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Himmelfahrts-Konzert „Wilde Gungl“

Himmelfahrts-Konzert der „Wilden Gungl“ – 25. Mai 2017 im Prinzregententheater unter Leitung von Michele Carulli

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Von Johann Sebastian Bach bis Richard Wagner, welch ein Bogen! Und diesen musikalischen Bogen spannte das Orchester ”Wilde Gungl” unter seinem Dirigenten Michele Carulli am Vatertag im Münchner Prinzregenten-Theater in der Matinée um 11 Uhr.

Melodienzauber! hieß das Motto des Konzerts und dem entsprach das Programm, fast alle Melodien waren sogenannte ”Reißer”. Aber diese im Augenblick des Entstehens zu erleben, ist eben doch jedes Mal etwas ganz Anderes als sie zu Hause auf CD, im Radio oder bei einer Übertragung im Fernsehen zu hören. Lebendige Musik, „live“ ist durch nichts zu ersetzen, das wurde mir wieder einmal mit aller Deutlichkeit und Eindringlichkeit vor Augen und Ohren gebracht.

Solch einen Strauß aus vielen verschiedenen Melodien aus mehreren Jahrhunderten zu einem Programm zu verbinden, bedarf nicht zuletzt einer guten und ansprechenden Moderation. Sie ist und war bei Arnim Rosenbach – wie schon öfter – in allerbesten, charmanten Händen, auch dank seiner ebenso ansprechenden Stimme wie Art der Programmführung.

Von Bachs „Air“ aus der Orchestersuite BWV 1038 über Mozarts Klavierkonzert-Thema des zweiten Satzes  KV 467 , das durch den Film „Elvira Madigan“ weltbekannt wurde, über Verdi, Mascagni, Smetana hin zu Puccini, Mahler, Morricone, Böttcher, Tschaikowsky bis hin zu den beiden Zugaben von Nino Rota und der Ouvertüre zu „Rienzi“ von Wagner zog sich der Melodien-Zauber.

Die Konzerte der „Wilden Gungl“ verfolge ich nun schon seit ein paar Jahren, aber auch diesmal fiel mir besonders auf, dass die Gruppe der Streicher durch Michele Carulli noch homogener geworden ist, noch sensibler spielt, was man bei einigen Stücken, in denen die Streicher die Hauptrolle spielen, besonders hören konnte. Bei Mahlers „Adagietto“ aus seiner 5. Symphonie fiel das natürlich speziell auf. Aber auch die „Nichtstreicher“ – von denen mir besonders die Harfenistin und die Holzbläser gefielen – geben dem Orchesterklang die Farbigkeit, die diese Musik überhaupt so zum Klingen und Blühen bringt. Und das Publikum, jung und vor allem natürlich die älteren Semester, die der „Wilden Gungl“ – ihrer „Wilden Gungl“ –  schon seit Jahren die Treue halten,  war begeistert und brachte das entsprechend zum Ausdruck.

Dass Michele Carulli ein Dirigent mit Leib und Seele unter Einsatz voller Energie ist, der das Orchester befeuert und die Musik sich in melodische Höhenflüge aufschwingen lässt, ist bei jedem Konzert begeisternd zu erleben. Auch der Beifall, den er wie selbstverständlich den entsprechenden Solisten-Kollegen weitergibt, gehört dazu. Und nicht zuletzt seine eigene Moderation, mit der er die beiden Zugaben ansagt und das Publikum nach gewaltigem Beifall entlässt.

Ein Stück möchte ich allerdings gesondert erwähnen, nicht nur, weil es mir unbekannt war, sondern weil es als „Jugendstück“ von Giacomo Puccini schon alles erkennen und hören lässt, was uns später in seinen Opern so mitnimmt und beglückt. Das „Preludio sinfonico“ von 1882 – aus seiner Zeit am Mailänder Konservatorium – ist eine wunderbare Überraschung in diesem ambitionierten und doch so unterhaltenden Programm.

Ich freue mich schon auf das Sommerkonzert im Brunnenhof und auf das Wiederhören der „Wilden Gungl“.

Ceterum censeo: Auch wenn es Perlen vor die Säue gleich zu sein scheint, ich werde nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die Münchner Zeitungskritik, das sogenannte Feuilleton, gut daran täte, aufzuwachen und dieses Orchester – das schließlich schon seit 150 Jahren existiert – und seine wunderbaren Programme endlich zur Kenntnis zu nehmen. Ganz einfach.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Martin Luther und die Musik

Musik von  Wernern Fabricius (1633-79), Martin Luther (1483-1546), Hans Neusidler (ca. 1508-63), Thomas Stoltzer (1480-1526), Johann Walter (1496-1570), Heinrich Schütz (1585-1672), Johann Eccard (1553-1611), Michael Praetorius (1571-1621), Johann Rosenmüller (1617-84), Lukas Osiander (1534-1604), Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Monika Mauch, Ina Siedlaczek, Franz Vitzthum, Georg Poplutz, Nils Giebelhausen, Markus Flaig, Jens Hamann

Bach Chor Siegen  –  Johann Rosenmüller-Ensemble
Ulrich Stötzel

CPO 555 089 -2; EAN: 7 61203 50982 9

Rechtzeitig zum „Luther-Jahr“ erscheint diese CD, und schon auf den ersten Blick wird die unerhört spannende Bandbreite erlebbar. Von Luther selbst bis zu Bach, der sich ja in fast all seinen Kantaten sehr stark auf Luther stützt und beruft. Und wer hier etwa frömmelndes Protestantentum erwartet, wird sofort eines Besseren belehrt bzw. „be-schallt“. Nicht mit Pauken und Trompeten, aber mit Chor und Instrumenten kommt die Musik daher, so gar nicht akademisch und auch nicht historisch-hysterisch, nein, und „Jauchzet, Ihr Himmel!“ so heißt gleich das erste Stück.

Alles in allem zeigt diese CD, wie Musik zum Lutherjahr klingen kann und soll. Von Luther (1483-1546) und seinen Zeitgenossen Thomas Stoltzer (1480-1526) und  Johann Walter (1496-1570) über  Hans Neusidler (1508- 1563), Heinrich Schütz (1496-1570), Johann Eccard (1553-1611) und Michael Praetorius 1571-1621) bis zu Lukas Osiander (1534-1604), Johann Rosenmüller (1617-1684) – der auch dem Ensemble seinen Namen gibt –  und zuletzt Johann Sebastian Bach (1685-1750) spannt sich ein weiter Bogen. Sie alle haben Luther als Ahnvater und Ideengeber. So verschiedenartig die einzelnen Stücke auch sind in Instrumentation und Gesangs- bzw. Chor-Stil, beziehen sie sich doch alle eindeutig auf den Begründer des Protestantismus. Dieser selbst hat ja auch als Musiker die Kraft der Musik sehr hoch eingeschätzt als Trägerin der Glaubensinhalte und im Gottesdienst.

Die Ausführenden haben Spaß und Lust am Musizieren, das hört man an allen Stellen, die Sängerinnen und Sänger sind textverständlich, soweit das bei derlei polyphonen Kompositionen möglich ist.

Zum Lutherjahr 2017 also auch musikalisch eine gelungene Einspielung, die so manche andere CD – wie z. B. eine ebenfalls kürzlich bei cpo erschienene mit Musik von Praetorius – um Längen hinter sich lässt

PS. Das sehr ausführliche Booklet besticht mit ausgezeichneten Informationen und den Texten der einzelnen Stücke, was ein zusätzliches Verdienst dieser CD ist.

[Ulrich Hermann April, 2017]

Lebendig wandelnde Wesen der Musik

Im Rahmen der Meisterkonzerte des Theaters in Kempten (TiK) spielen die Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou-Larsen am 18. März 2017 zwei Kammersymphonien von Dmitri Schostakowitsch – op. 118a nach dem 10. und op. 110a nach dem 8. Streichquartett jeweils in der Bearbeitung durch Rudolf Barschai – sowie zwei der Cembalokonzerte von Johann Sebastian Bach, d-Moll BWV 1052 und A-Dur BWV 1055. Solistin am modernen Konzertflügel ist die österreichisch-russische Pianistin Lisa Smirnova.

Nur von wenigen Komponisten ist zu sagen, dass kein einziger Ton zu viel und keiner zu wenig ist, dass absolut alles am rechten Platz steht. Zu diesen gehört Johann Sebastian Bach, den selbst in einem unüberschaubar gigantischem Œuvre nie die Kreativität verließ. Zwei seiner insgesamt acht Cembalokonzerte sind am heutigen Abend mit Lisa Smirnova am großen Konzertflügel von Steinway & Sons zu hören, dasjenige in A-Dur BWV 1055 und das wohl bekannteste in d-Moll BWV 1052. Die Österreicherin russischer Herkunft besticht nach anfänglich etwas romantischen Ansätzen im Kopfsatz des A-Dur-Konzerts mit erstaunlicher Feingliedrigkeit der Stimmführung. Sie hört sich exakt auf die Streicher ein und reflektiert deren Ton auf dem Tasteninstrument, verschmilzt mit ihnen zu einer untrennbaren Einheit. Dabei gelingt ihr eine natürliche und organische Phrasierung, die durch ihren perlenden Anschlag unterstützt wird. Abgesehen vom Kopfsatz des d-Moll-Konzerts kommt auch die ganze Vielfalt der Unterstimmen zum Tragen und ergibt ein angenehmes Klangvolumen. Lisa Smirnova kennt ihren Bach inwendig wie nur wenige und spielt mit einer ekstatischen Hingabe, und ihre Mitspieler, angeführt von Skou Larsen, verschmelzen mit ihr zu einer Ausdruckseinheit von unwiderstehlicher Glut und Ausdrucksdichte.

