax der Universität Regensburg. Lutz Landwehr von Pragenau dirigiert Ludwig van Beethovens Egmont-Overtüre f-Moll Op. 84, das Cellokonzert h-Moll Op. 104 von Antonín Dvořák sowie die Erste Symphonie in c-Moll Op. 68 von Johannes Brahms. Der Solist ist Johannes König.

Gerade nach den Konzerten des Musica-Viva-Wochenendes in München ist es wieder eine angenehm klingende Wohltat, ein Programm hören zu dürfen wie das am 28. Februar im Audimax der Universität Regensburg. Nach ihren letzten Programmen mit teils nicht ganz so im Konzertleben etablierten Werken von Sergej Prokofieff oder Nino Rota gibt es am heutigen Abend ausschließlich Standardwerke der Konzertliteratur. Die Ouvertüre zu Goethes Egmont ist eine der ersten reinen Konzertouvertüren, sie fasst die gesamte Handlung des Dramas musikalisch zusammen und nimmt dabei noch die Siegessymphonie der Schauspielmusik vorweg. Nach der Enthauptungspassage schwenkt die bisher so bedrohlich-düstere Musik in überschwänglichen Jubel um und das Opfer Egmonts wird durch die Freiheit des Landes belohnt, wobei die Piccoloflöte ihren vielleicht ersten großen wie zentralen Auftritt der Musikgeschichte erfährt. Das späte Cellokonzert Antonín Dvořáks zählt als Königswerk der Gattung, blieb allerdings ein Einzelkind – ein früherer Versuch wurde vom Komponisten weder orchestriert noch veröffentlicht. Das Konzert zeichnet sich durch die Dvořák-typische Zelebrierung seiner eingängigen Themen und Motive wie durch einen sehr dichten und die Möglichkeiten des Instruments vollkommen ausnutzenden Solopart aus, der in den Ecksätzen keine Solokadenz erhält. Nach der Pause gibt es dann die erste Symphonie c-Moll von Johannes Brahms, dem diese Leistung erst nach jahrzehntelangem Ringen gelingen mochte, mehrfach unter der Last, es Beethoven gleichtun zu wollen, einknickend. Und wie auch in dessen Symphonien, Extremfall in der Neunten, ist Brahms‘ erstes symphonisches Werk absolut finalfokussiert und erfährt dort eine in strahlendem C-Dur ausmündende Apotheose, die thematisch sogar ein wenig an „Freude schöner Götterfunken“ erinnert, diese Ähnlichkeit aber geschickt – fast schelmisch – sogleich durch leichte Variation kaschiert.

Charakteristisch für das Orchester am Singrün ist ein recht trockener Klang ohne übermäßig viel Vibrato in den Streichern. Die Laienmusiker agieren auf recht beachtlichem Niveau und sogar das sonst bei Laienorchestern meist sehr risikobehaftete Blech spielt heute ziemlich sauber. Dynamisch kann das Orchester viele fein abgestufte Nuancen hervorbringen, was den Werken einen bezaubernden Ausdrucks- und Farbenreichtum verleiht, und was zweifellos das Verdienst des Dirigenten Lutz Landwehr von Pragenau ist. Erfreulich sind bei diesem Klangkörper vor allem die tiefen Streicher, die einen angenehm warmen und präzisen Klang haben und mit dem Vibrato sparsam umgehen, was gerade im Vergleich mit der üblichen Streicherpraxis wohltuend erscheint. Auch die Holzbläser spielen exakt, feinfühlig und mit viel sanglicher Anteilnahme.

Mit einem markigen und ebenso trockenen Klang kann sich Johannes König gut dem Orchester gegenüber behaupten im Violoncellokonzert von Antonín Dvořák. Mit dem hochvirtuosen Solopart und dessen technischen Schwierigkeiten kommt der junge Cellist bestens zurecht und spielt mit hoher Dichte und Konzentration. Jedoch nimmt er die Tempi gern um einiges zu schnell, wodurch die Sätze teilweise etwas bröckeln – gerade der letzte trotzige Finalaufbau droht, zu zerfallen. Die Tempi sind allerdings auch allgemein ein wenig wackelig an diesem Abend, schon bei Egmont irritiert, dass er teilweise auf Viertel genommen wird anstatt auf die vorgeschriebenen Halben, und auch bei Brahms hätte teilweise etwas mehr Ruhe nicht geschadet. Als Zugabe gibt Johannes König zusammen mit einigen Musikern des Orchesters noch den Schwan von Camille SaintSaëns aus dem Karneval der Tiere. Hier zeigt er, bei fast schon ulkig uhrwerkhaft-mechanischer Begleitung unter Führung des recht humorfrei erscheinenden Konzertmeisters, dass neben der halsbrecherisch-virtuosen Höchstleistung auch das lyrische Moment eine seine Stärken ist.