Dmitri Schostakowitsch hatte ein gewaltiges Ziel vor Augen, welches er in seiner Lebenszeit nicht realisieren konnte: Vierundzwanzig Symphonien und ebenso viele Streichquartette zu verfassen, die wie die Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertes Klavier in allen vierundzwanzig Tonarten stehen. Beiden Gattungen schenkte er letztlich fünfzehn Werke. Ein Intimus Schostakowitschs, der Weltklassebratschist und legendäre Dirigent des Moskauer Kammerorchesters Rudolf Barschai, bearbeitete vier der Quartette als Kammersymphonien für Streichorchester (Nr. 3, 4, 8, 10), fügte damit auch jeweils eine Kontrabassstimme hinzu. Bei der As-Dur-Kammersymphonie op. 118a führt Lavard Skou Larsen den Dirigierstab, bei op. 110a und bei den Bach-Konzerten sitzt er am Konzertmeisterpult. In beiden Positionen hält er seine Salzburg Chamber Soloists mehr als vortrefflich zusammen und schafft eine einheitlich pulsierende Ganzheit. Ausnahmslos spielen die Musiker auf technisch wie musikalisch allerhöchstem Niveau, selbst in den schwierigsten Passagen behalten sie die Souveränität und fokussieren sich vollkommen auf ihre musikalisch stimmige und feurig innige Darbietung – der Name „Soloists“ ist Programm. Die Einzelstimmen wie ihr Zusammenwirken sind zutiefst empfunden, von der fragilen Solo-Kantilene bis zum brodelnden Lavastrom im Tutti. Die Kammersymphonien beginnen zu atmen und sich wie lebendige Wesen kontinuierlich zu wandeln, die Details in der Momentaufnahme und das Gesamte im Fluss stets parallel im Blick in der hinreißenden Einstudierung Lavard Skou Larsens, der mit seinen phänomenalen Mitstreitern einmal mehr zeigt, was höchste Streichorchesterkultur heute sein kann.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Erleuchtender ÜberBach

ÜberBach – von Arash Safaian

Neue Meister 0300 825 NM (Edel Classics); EAN: 885470008257

Auf diese CD haben wir lange warten müssen… seit in den 1960ern Jacques Loussier uns völlig neue Möglichkeiten der Bachschen Musik eröffnete.

Erst jetzt erleben wir durch den Münchner Komponisten Arash Safaian einen wirklich zeitgenössisch gestylten, zeitgemäßen Johann Sebastian Bach. Er passt hervorragend zum Berliner Label „Neue Meister“, das es sich ja zur Aufgabe gemacht hat, grenzenlose neukomponierte Musik der Welt zu schenken. Eine von diesen bisher acht CDs ist „Überbach“.

Ohne historischen oder hysterischen Ballast, ohne „von des Gedankens Blässe angekränkelt zu sein“ – um mit Hamlet zu sprechen –, wird hier endlich die volle Genialität der Musik des im Iran geborenen, aber in Bayreuth groß gewordenen Malers und Komponisten Safaian erlebbar. Er macht sich die Bach‘sche Musik auf seine ganz eigene, unschuldige – wie er im Programmheft schreibt – Art und Weise zu eigen. Seine Mitstreiter sind der Pianist Sebastian Knauer, der Vibraphonist Pascal Schumacher (er selbst am Synthesizer) und das Züricher Kammerorchester. Sie weisen endlich einmal ohne eine beengende Zurückhaltung auf all ihre Verdienste, Meriten oder Auftritte hin. Man weiß also als Hörer dieser CD die Tatsache zu schätzen, dass hier endlich einmal wirkliche Könner am Werk sind und keine Dilettanten.

Und so erleben wir einen zeitgemäßen ÜBERBACH, der endlich das erfüllt, was die Musik des Altmeisters seit Jahrhunderten vergeblich versprach: Die volle Erfüllung seiner Kunst, die Arash Safaian und seine höchst emsigen Mitmusiker endlich endlich hörbar machen. Das ist so allgewaltig und überzeitgemäß, dass es auch keine Spur einer erfühlenden Phrasierung braucht, sondern nur den klaren, knackig hervorgehobenen Beat, womit der Pianist voll in seinem Element ist.

Diese CD ist eine wahre „Erleuchtung“ und wird die Entwicklung der modernen Musik in gigantischer Weise neu ordnen und beeinflussen. Und wir dürfen voll Stolz sagen, dass wir dabei gewesen sind, wie der alte Goethe, als er die Schlacht um Mainz miterleben durfte.

[Ulrich Hermann, Februar 2017]

Karl Richter – die Legende lebt weiter

Profil Edition Günter Haenssler 31 CDs PH 16010; EAN: 881488160109

Karl Richter spielt und dirigiert
Schütz: Musikalische Exequien; A. Scarlatti: Su le sponde del Tebro (Stader); J. S. Bach: Brandenburgische Konzerte Nr. 1-6, Orchestersuiten Nr. 1-4, Musikalisches Opfer, 4 Cembalokonzerte, Orgelwerke BWV 565, 639, 582, 645, 542, 650, 606, 538 und 548, Sonaten für Flöte und Cembalo BWV 1030 und 1031, Goldberg-Variationen, Partiten Nr. 1-6 für Cembalo, Magnificat, Matthäus-Passion, Messe h-moll, Weihnachts-Oratorium, Kantaten BWV 78, 67, 108, 127, 79, 4, 45, 51, 8, 55 und 147; G. F. Händel: 12 Orgelkonzerte opp. 4 & 7, 5. Cembalo-Suite, Chaconne G-Dur für Cembalo, Arien aus Xerxes, Giulio Cesare und Samson (Haefliger), Arien aus Messias und Josua (Stader); C. P. E. Bach: Sonate g-moll für Flöte und Cembalo; Gluck: Reigen der seligen Geister aus Orfeo ed Euridice; Haydn: Symphonien Nr. 94 und 101, FlötenkonzertD-Dur, Arien aus ‚Die Schöpfung’ und ‚Die Jahreszeiten’ (Stader); Mozart: Requiem, Flötenkonzerte KV 313 & 314, Andante für Flöte und Orchester KV 315, Konzert für Flöte und Harfe KV 299; Mendelssohn: ‚Höre, Israel’ aus ‚Elias’ (Stader)

Der Plauener Karl Richter (1926-81), in Leipzig Schüler von Karl Straube und Günther Ramin und damit Erbe der großen deutschen Bach- und Orgeltradition, wurde bald nach seinem Amtsantritt an der Münchner Markus-Kirche zum vergötterten Bach-Exegeten in der bayerischen Landeshauptstadt. Sein Tod nach einem Herzanfall hinterließ eine trauernde Gemeinde, die lange brauchen sollte, um wieder in andere Bach-Gralshüter einigermaßen vertrauen zu können. Bis heute konnte sein Verlust in München nicht ersetzt werden. Richter was bekannt als kräftig dem Alkohol zusprechender Mann, der seine Gesundheit nicht schonte. Als Musiker schöpfte er stets aus dem Vollen, was ihm posthum den Ruf eintrug, Bach „hoffnungslos romantisiert“ zu haben. Diese üble Nachrede kann nach dem Hören der vorliegenden Anthologie nicht bestätigt werden. Vielmehr wird er hier als natürlicher, leidenschaftlicher Musikant erlebbar, dem spätere ‚Bachisten’ des süddeutschen Raums wie Helmuth Rilling nicht annähernd das Wasser reichen konnten. Richter ging vollkommen in den Partituren auf, auch wenn es übertrieben wäre, ihn als Meister der Verfeinerung der Phrasierung und Transparenz zu bezeichnen. Nein, er war vor allem ein Emphatiker, mit einer Neigung zum Pathetischen, das er mit einer sachlich musikantisch geschulten Ader im Zaum hielt. Als Instrumentalist erscheint er mir insbesondere an der Orgel bedeutend, sowohl in den Bach’schen Solowerken (man höre die c-moll-Passacaglia, die mit gravitätischem Momentum hypnotisiert) als in den Orgelkonzerten Händels, wo wir ihm die vielleicht bis heute glänzendste, würdevollste Gesamteinspielung verdanken. Da konnte er sich anscheinend noch bedingungsloser in die Musik versenken als wenn er am Pult stand. Die Brandenburgischen Konzerte und Orchester-Suiten Bachs sind durchwachsener in der Qualität und manchmal etwas schwerfällig, aber stets blutvoll und glutvoll. In den Cembalokonzerten Bachs muss ich gestehen, dass es einige wunderbare Aufnahmen mit modernem Klavier gibt (vor allem Murray Perahia), die diese rein klanglich authentischere Ausführungsweise nun doch sehr monochrom und gleichförmig erscheinen lassen.

Eine ganz besondere Freude ist es (und ich weise den Vorwurf prophylaktisch ab, dass es sich hier um meinen Landsmann handelt…), den großen Flötisten Aurèle Nicolet wieder zu hören, mit seiner fast etwas nervösen, jedenfalls alles andere als glatten Tongebung und von Leben durchpulsten Phrasierung und Artikulation: in den Flötenkonzerten und dem Doppelkonzert mit Harfe von Mozart, in Haydns D-Dur-Konzert und Glucks idylischem ‚Reigen der seligen Geister’, im Duo mit Richter in Sonaten von Bach Vater und Sohn, im Musikalischen Opfer – da lebt ein feinnerviger Geist wieder auf, wie ihn dieses doch so viel gespielte Instrument nicht wieder erleben durfte. Zeitlos bezaubernd!

Richter ist hier als Dirigent ein besonnener, diskreter, aber auch durchaus kraftvoller, weniger jedoch subtiler Begleiter. Auch seine Haydn-Symphonien sind absolut in Ordnung, echt und mit Wärme, ohne Extravaganzen, aber auch etwas füllig und schwer. Jedoch kennen wir aus jener Zeit viel schwerfälligere und innerlich unbeteiligtere Darbietungen, und „romantischere“ sowieso. Eine ganz besondere Freude ist es, die wunderbare oratorische Sopranistin Maria Stader zu hören, die damals die große Favoritin vieler Dirigenten war – sowohl mit geistlichen Arien von Alessando Scarlatti, Händel, Haydn und Mendelssohn als auch in Mozarts Requiem und der h-moll-Messe und Kantaten Bachs. Eine pure, sternenklare Stimme, unprätentiös und gradlinig schön. Viele weitere übliche Verdächtige jener Epoche tauchen auf: die Sänger Ernst Haefliger, Irmgard Seefried, Hertha Töpper, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, Gerd Lutze, Antonia Fahberg, Kieth Engen, Max Proebstl usw., die Geiger Otto Büchner, Friedrich Wührer und Fritz Sonnleitner, der Flötist Paul Meisen, der Obosit Edgar Shann, die Trompeter Adolf Scherbaum und Georg Donderer, die Harfenistin Rose Stein und die Organistin Hedwig Bilgram, und viele weitere. Auch der Heinrich-Schütz-Kreis, den Richter ab 1951 leitete, ist zu hören mit Schütz’ deutscher Totenmesse ‚Musikalische Exequien’, mit welcher Sergiu Celibidache viereinhalb Jahre nach Karl Richters Tod die ungeliebte Münchner Philharmonie am Gasteig höchst unorthodox einweihen sollte . damit nun kann man Richters Schütz gar nicht vergleichen, gegenüber solcher Transzendenz bleibt es so hausbacken, wie es auch sonst üblich ist. Bleiben die großen Bach-Werke: Messe h-moll, Matthäus-Passion, Weihnachts-Oratorium – und hier kann jeder eintauchen in die Welt, die vor einem halben Jahrhundert Gegenwart und für viele Konzertgänger das Höchste war: eine erhebende, erhabene Angelegenheit, nicht allzu differenziert, aber leidenschaftlich und zugleich mit einer gewissen Nüchternheit vorgetragen, immer intensiv und aus dem Vollen geschöpft.

Die einzige betrübliche Sache ist das Booklet der vorliegenden 31-CD-Box. Nicht nur, dass es spartanischer eigentlich nicht geht und ich mich frage, ob man wirklich so schwäbisch sparen musste – vor allem enttäuscht die Lieblosigkeit der Redaktion, die so viele grobe Fehler und Lücken entstehen ließ. So ist die Solistin in Mozarts Doppelkonzert nicht erwähnt (Rose Stein an der Harfe), und es fehlen die Solistennamen in den Brandenburgischen Konzerten (u. a. Meisen, Scherbaum, Wührer und Richter selbst) und sogar in der h-moll-Messe (Stader, Töpper, Fischer-Dieskau und Engen). Auch sind die Aufnahmen nicht datiert, dass man – wüsste man es nicht besser – fast glauben könnte, es handele sich um eine Raubpressung. Immerhin, der kundige Text über Richter (der einzige Text im Beiheft) von Lothar Brandt bessert den Gesamteindruck dann doch noch etwas auf. Mehr Respekt vor der Lebensleistung eines solchen Mannes hätte den Produzenten wohl angestanden. Der Hörer kann sich jedoch auch so erlaben, sollte aber meine Rezension lesen, um zu wissen, wer da singt und spielt, wo nichts vermerkt ist… Die Legende Karl Richter lebt all dessen ungeachtet weiter.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2017]

Historisch nicht hysterisch

Johann Sebastian Bach (1685-1750): Dialog-Kantaten
Ach Gott, wie manches Herzeleid BWV 58; Liebster Jesu, mein Verlangen BWV 32; Concerto für Oboe d’amore & Orchester BWV 1055R; Selig ist der Mann BWV 57

Hana Blaziková, Sopran; Dominik Wörner, Bass; Kirchheimer BachConsort; Alfredo Bernardini, Oboe, Oboe d’amore und Leitung

Cpo 555 068-2; EAN: 7 61203 50682 8

Bei dieser CD stimmt alles, das Tempo – gemessen und nie überhastet –, der Klang, die Phrasierung, die Stimmen, das Timbre, kurz: eine Entdeckung. Besonders das Konzert für Oboe d’amore und Orchester BWV 1055R ist ein echter Fund, aber auch die Dialog-Kantaten bereichern das Repertoire. Bei Bach –wie das kürzlich erschienene Buch von John Eliot Gardiner mit dem Titel „Bach – Musik für die Himmelsburg“ zeigt – gibt es immer wieder und immer noch Ungeheuerliches zu entdecken. Besonders das Verhältnis vom Text zur Musik ist in seiner ganzen Tiefe noch längst nicht ausgelotet. Aber auch bei den Instrumental-Stücken, wie das vorliegende Beispiel zeigt, ist noch Luft für Neues, Unerhörtes. Alfredo Bernardini leitet nicht nur gelassen und überzeugend begleitend die Kantaten, sondern ist auch als Solist auf der Oboe in allen Bereichen kompetent und vom Klang her – hin und wieder erinnert die Oboe d’amore fast an ein Cello – sehr gültig und beeindruckend.

Über Weiteres gibt das – wie bei CPO fast immer – umfassend informierende Booklet Auskunft. Mein Fazit ist also, dass diese CD ein überzeugender Treffer ist und das Bach’sche Œuvre auf CD erfreulich bereichert.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Bachs meisterliche Übungen

Sono Luminus, DSL-92209; EAN: 0 53479 22092 9

Die sechs Partiten Johann Sebastian Bachs BWV 825-830 erschienen in einer neuen Einspielung mit Jory Vinikour am Cembalo auf drei CDs bei Sono Luminus.

Sie stellen den ersten Teil der Clavierübungen von Johann Sebastian Bach dar, setzen gleichsam die Zyklen der Französischen und der Englischen Suiten als dritte Sechsergruppierung fort: Die Partiten BWV 825-830. Es handelt sich jeweils um große  sechs- bis achtsätzige Tanzsuiten für ein solistisches Tasteninstrument, denen im Gegensatz zu den Französischen Suiten allesamt ein Einleitungsstück vorangestellt ist. Die Sätze sind ausnahmslos in vollster Reife und Meisterschaft gesetzt, von gebündelter Kompaktheit, unausweichlicher Folgerichtigkeit und absoluter Klarheit, vollendeter Ausgeglichenheit und Perfektion. Die dabei an den Ausführenden gestellten Anforderungen sind enorm, übertreffen insgesamt sogar noch diejenigen der Englischen Suiten. Dabei ist Bach nicht einmal auf einen drei- oder mehrstimmigen Satz angewiesen, sogar die zweistimmigen Tänze gehen an die Grenzen des musikalisch Korrelierbaren.

Auf einem zweimanualigen Cembalo spielt Jory Vinikour den gesamten gut zweieinhalbstündigen Zyklus. Es gibt nur sehr wenige Gestaltungsmöglichkeiten auf diesem gezupften Saiteninstrument, und es fehlt dennoch nichts, den großformatigen Werken zu vollem Glanz zu verhelfen. Vinikour spielt klar und verständlich, lässt die Hörer durch seine Tempowahl die Tanzsätze gut mitverfolgen. Durch strahlende Schlichtheit und Ungekünsteltheit brilliert dieser Cembalist! Lediglich manche kurzen Tempoverzögerungen geraten etwas unorganisch und vorhersehbar gleichförmig, was den ansonsten kontinuierlichen Fluss kurzzeitig stocken lässt. Die spärlichen dynamischen Möglichkeiten nutzt Jory Vinikour bis an die Grenzen aus und kann so durchaus Kontraste schaffen und sogar innerhalb der Tänze Auflösungen ans Licht holen, die auf Cembali üblicherweise in Gleichförmigkeit untergehen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

 

Unwiderstehlicher Bach

Der in New York geborene Pianist Murray Perahia spielt für die Deutsche Grammophon auf zwei CDs alle sechs Französischen Suiten BWV 812-817 von Johann Sebastian Bach ein.

Alle Englischen Suiten, alle Partiten, die Goldberg-Variationen und die Clavier-Konzerte nahm Murray Perahia bereits auf, nun folgt ein weiterer Zyklus, der aufgrund der vergleichsweise geringeren technischen Anforderungen bedauernswerterweise nicht den Stellenwert der anderen genannten Werke hat – was sich mit dieser Aufnahme wie mit keiner zuvor ändern könnte! Frisch von Sony zur Deutschen Grammophon gewechselt, macht sich Perahia an die sechs Französischen Suiten BWV 812-817 von Johann Sebastian Bach.