Der Mann des Abends ist zweifelsohne Lutz Landwehr von Pragenau, der bereits als Gründungsmitglied des Orchesters mitwirkte und auch heute wieder an dessen Spitze steht. Ihm gelingt es nicht nur, das Laienorchester gut zusammenzuhalten und zur Gestaltung auf artikulatorischer wie dynamischer Ebene anzuregen. Seine Bewegungen sind eine wirkliche Kunst für sich, alles ist sehr zentral aus dem Körperzentrum heraus empfunden in einem einzigen großen Fluss, der die Musik direkt bildlich zu beschreiben vermag. Mit seinen ausladenden Gesten animiert er die Musiker zu größter Anteilnahme. Wenn zwar an diesem Abend einige kleinere Pannen im Orchester passieren und es einige Stellen gibt, die nicht ganz so vollendet erklingen, so zeigt sich doch, welch eine gewaltige Leistung in der Arbeit dieses Dirigenten steckt und wie ein solches Orchester von dieser Leistung anhängt. Lutz Landwehr von Pragenau gehört definitiv nicht zu den Dirigenten, die ihre Assistenten die Arbeit machen lassen, um danach auf der Bühne eine große Show abzuziehen, wie man es bei manchen A-Orchestern oft erleben muss – sieht man den Vergleich, fällt dies schon bei den ersten Takten ins Auge. Es würde mich wirklich einmal interessieren, auch eines seiner eigenen Orchesterwerke live zu hören!

Als Zugabe gibt es noch den Ungarischen Tanz in g-Moll von Johannes Brahms, der besonders schwungvoll gelingt und wo das Orchester in höchster Motivation noch einmal zeigen kann, wie viele dynamische Nuancen sie aus der kurzen Miniatur herausholen können.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Zu den Wurzeln