Die Werke setzten sich deutlich ab von den Englischen Suiten, welche wahrscheinlich etwas früher entstanden sind: Nicht nur, dass die virtuosen Präludien wegfallen und dafür alle Suiten direkt mit der Allemande beginnen, auch sind die Sätze allgemein wesentlich filigraner, durchsichtiger und kürzer. Die Themen sind teils leichter zu fassen und die gesamte Form ist kompakter. Die fingertechnische Ausführung dieser Suiten mag vielleicht keine große Herausforderung darstellen, doch ganz anders die musikalische Realisierung der perlenhaften Sätze, die jeder für sich einen wahren Schatz von singulärer Energie und Reinheit darstellen. An den schlichtesten Miniaturen kann man sich Tage lang den Kopf über eine Bachs Intentionen nahe kommende Ausführung zerbrechen, sie erfordern den alles integrierenden Fokus auf das Wesentliche und eine absolute Klarheit des Geistes.

All das bringt Murray Perahia in seiner neuen Aufnahme mit. Perahia macht keine Show aus Bach, er zielt nicht auf die beeindruckende Oberfläche, macht kein Lehrbuch aus seiner Darstellung, er muss keinem was beweisen – er ist Musik. Selbstdarstellung und ein auf Effekt berechnetes Spiel würde man vergebens suchen, er stellt sich nur in den Dienst von Bach, worüber auch die ausführende Instanz des „Ich“ so klein wie möglich gehalten wird. Es sind die Innigkeit und eine beinahe meditative Stille, aus der sich die einzelnen Sätze heraus entwickeln. Murray Perahia macht nicht, er lässt geschehen, lässt das Material aus der Keimzelle heraus organisch sich formen, beachtet alle Details und setzt sie doch zu keiner Sekunde einer Übertreibung aus. Alle Stimmen erhalten ihren rechten Platz in dem dichten Geflecht, keine geht unter und keine dominiert unangemessen. Auch die Wiederholungen tragen zu einer flexibel-organischen Form bei, denn Perahia wiederholt weder starr noch willkürlich verändernd, sondern behält lebendig den energetischen Gesamtkontext im Auge und spielt – um die Sache einmal vom Höhepunkt der jeweiligen Spannungsentwicklung aus zu betrachten – im Bewusstsein um den vorangegangen Aufbau wie um den folgen werdenden Abbau. Interessant ist, wie Perahia in den Wiederholungen der Sarabanden subtil neue Verzierungen einfügt und den Tänzen so einen noch spanischeren, bodenständigeren Eindruck verleiht – wenngleich es gerade in den Moll-Suiten bisweilen etwas überladen wirken kann. In allen Sätzen herrscht eine freudige Leichtigkeit, eine durchsichtige Klarheit und ein innig erfühlter Impuls, der die Musik aus sich selbst heraus voranschreiten lässt. Die Tempi der lebhaften Tänze sind gerne recht rasch, doch eilen sie nicht davon und bleiben charakteristisch mitvollziehbar; Die ruhigeren Tanzsätze erhalten eine sehr innige, beinahe meditative Aura. Einmal in dieser umfassenden Atmosphäre angekommen, mag man sich als Hörer kaum wieder davon lösen, so verzaubert ein Satz nach dem anderen und lässt Zeit und Raum vergessen.

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Hommage an einen Jahrhundertmusiker

José Iturbi
Komplette Soloaufnahmen für Victor (RCA) und HMV (EMI) 1933-52
APR 3CD APR 7307 (EAN: 5024709173075)

Domenico Scarlatti: Sonaten h-moll Kk27 & C-Dur Kk159; Johann Sebastian Bach: Toccata BWV 906; Domenico Paradies: Toccata aus der 6. SonateA-Dur; Wolfgang Amadeus Mozart: Sonaten A-Dur KV 331 & F-Dur KV 332; Ludwig van Beethoven: Andante favori & ‚Für Elise’; Robert Schumann: Arabeske op. 18 & Romanze op. 28/2; Franz Liszt: Liebesträume Nr. 3 & Les jeux d’eau à la Villa d’Este; Frédéric Chopin: Polonaise A-Dur op. 53, Fantaisie-Impromptu op. 66, Valses op. 64/1&2, Mazurka op. 7/1, Nocturne op. 32/1, Préludes op. 28/9&10, Étude op. 10/12; Pjotr Tschaikowsky: Juni & November aus ‚Jahreszeiten’ op. 37b; Sergey Rachmaninoff: Prélude cis-moll op. 3/2; Ignace Paderewski: Menuett G-Dur op. 14/1; Filip Lazar: Marche funèbre aus der Sonate a-moll op. 15; Camille Saint-Saëns: Allegro appassionato op. 70; Claude Debussy: Clair de lune, Rêverie, Arabesques Nr. 1&2 (in 2 Versionen), Jardins sous la pluie; Isaac Albéniz: Sevilla op. 47/3, Córdoba op. 232/4, Malagueña op. 165/3; Enrique Granados: Das Mädchen und die Nachtigall aus ‚Goyescas’, Spanische Tänze Nr. 2 ‚Oriental’, Nr. 5 Andaluza & Nr. 10 ‚Danza triste; Eduardo López-Chavarri: Das alte maurische Schloss aus ‚Cuentos y fantasias’; Manuel de Falla: Tanz des Schreckens & Ritueller Feuertanz aus ‚El amor brujo’; Manuel Infante: Sevillañas; José Iturbi: Canción de cuna & Pequeña Danza Española; Morton Gould: Blues No. 3 aus ‚Interplay’ & Boogie Woogie Etude

José Iturbi (1896-1980) war bis in die 1970er Jahre jedermann, der sich ein wenig auskannte, ein Begriff, doch heute kennen ihn nur noch wenige, obwohl er nicht nur zu den bedeutendsten Musikern des 20. Jahrhunderts zählte, sondern seinerzeit bereits das war, was man einen ‚Star’ nennt – wie es das amerikanische Musikleben so mit sich brachte, wenn man dafür geeignet war. Und er war geradezu prädestiniert für Popularität: als so virtuoser wie lebenssprühender und natürlich musikalischer Pianist und Dirigent wie auch als ausgesprochen gut aussehender, charimatischer Bühnenzauberer. Der exzellent informierende Booklet-Essay von Jed Distler lässt uns wissen, dass Thelonious Monk 1961 vom Metronome-Magazin befragt, Iturbi als seinen Favoriten unter den klassischen Pianisten nannte. Und als es 1936 um die Nachfolge Leopold Stokowskis beim Philadelphia Orchestra gegangen war, wäre Iturbi die Wahl des Orchesters gewesen, falls Eugene Ormandy nicht zugesagt hätte. Dafür wurde er dann für ein Jahrzehnt Chefdirigent des Rochester Philharmonic und leitete in der Folge weitere Orchester. Außerdem machte er eine Musical-Karriere in Hollywood. Doch als Musiker ist Iturbi als unfehlbarer Pianist in Erinnerung geblieben. Die Zusammenstellung seiner sämtlichen kommerziellen Soloaufnahmen für RCA Victor und für His Master’s Voice (EMI) auf drei CDs in sensationellem neuen Remastering von Mark Obert-Thorn für APR ist denn auch ein Ereignis, auf welches viele wirkliche Kenner gewartet haben. Um es vorwegzunehmen: Iturbi bildet nicht nur die unbestrittene Spitze der spanische Klavierkunst, er war einer der ganz großen Musiker, und dies ist vielleicht aus ähnlichen Gründen wie bei Leopold Stokowski nie entsprechend allgemein gewürdigt worden, da er sich nicht scheute, das amerikanische Showbiz mitzumachen – allerdings, in beiden Fällen, nicht auf Kosten der musikalischen Qualität. Sein Spiel ist schlicht makellos, wie Klavierspiel überhaupt nur sein kann. Man höre sich nur die unglaublich klare, bestimmte, herrliche groovende Eleganz und niemals auch nur minimal verwischende Geschwindheit des perlenden Figurenwerks im Finale von Mozarts F-Dur-Sonate KV 332 an: es kann eigentlich kaum mozartischer sein in der Quicklebendigkeit, der auch im Intrikaten wunderbar sanglichen Phrasierung, der durchgehenden Gegenwärtigkeit, der Vielseitigkeit und tonlich flexiblen Brillanz der Artikulation, der – einem guten Komponisten und Dirigenten angemessenen – unbestechlichen Intuition für die Spannungsverhältnisse der kadenzierenden Kräfte, der niemals ins Mechanische abgleitenden und durch kein technisches Hindernis auch nur ein wenig ins Hektische, Strikte oder Zögernde sich verspannenden Geläufigkeit, und der immer körperlich spürbaren Liebe zur Musik, und eben nicht narzisstischen Selbstliebe des Elite-Interpreten. Auch hat man nie das Gefühl, hier ginge es um eine Demonstration von Professionalität oder den Beweis irgendeiner Ideologie. Er spielt alles mit chamäleonhafter Anpassungsgabe an die spezifischen Anforderungen des Stils und der formenden Dynamik, und gerade darin offenbart sich in glücklicher Weise seine lichte, stets lebensbejahende, gelöst animierende Individualität. Ganz besonders gefallen mir sowohl seine Scarlatti- als auch seine Mozart-Sonaten, auch wenn ich dort die Rubati für übertrieben halte. Sie sind jedenfalls nicht konventionell, sondern aus dem Zusammenhang empfunden, und das Resultat ist lebendiger, geschmackvoller und unsentimental innig berührender als fast alle stilistisch korrekteren Wiedergaben. Er kann es sich leisten, Akkorde (etwa im Menuett der A-Dur-Sonate) schwungvoll frei zu arpeggieren, ohne dass die den geringsten Ruch der Entstellung bedeutete. Das ist Freiheit im Dienst der Musik. Und sein Alla Turca, gemessen im Tempo und überwältigend in der janitscheranhaften Wucht, dabei niemals vergewaltigend und grob, steht wie ein Leuchtturm über allen originalitätsbeflissenen Versuchen unserer Gegenwart. Auch ist sein Spiel stets vielstimmig vom Bass aus gestaltet, mit orchestraler Farbigkeit und Differenzierung, was sowohl seinem Bach als auch Schumann, Chopin, Liszt oder Tschaikowsky in substanzfördernder Weise zugute kommt. Nein, der ist niemals ein Oberstimmenträumer, aber auch kein gelehrter Prinzipienreiter. Was für ein innerlich reicher, natürlich tiefgründiger Tschaikowsky! Und wie herrlich sein Beethoven – da ist zwar (leider) keine Sonate dabei, aber das großartig durchgestaltete Andante favori (eine echte Referenz) und die niemals den Klischees nahe Miniatur ‚Für Elise’ genügen vollauf, um ihn als großartigen Beethoven-Spieler auszuweisen. Besonders freute mich, den Trauermarsch aus der a-moll-Sonate des früh verstorbenen, in Frankreich heimisch gewordenen rumänischen Komponisten Filip Lazar (1894-1936) in einer so vortrefflichen Aufführung hören zu können! Chopin und Schumann sind auch vorbildhaft, und mit für einer Vielseitigkeit der Einfühlungskraft und Kontinuität des ernsthaften Entwickelns in kleinen Formen. Ja, kein Wunder auch, dass gerade Thelonious Monk ihn so bewunderte, war Iturbi doch stets ein wunderbar federnder, elastischer, mit natürlichem Groove gesegneter Rhythmiker. Bei Debussy bin ich mir bei aller unbestreitbaren Klasse nicht so sicher – hier bedürfte es vor allem einer besseren Aufnahmequalität als damals möglich – was ja auch für die legendären Casadesus-Einspielungen gilt. Hier haben Musiker wie insbesondere Michelangeli ein Maß gesetzt, das einfach unerreicht bleibt. Hingegen ist auch Rachmaninoffs großer Hit, sein cis-moll-Prélude unter Iturbis Händen von einer vollendet feinsinnig geformten Naturgewalt, die heute als zeitloses Vorbild gelten kann.