Martin Fröst
Roots
The Royal Stockholm Philharmonic Orchestra

Verschiedenste Stücke verschiedenster Couleur

Sony Classical 88875065292

8 88750 65292 8

Ulrich0018

Voilà! La Musique!  Vom ersten Ton auf dieser CD mit dem schwedischen Klarinettisten – und Ausnahme-Musiker – Martin Fröst bis zum letzten: einfach nur Musik! Aber was für eine! Von alten Griechen – Seikilos-Epitaph – über Georg Philipp Telemann (1681-1767), über schwedische Folklore, jiddische Klezmer-Musik, Bernhard Crusell (1775-1838), einem der Ahnväter der schwedisch-finnischen  Musik, Johannes Brahms (1833-1897), Robert Schumann (1810-1856), Béla Bartók (1881-1945), Manuel de Falla (1876-1946), Astor Piazzolla (1921-1992) bis hin zu zeitgenössischen schwedischen Komponisten wie Göran Fröst (geb. 1974), Anders Hillborg (geb. 1954) und dem Letten Georgs Pelècis (geb. 1947) brennt dieser „Klarinetten-Spieler“ ein musikalisches Feuerwerk vom Hinreißendsten ab, aufgenommen  in hervorragender Klangqualität, was einem immer wieder staunende Bewunderung „abnötigt“. Er selbst beschreibt seine „roots“, also die Wurzeln seines Musizierens als riesigen Bogen von ersten Tönen bei den alten Griechen bis zu rein Improvisatorischem. Diese Wurzeln öffnen für Martin Fröst eben auch dadurch die Türen für eine Musik der Zukunft, wie sie sein großer Landsmann, der schwedische Komponist Anders Eliasson (1947-2013), in seinen Kompositionen schon aufgestoßen hat. Vielleicht hören wir demnächst auf einer neuen CD diesen wunderbaren Musiker einmal mit den grandiosen Klarinettenwerken von Eliasson, und dürfen Zeugen sein, wie beide durch dieses Tor durchgehen und uns einen musikalischen Ausblick in eine noch unerschlossene Zukunft der Menschheit ermöglichen.
Ob mit einer der ältesten überlieferten Melodien, dem griechischen Seikilos-Lied, dem sich  ein Stück von Hildegard von Bingen nahtlos anschließt, ob Stücke aus der schwedischen Folkore oder Klassisches vom finnisch-schwedischen Komponisten Bernhard Crusell zusammen mit dem Royael Stockholm Philharmonic Orchstra, die 5 Stücke im Volkston von Robert Schumann oder Rumänische Tänze von Béla Bartók oder aber Stücke im Blues-Charakter oder tangoähnliche von Astor Piazzolla oder Georgs Pelécics, immer überzeugt die überwältigende Spielfreude und musikalische Präsenz des Martin Fröst, man kann sich beim Hören nicht enthalten, selber ins Tanzen zu kommen, wie es dem Klarinettisten ja auch beim Spielen auf dem blauen Coverbild zu überkommen scheint. Musica vincit omnia – wie der alte Lateiner sagt.
Natürlich könnte ich über jedes dieser Musikstücke auf der CD seitenlang schwärmen, aber am besten ist es, diese CD sofort selber anzuhören, sie ist es im allerhöchsten Maße wert und zeigt die immerwährende Kraft wahrer Musik als einer diese Welt wenigstens eine Zeit lang transformierende musische Möglichkeit. Die Hoffnung stirbt – glücklicherweise – immer noch zu allerletzt.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

Brahms’sche Poesie für Violoncello und Klavier

NAXOS 8.573489, EAN: 7 47313 34897 8

Brahms_Cover

Neben den beiden Cellosonaten von Johannes Brahms spielen der junge, preisgekrönte Cellist Gabriel Schwabe und dessen nicht weniger namhafter Klavierpartner Nicholas Rimmer erstmals sechs Lieder des Komponisten, bearbeitet für ihre Besetzung, ein. Gefördert wurde die von Radio Bremen koproduzierte Aufnahme durch die Deutsche Stiftung Musikleben.

Von den vielen Aufnahmen der beiden Sonaten für Violoncello und Klavier Op. 38 in e-Moll und Op. 99 in F-Dur tendieren nicht wenige dazu, entweder sehr pauschal schwelgerisch die Solostimme herauszustellen oder schnell und trocken bis hin zu nichtssagend zu sein. Umso erfreulicher ist es, wie der noch nicht einmal dreißigjährige Schwabe und der nicht minder kompetente Rimmer beide Sonaten in ihrer Essenz klug und mit viel Innenleben deuten: Allgemein heben sie die Eigenständigkeit jeder Stimme klar hervor, gestalten die Themen, Verläufe und das Tempo so, dass sich immer eine geschlossene Struktur hieraus ergibt, ohne dabei jemals akademisch zu wirken. Dank dieser durchdachten Herangehensweise klingen beide Sonaten größtenteils „perfekt“, als ob es selbstverständlich und leicht wäre, so zu musizieren – was es natürlich nicht ist.

Prinzipiell gilt das auch für die eigentliche Novität dieser CD, die sechs ausgewählten Lieder aus verschiedenen Schaffensphasen des Komponisten in Cello-Arrangements. Dadurch, dass Brahms, dessen Liederzyklen immerhin ein Drittel seines gesamten Schaffens ausmachen, diese eher knapp und klanglich homogen schrieb, hatten die beiden Musiker sowohl in ihrer Bearbeitungspraxis als auch in ihrer Ausführung leichtes Spiel. Anders gesagt, erscheint es für Schwabe und Rimmer keine große Herausforderung, den Liedbearbeitungen Charakter zu verleihen und sie in ihrer individuellen Stimmung auszudeuten. Interessant ist die Auswahl der Lieder, welche die Künstler vornahmen und worüber der ausführliche und musikwissenschaftlich kompetente Booklettext von Oliver Fraenzke bestens informiert. Wie er schreibt, arbeitete das Duo daran, bewusst Lieder mit weiter entstehungszeitlicher Bandbreite (aus den Jahren 1866 bis 1885) zu wählen, die sich zudem in Melodieführung und Transponierbarkeit eignen und nach Bearbeitung für Cello und Klavier eigenständige, aber dennoch urtexttreue Werke bilden würden.

Die Mainacht (Op. 43, Nr. 2) wird zu einer dreiteiligen Nocturne, in deren Mittelteil sie das Pathos des originalen melancholischen Liedtextes („ …aber ich wende mich, / Suche dunklere Schatten“) angemessen zum Ausdruck bringen. Schwungvoll klingt die Botschaft (Op. 47, Nr. 1), was bisweilen auch für die Liebesglut (auch Op. 47, Nr. 2) gilt, wobei das Duo auch hier auf Klarheit der Stimmen setzt. Sind diese nun Werke aus den 1860er Jahren, so entstand Verzagen (Op. 72, Nr. 4) 1877. Dieses Lied beinhaltet eine noch komplexere Faktur sowohl durch die ständige 32stel-Bewegung als auch durch den weniger strophischen als entwickelnd durchkomponierten Aufbau. Und hier schaffen es Schwabe und Rimmer, ein vergleichsweise gemessenes Tableau aus diesem Lied zu formen, das in seiner Originalgestalt oftmals zu affektiert und dramatisch vorgetragen wird. Die in den 1880er Jahren entstandenen Lieder Sommerabend (Op. 85, Nr. 1) und Nachtigall (Op.97, Nr. 1) haben sowohl einen pastoralen Text als auch einen eher lyrischen Klangcharakter gemein. Auch hier kann man das Spiel der beiden Musiker und deren Sinn für die richtige Atmosphäre einfach nur makellos nennen, selbst in einigen wenigen Spitzentönen des Cellos, die um keinen Deut intensiver vibriert werden dürften.

In den mehr herausfordernden Sonaten spielen beide Künstler äußerst sicher und mit vollem Ton, nicht ohne Risiken einzugehen. Im Allegro non troppo der ersten Sonate erklingt das Grundthema sicher und gemessen, wogegen die Überleitung zum Seitenthema in h-Moll mit sehr viel Emotion durchdrungen ist. Bisweilen bewegen sie sich klanglich an der Grenze aller Sicherheit, behalten aber dennoch die Kontrolle und sorgen so beim Zuhörer für einige Spannung. Erfreulicherweise wird das Cello selbst in den lauteren Passagen nie zugedeckt. Auch die heiklen Akkordsprünge beider Instrumente in der Durchführung glücken vollkommen. Die Überleitung zur Reprise zeichnet sich durch Ruhe und Beherrschung im Zusammenspiel aus und bekräftigt wiederum die Ausgewogenheit zwischen klanglichen Gegensätzen. Im Allegretto quasi menuetto heben Schwabe und Rimmer das Tänzerische des Themas deutlich hervor, ohne je ins Vulgäre zu verfallen. Charakteristisch für dieses Menuett ist mithin die Leichtigkeit, die das Duo dem Stück angedeihen lässt, während das fis-Moll-Trio deutlich sensibler, jedoch gefasst wiedergegeben wird. Bezüglich des finalen Allegros klärt Fraenzke darüber auf, dass Brahms lange kein passendes Finale einfiel und die schließlich komponierte Fuge und ihr komplexes Gewebe problematisch für die Durchhörbarkeit werden könne. In der Tat geben auch Schwabe und Rimmer sich hörbar Mühe, ein zudeckendes Klangvolumen zu vermeiden, wobei sie auch hier ihr oftmals kraftvolles Spiel beibehalten. Allerdings nutzen sie geschickt die weniger kontrapunktischen Passagen, um dynamische wie auch artikulatorische Abwechslung einzubringen, wodurch dieses Finale, fernab jeglicher polyphonen Etüde, zu einem lebendigen Kehraus wird.