Natürlich ist er in der spanischen Musik ganz zuhause. Sein Albéniz ist von zauberhafter Grazie und unwiderstehlicher Verve, und mit jenem authentischen Stolz des Ausdrucks, der eine durch alle Dehnungen hindurch tragende rhythmische Kraft beinhaltet, die auch dann noch verhalten feuersprühend ist, wenn die Gegenkräfte der Morbidezza uns in einen Tagtraum-Abgrund ziehen wollen. Diese Musik lodert gefährlich, und auch hier bleibt die so klar durchdachte Darstellung stets unprätentiös spontan im Ausdruck. Großartig auch ganz besonders der 5. Spanische Tanz von Granados, die ‚Andaluza’, i ihren herrlich gezügelt wild züngelnden Bass-Vorschlägen. Manuel Infantes ausufernde ‚Sevillañas’ sind eine etwas schwächere Komposition, doch umso wilder, das Ekstatische klar manövrierende Tänze aus de Fallas ‚El amor brujo’. Iturbi selbst ist hier als Komponist nicht von allzu großem Tiefgang, aber schöne Unterhaltungsmusik ist es allemal, die er teilweise unter dem augenzwinkernden Pseudonym ‚J. Navarro’ veröffentlichen ließ. Und in Morton Goulds Blues- und Boogie Woogie-Charakterstücken ist das Idiom sozusagen todsicher getroffen. Für Pianisten, die wirklich ambitioniert sind, ist diese Box ohnehin ein Muss, ein Vitaminschub für die Seele eines jeden Musikers, die ich mit frischen Kräften ans Instrument zurückkehren lässt. Gewinnbringend ist sie für jedermann, und niemand sollte sich vom historischen Klangbild abschrecken lassen, denn erstens ist dieses grandios ins beste Licht gesetzt, und zweitens wiegt die musikalische und pianistische Substanz alle damit verbundenen Einbußen vielfach auf.

[Christoph Schlüren, September 2016]

Linienzauber

Nina Karmon

Violinmusik von Johann Sebastian Bach ist am Abend des 5. August 2016 in der Münchner Kirche Sankt Bonifaz zu hören, Nina Karmon spielt die Sonaten Nr. 1 g-Moll BWV 1001 und Nr. 2 a-Moll BWV 1003 sowie die Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006 für Violine solo.

Beinahe jeder der aufgestellten Sitzplätze im Saal der Kirche Sankt Bonifaz in der Münchner Karlstraße 34 ist besetzt, als die Violinisten Nina Karmon eintritt. Auf dem Programm stehen drei der sechs hochvirtuosen Werke Johann Sebastian Bachs für Violine solo, welche in jeder Hinsicht höchste Anforderungen an den Musiker stellen, sowohl in Bezug auf organische Form als auf die Fähigkeit des mehrstimmigen Spiels auf einem von seiner Natur einstimmig angelegten Instrument.

Sehr geerdet und mit menschlicher Wärme erfüllt klingen die tieferen Lagen der Violine des italienischen Geigenbauers Guarneri del Gesù in den Händen von Nina Karmon, gleichzeitig silbrig und glanzvoll in der Höhe. Nina Karmon spielt die Werke Bachs nicht in einer romantisierenden Geste, doch auch nicht innerlich unbeteiligt oder gleichförmig, wie sie gerade in der so genannten historischen Aufführungspraxis gerne – vom Cembaloklang inspiriert – fehlgedeutet werden. Viel eher hält sie eine angenehme Distanz, die nicht vor unkontrolliert überschwänglicher Emotion überläuft und dabei das Menschliche und das Ursprüngliche, Natürliche als höchste Instanz nimmt.

Das ausschlaggebende Charakteristikum im Spiel Nina Karmons ist die Entstehung der melodischen Linie, diese entfaltet sich in aller Sanglichkeit und Ungekünsteltheit in betörender Schönheit und unverbrauchter Frische. Sie vermag, einen großflächigen Bogen zu spannen und nicht eher mit der Spannung nachzugeben, als die Linie ihrer Auflösung entgegengeht – eine wahrhaft atmende Spielweise.

Auch bezüglich der mehrstimmigen, kontrapunktischen Elemente kann Karmon durchaus überzeugen, gerade in der Partita Nr. 3 gibt es magische Momente, die sich beinahe anhören, als agierten zwei Instrumente auf der Bühne. In den schnellen Finalsätzen neigt sie ein paar Mal zu leicht überstürztem Spiel, doch ist dies der einzige kleine Makel bei ansonsten enormer Souveränität und ausgesprochen stimmigen Tempi, die ein organisches Fließen der für die Epoche teils sehr ausgedehnten Formgebilde ermöglichen.

Die Zuhörer in Sankt Bonifaz haben das große Glück, einen wirklich ausgereiften, tonlich hinreißenden und selbstverständlich technisch über alle Zweifel erhabenen Bach zu hören, wie er auch gegen hohe Eintrittspreise in großen Sälen nicht besser zu hören ist.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4b:] Argentinien in München

Hugo Schuler spielt am 31. Januar 2016 im FMZ Bach, Kaminski, Schwarz-Schilling, Canepa und Ginastera

Stellen Sie sich vor: Sie sind ein wirklich überragender Pianist, berühmt im eigenen Land vor allem auch als Bach-Spieler – nämlich ihrem Geburtsland Argentinien, wie Daniel Barenboim oder Martha Argerich eben – und fliegen nach München, um hier ein Konzert zu geben. Und Sie geben dieses Konzert nicht etwa in der Philharmonie oder wenigstens im Herkulessaal, nein, sie spielen im sog. „Festsaal“ des FMZ = Freies Musikzentrum in der Ismaningerstrasse vor wieder einmal einer Handvoll Zuhörerinnen und Zuhörer. Noch dazu ist den meisten Münchnern erst gar nicht bekannt, wo das FMZ überhaupt liegt, jedenfalls ernte ich oft ein Kopfschütteln, wenn ich jemanden danach frage.
Am Fall des Freien Musikzentrums kann man sehen, wie schwer es ist, einen neuen Klassikstandort zu etablieren in einer Stadt, die dem etablierten Starkult frönt und sich selbst genug ist. Da brauchen auch so ausgezeichnete Reihen wie ‚Backstage on Stage’ Jahre, um größere Publikumskreise zu erreichen. Nun, wir werden sehen, ob die Münchner aufwachen…
Doch genug der Klage, da bin ich sicher nicht allein. Zum Konzert selber:

In den vergangenen Jahren hat Hugo Schuler die Goldberg-Variationen oft gespielt, diesmal im ersten Teil ohne die üblichen Wiederholungen, was eine Spieldauer von ca. 40 Minuten bedeutet und eben ermöglichte, eine Pause einzulegen und danach noch ein Kontrastprogram zu bieten. Bei Schulers erstem Auftreten hier in Deutschland 2014 schrieb ich im alten, leider online nicht mehr verfügbaren „The Listener“:
„Völlig uneitel, versunken, intensivst und gleichzeitig mit größter Gelassenheit entfaltete Schuler die einleitende (und abschließende) Aria mit den folgenden 30 „Veränderungen“, wie sie Bach für den Grafen Keyserlink und dessen Cembalisten Goldberg (einen Schüler Bachs und seines Sohnes Friedemann) komponierte.“
Dem ist auch nach der „verkürzten“ Fassung nichts hinzuzufügen, es sei denn, dass Hugo Schuler noch durchdringender, selbstverständlicher – im besten Sinn des Wortes – und durchaus auch noch horchender, singender und entfaltender diesen Kosmos vor uns ausbreitet, dessen Kühnheit – es gibt doch nur diese 88 Tasten, bei Bach noch nicht mal alle – mich jedes Mal aufs Neue überrascht und mitnimmt. Es kommt eben in diesem Universum alles vor vom Leisesten, Melodiösen bis zum Abstrakten, fast Freitonalen. Besonders in der 25. Variation, einem Adagio, glaube ich die Bach’sche Tonsprache auch beim wiederholten Hören nicht zu fassen, so unvermittelt kommen da – gegen jede Erwartung – die Melodietöne in der rechten Hand. Es ist immer wieder unfassbar, welche harmonischen und melodischen Kühnheiten der alte Johann Sebastian aus der Kompositionstasche zieht, auf welche „Irrwege“ er uns dann und wann lockt, die ja für ihn überhaupt keine sind oder waren.
Nach der Pause dann die Fortsetzung mit zwei Kompositionen von Heinrich Kaminski (1886-1946)  – Präludium und Fuge, erschienen 1935 – und seinem einstigen Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), die Klaviersonate von 1968.
In beiden Kompositionen wird das polyphone Erbe Bachs deutlich und erkennbar, neben einem strömenden musikalischen Fließen, wo natürlich die Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts im Ausdruck und im Charakter hinzukommen. Auch diese Musik ließ Hugo Schuler in all ihrer Größe und klanglichen Farbigkeit entstehen – es wird auch bald bei Aldilà Records Schulers Debüt-CD mit den Goldberg-Variationen und diesen Werken erscheinen.
Zum Abschluss zwei Stücke argentinischer Komponisten. Der erste Julio Canepa, ein Zeitgenosse, geboren 1940, schrieb drei Klavierstücke nach einem Bilderzyklus mit einem Boot, die sehr impulsiv und expressiv waren, besonders den unteren Teil der Klaviatur betonend.
Die „Danzas argentinas“ von 1937 – drei Tänze des großen argentinischen Komponisten Alberto Ginastera (1916-1983) – bildeten den temperamentvollen Abschluss und zeigten Hugo Schuler von seiner anderen Seite, die nicht nur dem Publikum, sondern auch ihm selber ersichtlichen Spaß machte. So bleibt nur zu hoffen, dass die Karriere des jungen argentinischen Pianisten ihn auch hier in München bald wieder einmal in einem repräsentativeren Rahmen dem großen Publikum erlebbar macht. Drücken wir ihm und uns die Daumen!

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4a:] Von Argentinien zu Bach und wieder zurück

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Der hierzulande noch unbekannte junge argentinische Klaviervirtuose Hugo Schuler gab am Sonntag, den 31. Januar 2016, um 20 Uhr, ein Klavierrecital im Freien Musikzentrum München und führte dabei Werke von Johann Sebastian Bach, Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schilling sowie Julio García Cánepa und Alberto Ginastera auf.

Vorab sei gesagt: wie schön, dass uns das Freie Musikzentrum die Begegnung mit so außergewöhnlichen Musikererscheinungen wie Hugo Schuler oder zuletzt der legendären Pianistin Beth Levin aus Brooklyn ermöglicht. Man hätte viel mehr Publikum verdient, doch ist es nicht leicht, in einer Musikmetropole wie München auf sich aufmerksam zu machen.

Die Verknüpfung der beiden Komponenten Bach und Argentinien unterstreicht eine Tradition, die bereits seit Astor Piazzolla besteht. Doch am vorgestrigen Abend erreichte sie in Münchens Freiem Musikzentrum einen künstlerischen Höhepunkt, was auch einem ausgefeilten Konzept der Veranstalter zu verdanken ist. So war es Herrn Christoph Schlüren in seiner Konzerteinführung ein Anliegen, das Kontrapunktische von Bach bis hin ins 20. Jahrhundert zu verfolgen und mit argentinischer Musik zu kontrastieren.

Die Verkörperung der Symbiose von elaboriertem Kontrapunkt und lateinamerikanischer Lebensfreude ist Hugo Schuler selbst, eine der hoffnungsvollsten Pianistenbegabungen Argentiniens, der in seiner Heimat bereits als ein Spezialist auf dem Gebiet der Kontrapunktik und insbesondere Bachs gilt. Bereits in der ersten Konzerthälfte konnte er dies in den allbekannten Goldberg-Variationen BWV 988 Johann Sebastian Bachs beweisen. Wenn man bedenkt, dass dieses vielgespielte Spätwerk des Komponisten im Originaltitel eine Clavier Übung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen darstellt, muss man gleich vorweg klären, dass Schuler sich an zwei Dinge nicht hielt: An die 2 Manuale, was aber nur Vertreter historisch informierter Aufführungspraxis gelegentlich berücksichtigen (und instrumental auf dem Konzertflügel unmöglich gewesen wäre), sowie an die Wiederholungsvorschriften, um die Länge des Recitals in menschlichen Grenzen zu halten. Durchweg glänzt der Argentinier durch absolute Texttreue und ein Gedächtnis, das jede Note dieses Konzerts auswendig wiederzugeben vermochte. Und durch eine beachtliche Musikalität: Die themengebende Aria nimmt er betont langsam, er lässt sich Zeit, jede Stimme, jede Artikulation und Verzierung ohne Routine auszuformulieren. Auch jeder noch so nebensächliche Akkord erhält bei ihm Bedeutung und wird Teil der logischen Entwicklung dieses Anfangs. Bei den meisten Variationen selbst nimmt Schuler den eigentlichen Zweck der Übung ernst und verbindet teils sehr rasche Tempi mit absoluter Tastensicherheit. Andererseits kann man nicht sagen, dass sein Spiel irgendwie auch nur ansatzweise trocken gelehrsam klänge, sondern schlicht belebt und jeweils mit Bedacht auf den Charakter jeder Variation. Wobei es natürlich einzelne Abschnitte gibt, die durch ihre starke motorische Ähnlichkeit in der Gestaltung charakteristische Gruppen bilden wie beispielsweise die Var. 9 bis 12. Immer wieder zeigt Schuler sehr originelle Ansätze, wie etwa in Var. 1, wo viele Pianisten das Tempo recht schnell nehmen, während er es gemäßigt nimmt und der Variation somit Raum für Entwicklung lässt. Seine eigentliche Stärke, die Kontrapunktik, wird ihm in manchen Stellen etwas zum Nachteil, so etwa in Var. 15 (die erste Variation in g-Moll). Da Schuler hier den kanonischen Charakter hervorhebt, geht der thematische Zusammenhalt im Gewebe leicht unter, trotz seiner artikulatorischen Kompetenzen. Allerdings sind dies Marginalien angesichts der Souveränität, mit der er den Zyklus beherrscht. Seine Anschlagstechnik, mal sehr direkt, mal sehr weich, doch meistens genau abgestimmt, fügt sich sehr harmonisch dieser anspruchsvollen Musik. Besonders intensiv gelingt ihm Var. 25, deren Lamentocharakter er dezent wiedergibt. Gleichzeitig betont Schuler die dissonanten Akkorde und gestaltet am Ende der Variation einen bewussten Höhepunkt auf dem Ton d3, was angemessen und auch logisch klingt und einen gewissen Mut erfordert, wenn man bedenkt, dass Bach und seine Zeitgenossen kaum dynamische Vorgaben machten.

Insgesamt handelte es sich um eine höchst erbauliche Darbietung der Goldberg-Variationen, welche an manchen Stellen noch etwas mehr Tiefe vertragen hätte, aber durch ihr durchdachtes und technisch ausgereiftes Spiel überzeugte. Die nach der Pause folgenden Komponisten Heinrich Kaminski (1886–1946) und Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985, Vater des Bundesministers a.D. und Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen in Bosnien-Herzegowina Christian Schwarz-Schilling), verbindet nicht nur ihr Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern auch die Tatsache, dass sie in der europäischen Kunstmusik des 20. Jahrhunderts ihre eigene, durchweg humane Musiksprache finden wollten, auch als Haltung gegen die Weltkriege und den Hass, der sie umgab. Speziell Kaminski, so Schlüren, schuf eine neue Art des Kontrapunkts und der Metrik, die beide sehr melismatisch durchbildet sind. Das klangliche Ergebnis in Kaminskis Präludium und Fuge (in der ersten Hälfte der 1930er Jahren komponiert) bietet neben emphatisch auf- und abrollenden Stimmenverläufen auch jede Menge Ornamentik, die Schuler sehr organisch zu entfesseln vermag. Obgleich die Fuge an sich auf klarem f-Moll fußt, enthält sie viele chromatische Verwicklungen und geht mit ihrem tonalen Geflecht und ihrer Stimmverknüpfung sehr frei um. Schuler gelingt es, diese Musik Gestalt werden zu lassen, ohne ihre im weiteren Verlauf durchaus auch zerklaffende Struktur zu kaschieren. Gleiches gilt für die 1968 entstandene Klaviersonate von Schwarz-Schilling, die Herr Schlüren als klanglich am Orchester und in ihrem Klangcharakter und der eigenwilligen Dissonanzbehandlung als an Sibelius in seinen kühnen Werken wie ab der 4. Symphonie erinnernd beschreibt. Nicht zu Unrecht, und das eröffnende Vivace zeigt sowohl Ansätze eines Sonatenhauptsatzes wie einer Fuge und basiert selbst im Seitensatz auf dem Hauptmotiv des Anfangs, welches Schuler, wie vorgeschrieben, martellato spielt. Sind die strukturelle Bündigkeit und Technik nach wie vor die Stärken des argentinischen Klaviertalents, so ist es die Fähigkeit zur verfeinerten Lautstärken-Verteilung, an der der junge Pianist noch feilen müsste, gerade in der Sonate mit ihren zahlreichen dynamischen Gegensätzen und Überraschungen. Im zweiten Satz, Larghetto cantabile, hat Schuler damit kein Problem. Dieses meditative Intermezzo erscheint in seiner phrygischen Thematik und der renaissanceartigen Stimmführung bewusst schlicht geformt. Dabei versteht Schuler es abermals, klanglichen Leerlauf zu vermeiden durch sein pointiertes Spiel (das er bewusst-unbewusst durch Mitsummen begleitete). Unter seinen Händen erfüllen sich die Anweisungen Schwarz-Schillings, der „keine Unterbrechung des Flusses“ und den „Eindruck eines Gesamt-Zeitmaßes“ fordert. Für symphonische Symmetrie sorgt der dritte Satz, auch ein Vivace, der die Motivik des ersten aufgreift, gleichwohl anders weiterentwickelt und auf knappem Raum allerlei Formelemente, auch die einer Passacaglia, hervorbringt. Überflüssig zu erwähnen, dass Schuler auch dieses stürmische Finale vollendet beherrschte.