Ähnlich souverän gestaltet das Duo die zweite Sonate: das eröffnende Allegro vivace klingt in den Tremoli des Klaviers vital, Schwabe verzichtet in den Cellosynkopen zu Satzbeginn auf pathetische Gesten, behält aber seinen ausdrucksstarken Ton bei. Da dieser Kopfsatz, im Vergleich zum Vorgängersonate, viel mehr auf Motivkombinationen setzt, macht ihn das in seiner Struktur auch zerklüfteter. Schwabe und Rimmer verstehen es, einen erlebbaren Gesamtzusammenhang herzustellen, nicht ohne die verschiedenen Facetten und Klangfarben des Satzes ausgiebig auszuloten. Im Adagio affettuoso schreiten die Pizzicati des Cellos gemessen, dabei weder zu langsam noch zu forciert voran, was der melancholischen Stimmung sowie der Formbalance sehr zugute kommt. Obgleich der folgende Satz ein Allegro passionato ist, heben die Musiker weniger das Leidenschaftliche als das Geschwinde hervor. Schwabe reißt gar einzelne Töne seiner Stimme nur noch scharf an und verleiht diesem Scherzo somit einen zusätzlich makabren Charakter. Die Cellomelodie des Trios wird zwar kantabel hervorgehoben, das Tempo jedoch drosseln Schwabe und Rimmer kaum. Und: niemals klingt es irgendwo überhetzt. Die wohl größte Herausforderung dieser Sonate ist das abschließende Allegro molto: Die absichtliche Belanglosigkeit des F-Dur-Themas fordert viele Kammermusiker insofern, diesem eine tiefere Bedeutung abzugewinnen. Nun nehmen Schwabe und Rimmer die Satzbezeichnung ziemlich wörtlich, sprich, auch hier wird der Kehrauscharakter nachdrücklich betont. Das Nebenthema in a-Moll hat auch etwas Ironisches (wie vielerorts bei Schostakowitsch). Auch hier setzen die beiden Musiker die Kontraste klug ein, indem sie z. B. die erste Episode dieses Rondos im Tempo drosseln, um mehr Tiefe hineinzubringen. Schlussendlich dominiert jedoch das Motorische des Satzes (zumal aufgrund der omnipräsenten Klaviertriolen), ohne jedoch mechanisch zu wirken. So setzt auch dieser Schlusssatz ein Markenzeichen für zwei junge Musiker, die die Cellosonaten durch ihr lebhaftes und bewusstes Musizieren in angemessener Gestalt und Individualität entstehen lassen und diese CD zu einem sehr empfehlenswerten Ereignis innerhalb der reichen Diskographie machen. 

[Peter Fröhlich, Januar 2016]