Mit den letzten beiden Komponisten würdigte Hugo Schuler seine Heimat und bewies, dass er nicht nur komplex durchstrukturierte Musik beherrscht. Die Suite A Don Benito, die der argentinische Komponist Julio García Cánepa, derzeit Dekan im Departamento de Artes Musicales in Buenos Aires, komponierte, bezieht sich auf drei Gemälde des berühmten argentinischen Malers Benito Quinquela Martin (1890-1977): I. Barco en el Astillero (Das Schiff in der Werft), II. A pleno sol (In voller Sonne), III. Cemeterio de Barcos (Friedhof der Schiffe). Allein die Auswahl der Titel vermittelt einen abstrakten Eindruck, den Cánepa in seinem Werk deutlich und stimmungsvoll artikuliert. Das dritte Stück dominiert eine markante Basslinie, die aber immer verkürzter erklingt, bis das ganze Spiel in einen einzigen Cluster mündet. Diese eigenwillige Schöpfung gibt Schuler satztechnisch lupenrein wieder, zudem vermag er es, die morbide Stimmung der Suite angemessen entstehen zu lassen. Gegensätzlicher dazu könnte das letzte Werk des Abends, die drei Danzas argentinas Op. 2 (1937) von Alberto Ginastera, der heuer seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, nicht sein. Herr Schlüren bezeichnet dieses Werk gar als Stück im Stilo popolare. In gewisser Weise spannt Schuler mit dieser Wahl nun einen Bogen zu Bach, wie man schon dem ersten Tanz, dem Danza del viejo boyero (Tanz des alten Hirten) entnimmt. Dieser Tanz ist wesentlich von einer perpetuierenden Motorik geprägt, wie sie in vielen Toccaten Bachs, aber auch bei Sergej Prokofieff auftaucht. Die darauffolgende Danza de la moza donosa (Tanz des schönen Weibes) orientiert sich an den Rhythmen des Tango wie der Habanera und könnte leicht ins Triviale abgleiten, würde Schuler diesen Satz, der einige harmonischen Spannungen birgt, nicht mit solch unbestechlicher Konzentration vortragen und in seinen Nuancen geschmackssicher auskosten. Die abschließende Danza del gaucho matrero (Tanz des vogelfreien Gauchos) bestätigt final die Dreiersymmetrie: Ähnlich vital wie der erste Tanz, birgt dieser wilde Kehraus deutlich mehr verschachtelte Rhythmen und Harmonien, geht aber immer mehr in eine offensichtliche C-Dur-Apotheose über, die Hugo Schuler mit all seiner Fingerfertigkeit zelebriert, ohne je den geringsten Eindruck selbstverliebter Virtuosität zu machen.

Bei solch einem originellen und zugleich hintersinnigen Programm bleibt nur zu wünschen, dass Hugo Schuler, der kommende Bach-Exeget Argentiniens, auch weiterhin hier in Europa auf sich aufmerksam machen wird.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

Bach im Guckglas des 19. Jahrhunderts

SWR Music, 93.338, EAN: 4 010276 027997

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Infolge der im 19. Jahrhundert einsetzenden Bachpflege setzten sich viele Musiker auch produktiv mit dem barocken Meister auseinander, so Ignaz Moscheles in seinen Arrangements von Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier (WTK) mit einem concertierenden zweiten Klavier Op. 137b, Carl Reinecke in seinen vierhändigen Bach-Variationen Op. 24 oder Robert Schumann in seinen Sechs Fugen über den Namen BACH Op. 60. Diese Schöpfungen präsentiert das Duo d´Accord (Lucia Huang und Sebastian Euler) in der vorliegenden SWR-Produktion.

Dass Johann Sebastian Bach ab etwa 1828 vor allem seit Felix Mendelssohn-Bartholdys Leipziger Wiederaufführung der Matthäus-Passion eine bis heute andauernde Renaissance erfuhr, ist bekannt. Was jedoch die künstlerischen Ergebnisse der Beschäftigung mit Bach angeht, hat in vielen Fällen die heutige Hörerschaft noch nicht erreicht. Umso ehrenwerter ist das Experiment, welches die ARD-Preisträger Huang und Euler, als Duo seit 1999 bestehend, sich in der vorliegenden CD vorgenommen haben.

Gezielt wählten die beiden Künstler Moscheles, Reinecke und Schumann aus, die man in dem breiten Pool der Bachbearbeiter und –nachahmer als durchaus selbstkritische, gleichwohl entschlossene Verehrer des barocken Übervorbildes sehen kann. Der Booklettext, den Huang und Euler selbst beisteuern, zeichnet sich durch Facettentiefe und einen klaren strukturellen Faden aus: Von allgemeinen Anmerkungen zur einsetzenden Bachpflege und deren Eigenheiten führen sie über Ignaz Moscheles zu Carl Reinecke, stellen hier den Zusammenhang zu Schumann her, um schließlich ihre Bearbeitung von dessen Fugen Op. 60 für vierhändiges Klavier und ihre eigenen Absichten zu erklären. Kurzum, ein Text von Niveau, Eloquenz und Informationswert.

Besonders interessant ist im Booklet der Hinweis auf die Marotte jener Zeit, Transformationen Bach’scher Kompositionen bzw. Werke auf Bach’scher Basis mit theatralischen Effekten, überschäumender Dynamik und jeder Menge Rubato anzureichern. Bereits in den ersten beiden Tracks dieser CD ist erfahrbar, wie Moscheles diese Methoden in seinen Huldigungen an Bach anwandte. Prachtvoll klingt zu Beginn die Bearbeitung des 5. Präludiums D-Dur aus WTK II (BWV 874), welchem der Salieri-Schüler in seinem Op.137b (auch betitelt als Melodisch-kontrapunktische Studien) ein konzertantes Klavier mit gehobenen technischen Ansprüchen hinzufügt. Die Künstler betonen den Schwung dieses nachgeschaffenen Präludiums, hetzen jedoch nie, was ja auch die Tempobezeichnung Allegro non troppo nahelegt. Ihr Spiel zeichnet sich durch eher sachlichen Ton, einen manchmal sehr scharfen Anschlag, gerade bei vollen Akkorden, sowie eine durchkalkulierte Strategie der Dynamik aus. Es folgt eine weitere Bearbeitung Moscheles’, nämlich des 24. Präludiums in h-Moll aus WTK I (BWV 869), mit dem Untertitel Erste Bearbeitung im strengen Styl. Der Notentext zeichnet sich mehr durch Verhaltenheit als Strenge aus, gleichzeitig sorgt Moscheles für subtil gesteigerte Komplexität, die sich aus filigran miteinander verzahnten Rhythmen beider Klaviere ergibt. Hier erzeugt das Duo einen durchgehenden Fluss (Tempo Andante), lässt es sich aber nicht nehmen, deutliche Ritardandi gegen Ende auszukosten sowie die Schlussakkorde lange verklingen zu lassen.

Erstmals folgt eine Schumannsche Fuge aus Op. 60, nämlich die erste in B-Dur. Es handelt sich bei diesen Fugen, im Gegensatz zu Moscheles und Reinecke, um keine Bearbeitung, sondern um ein originales Werk, welches sich freilich stilistisch und motivisch hörbar am Leipziger Meister orientiert. Erklärtermaßen bemühten sich Euler und Huang darum, mit dem Original Schumanns für Orgel sehr behutsam umzugehen und es nur da zu verändern, wo es aus instrumentalen Gründen unumgänglich ist. Das Ergebnis ist ein einziges Accelerando und Crescendo in dieser ersten Fuge, von Behutsam-Dunkel bis hin zu Wuchtig-Scheppernd, im abschließenden B-Dur Akkord gar etwas detonierend, was wohl am Subkontra-B liegt.