Ungesucht sich versenkende Gelassenheit

Wiesensee Süllberg 2015-12

Diesen Namen muss man sich merken: Der 1993 in Würzburg geborene, in München lebende Pianist Amadeus Wiesensee begeisterte das Publikum einer Weihnachts-Matinée in der Kulinarik-Hochburg Süllberg in Hamburg-Blankenese mit einem so vielseitigen wie anspruchsvollen Recitalprogramm. Ich hatte schon mehrfach zuvor Kollegen von ihm schwärmen gehört: Den musst du hören. Der wird seinen Weg machen. Eine ganz und gar außergewöhnliche Begabung. – Ich kann dem nach diesem Auftritt nur zustimmen. Anscheinend handelt es sich übrigens bei Amadeus Wiesensee mindestens um eine Doppelbegabung: Derzeit Student in der Klasse von Antti Siirala an der Münchner Musikhochschule, kann Wiesensee auch bereits ein abgeschlossenes Philosophiestudium vorweisen und wurde mit dem prestigeträchtigen ‚Amalia-Preis für neues Denken’ ausgezeichnet. Sein Spiel zeigt sich geprägt durch Reflexion, Diskretion, Balance, Wohlklang und Liebe fürs Detail, und nie hat man den Eindruck, dass ihm zwischendurch einmal gedankenlos exekutierte Passagen oder gar Anflüge von Selbstdarstellung unterlaufen würden.
Wiesensee begann sein Recital, für welches ihm ein nuancenreicher, wohlintonierter Bechstein-Flügel der besseren Sorte zur Verfügung stand, mit Johann Sebastian Bachs Englischer Suite in e-moll. Schon hier fiel sofort sein Augenmerk für Durchsichtigkeit, klare Hervorhebung der Hauptstimmen, melodische Kontinuität und über alledem eine wohltuende Balance der Kräfte auf, ein durchgehendes Bedürfnis nach stimmiger Proportionierung und eine geschmacksichere Sorgfalt im Stilistischen. So gespielt, entsteht die oft gestellte Frage, ob man Bach auf einem modernen Flügel spielen solle, erst gar nicht. Man findet bei ihm keine Gould’schen Extravaganzen, bei aller gefassten Innigkeit auch keine romantisierende Sentimentalität oder neoklassizistische Biederkeit, und fast überall ist der durchgehende, natürliche Fluss der Musik gewährleistet.
Es folgte Beethovens Es-Dur-Sonate Opus 27 Nr. 1, das Geschwisterwerk der sogenannten Mondschein-Sonate. Auch hier herrscht Ausgewogenheit allerorten, klare Orientierung innerhalb der verschränkten Gesamtarchitektur, bewusst abgewogener Wohlklang, und eine alles durchdringende Redlichkeit der Auffassung, der nichts so fremd ist wie der törichte Schein der Prätention.
Amadeus Wiesensee ist kein typischer Virtuose, sondern vor allem ein Musiker, der alles zu erfassen und umzusetzen sucht und darin einen wunderbar zauberhaften, poetischen Zugang vermittelt. Bei Beethoven darf das Drama noch vehementer, bei aller bereits vorhandenen Leidenschaftlichkeit noch entschiedener in den Konflikt getrieben werden. Doch schon hier, wie auch später bei Brahms und vor allem natürlich Skriabin, erweist er sich in stürmischeren Momenten und resolut vorwärtsdrängenden Passagen auch als trefflicher Tastentiger mit kraftvoller Pranke, die allerdings fast immer sehr dosiert und kultiviert zum Einsatz kommt.
Von Skriabin kombinierte Wiesensee die Neunte Sonate, die sogenannte ‚Schwarze Messe’, mit dem Poem ‚Vers la flamme’, also zwei himmlische Höllentrips. Erstaunlich, wie lange er vermochte, die Dynamik wie fast schon illusorisch vorgeschrieben auf niedriger Flamme zu halten, bevor die Entfesselung des Geschehens so zugespitzt war, dass er alle Zurückhaltung aufgab. Hier liegt unendliches Verfeinerungspotential, und es ist Wiesensee zuzutrauen, dass er uns künftig mit einer feinnervigen Sensibilität beglückt, wie sie allenfalls Sofronitzky in dieser Musik zu übermitteln vermochte – und außerdem mit einem Bewusstsein der zugrundeliegenden Struktur, das sich in dieser Musik fast nie dem Hörer mitteilt.
Den Schlussteil bildeten die 1892 komponierten sieben Fantasien op. 116 von Johannes Brahms. Die meisten Pianisten, seien sie noch so arriviert, sind musikalisch in diesen Stücken hoffnungslos verloren und ergehen sich in willkürlichen Manierismen, Aufwallungen und Verdämmerungen jenseits aller metrischen Fassbarkeit. Wiesensee geht einen anderen Weg – den der Klarheit, Aufrichtigkeit, Natürlichkeit und weitgehenden Verinnerlichung. Auch wenn vieles noch charakteristischer, noch klarer erstehen, das Korrelieren der einzelnen Phrasen zu übergeordneten Bögen noch vertieft werden kann – er ließ hier, wo die Beherrschung des Pianistischen alleine so offensichtlich nicht ausreicht, alle seine jungen Kollegen weit hinter sich – jedenfalls alle die, die ich in den letzten Jahren gehört habe.
Als Zugaben waren der November aus Tschaikowskys ‚Jahreszeiten’ und ein Arrangement von Bachs Choralvorspiel ‚Nun komm der Heiden Heiland’ zu hören – letzteres wahrhaft ergreifend in der ungesucht sich versenkenden Gelassenheit und puren Schönheit der Darbietung.
Amadeus Wiesensee hat alle Anlagen, inklusive einer gerade für sein Alter erstaunlichen und weit überdurchschnittlichen Reife, um sich zu einem der im positivsten Sinne prägenden Musiker seiner Generation zu entwickeln. Bereits jetzt vermag er, auf durchaus unspektakulär fesselnde Weise ein Publikum einen ganzen Abend lang in Bann zu halten, zu berühren und auf eine poesiedurchtränkte Reise mitzunehmen.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley; Dezember 2015]