Nach diesem Tripelmuster 2x Moscheles – 1x Schumann ist die ganze CD (bis auf eine Ausnahme!) aufgebaut, was vielschichtige dramaturgische Gründe hat, die der Hörer zwar nicht unbedingt kennen muss, deren Sinn sich jedoch innerhalb der Gruppierung intuitiv erschließt. Die Präludien sind in ihren Stimmungen und strukturellen Eigenschaften jeweils sehr ähnlich zueinander, um stets von einer Fuge Schumanns ergänzt zu werden. Die Ergebnisse sind zumeist unterhaltend und erfrischend (so etwa in der Bearbeitung des populären Präludiums Nr. 1 in C-Dur, WTK I, BWV 846), können aber auch zugleich sehr herausfordernd werden. Dies trifft zuweilen auf die komplexen Gebilde Schumanns zu, die der ausgefeilten Kontrapunktik eines Anton Bruckner in nichts nachstehen. Doch auch hier gibt es Beispiele, die für angenehme Kontraste sorgen, wie die dritte Fuge in g-Moll, die keinerlei äußerlichen Effekt präsentiert – und deren ruhigen Fluss das Duo d´Accord überzeugend rüberbringt (Bezeichnung: mit sanften Stimmen). Monotonie kommt keine auf, da Huang und Euler jede dieser Tripel-Gruppen auf eigene Weise gestalten. Allgemein spielen die beiden Künstler mit Sinn für Gleichmäßigkeit, Logik in der Formentwicklung, bisweilen einer Tendenz zum knalligen Anschlag sowie klanglicher Hintergründigkeit. Selbst in der letzten Fuge Schumanns in B-Dur, deren Massivität schon ins Extreme geht, merkt man das qualitative Zusammenspiel sowie das musikalische wie missionarische Engagement, mit dem die beiden vorgehen.

Nun ist Reinecke ganz am Ende nur mit einem Werk vertreten, nämlich mit den Variationen über eine Sarabande von Bach Op. 24 (aus der 1. Französischen Suite in d-Moll, BWV 812). Doch fällt sein Werk umso mehr ins Gewicht, da es sich von den teils besonders das Sinnliche beschwörenden Klangwelten seiner beiden Vorläufer distanziert und damit einen weiteren, umso differenzierteren Blickwinkel auf Bach offen legt. Gleichwohl finden sich in den acht Variationen Merkmale des 19. Jahrhunderts, wie eine teils auffällig ausgeklügelte Harmonik, kompakte Akkorde, eine anspruchsvolle Technik sowie entwickelnde Variationen. Obwohl es zu einer großangelegten Stretta kommt, bleibt Reinecke in seiner Orientierung konsequent und lässt seinen Zyklus so ruhig enden, wie er begonnen hat. Das Duo d´Accord betont auch hier in jeder Variation deren Eigenständigkeit und zeigt abermals seine Fähigkeit, Klangfarben und Stimmung intensiv zu exponieren. Damit entspricht auch dieses Werk dem Grundsatz, dem sich das Duo Euler/Huang verschrieben hat: Klangfreude am Alten durch das Neue zu erzeugen. So bietet diese CD einen lohnenswerten Blick auf eine womöglich immer noch belächelte und umstrittene, aber seinerzeit sehr innovative Praxis, die sich zu erkunden lohnt: Bach in eigener Weise zu huldigen, sei es durch Neubearbeitung oder Neukomposition.

[Peter Fröhlich, Januar 2016]

Ungesucht sich versenkende Gelassenheit

Wiesensee Süllberg 2015-12

Diesen Namen muss man sich merken: Der 1993 in Würzburg geborene, in München lebende Pianist Amadeus Wiesensee begeisterte das Publikum einer Weihnachts-Matinée in der Kulinarik-Hochburg Süllberg in Hamburg-Blankenese mit einem so vielseitigen wie anspruchsvollen Recitalprogramm. Ich hatte schon mehrfach zuvor Kollegen von ihm schwärmen gehört: Den musst du hören. Der wird seinen Weg machen. Eine ganz und gar außergewöhnliche Begabung. – Ich kann dem nach diesem Auftritt nur zustimmen. Anscheinend handelt es sich übrigens bei Amadeus Wiesensee mindestens um eine Doppelbegabung: Derzeit Student in der Klasse von Antti Siirala an der Münchner Musikhochschule, kann Wiesensee auch bereits ein abgeschlossenes Philosophiestudium vorweisen und wurde mit dem prestigeträchtigen ‚Amalia-Preis für neues Denken’ ausgezeichnet. Sein Spiel zeigt sich geprägt durch Reflexion, Diskretion, Balance, Wohlklang und Liebe fürs Detail, und nie hat man den Eindruck, dass ihm zwischendurch einmal gedankenlos exekutierte Passagen oder gar Anflüge von Selbstdarstellung unterlaufen würden.
Wiesensee begann sein Recital, für welches ihm ein nuancenreicher, wohlintonierter Bechstein-Flügel der besseren Sorte zur Verfügung stand, mit Johann Sebastian Bachs Englischer Suite in e-moll. Schon hier fiel sofort sein Augenmerk für Durchsichtigkeit, klare Hervorhebung der Hauptstimmen, melodische Kontinuität und über alledem eine wohltuende Balance der Kräfte auf, ein durchgehendes Bedürfnis nach stimmiger Proportionierung und eine geschmacksichere Sorgfalt im Stilistischen. So gespielt, entsteht die oft gestellte Frage, ob man Bach auf einem modernen Flügel spielen solle, erst gar nicht. Man findet bei ihm keine Gould’schen Extravaganzen, bei aller gefassten Innigkeit auch keine romantisierende Sentimentalität oder neoklassizistische Biederkeit, und fast überall ist der durchgehende, natürliche Fluss der Musik gewährleistet.
Es folgte Beethovens Es-Dur-Sonate Opus 27 Nr. 1, das Geschwisterwerk der sogenannten Mondschein-Sonate. Auch hier herrscht Ausgewogenheit allerorten, klare Orientierung innerhalb der verschränkten Gesamtarchitektur, bewusst abgewogener Wohlklang, und eine alles durchdringende Redlichkeit der Auffassung, der nichts so fremd ist wie der törichte Schein der Prätention.
Amadeus Wiesensee ist kein typischer Virtuose, sondern vor allem ein Musiker, der alles zu erfassen und umzusetzen sucht und darin einen wunderbar zauberhaften, poetischen Zugang vermittelt. Bei Beethoven darf das Drama noch vehementer, bei aller bereits vorhandenen Leidenschaftlichkeit noch entschiedener in den Konflikt getrieben werden. Doch schon hier, wie auch später bei Brahms und vor allem natürlich Skriabin, erweist er sich in stürmischeren Momenten und resolut vorwärtsdrängenden Passagen auch als trefflicher Tastentiger mit kraftvoller Pranke, die allerdings fast immer sehr dosiert und kultiviert zum Einsatz kommt.
Von Skriabin kombinierte Wiesensee die Neunte Sonate, die sogenannte ‚Schwarze Messe’, mit dem Poem ‚Vers la flamme’, also zwei himmlische Höllentrips. Erstaunlich, wie lange er vermochte, die Dynamik wie fast schon illusorisch vorgeschrieben auf niedriger Flamme zu halten, bevor die Entfesselung des Geschehens so zugespitzt war, dass er alle Zurückhaltung aufgab. Hier liegt unendliches Verfeinerungspotential, und es ist Wiesensee zuzutrauen, dass er uns künftig mit einer feinnervigen Sensibilität beglückt, wie sie allenfalls Sofronitzky in dieser Musik zu übermitteln vermochte – und außerdem mit einem Bewusstsein der zugrundeliegenden Struktur, das sich in dieser Musik fast nie dem Hörer mitteilt.
Den Schlussteil bildeten die 1892 komponierten sieben Fantasien op. 116 von Johannes Brahms. Die meisten Pianisten, seien sie noch so arriviert, sind musikalisch in diesen Stücken hoffnungslos verloren und ergehen sich in willkürlichen Manierismen, Aufwallungen und Verdämmerungen jenseits aller metrischen Fassbarkeit. Wiesensee geht einen anderen Weg – den der Klarheit, Aufrichtigkeit, Natürlichkeit und weitgehenden Verinnerlichung. Auch wenn vieles noch charakteristischer, noch klarer erstehen, das Korrelieren der einzelnen Phrasen zu übergeordneten Bögen noch vertieft werden kann – er ließ hier, wo die Beherrschung des Pianistischen alleine so offensichtlich nicht ausreicht, alle seine jungen Kollegen weit hinter sich – jedenfalls alle die, die ich in den letzten Jahren gehört habe.
Als Zugaben waren der November aus Tschaikowskys ‚Jahreszeiten’ und ein Arrangement von Bachs Choralvorspiel ‚Nun komm der Heiden Heiland’ zu hören – letzteres wahrhaft ergreifend in der ungesucht sich versenkenden Gelassenheit und puren Schönheit der Darbietung.
Amadeus Wiesensee hat alle Anlagen, inklusive einer gerade für sein Alter erstaunlichen und weit überdurchschnittlichen Reife, um sich zu einem der im positivsten Sinne prägenden Musiker seiner Generation zu entwickeln. Bereits jetzt vermag er, auf durchaus unspektakulär fesselnde Weise ein Publikum einen ganzen Abend lang in Bann zu halten, zu berühren und auf eine poesiedurchtränkte Reise mitzunehmen.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley; Dezember 2015]

Musikalische Transzendenz

Das TenHagen Quartett spielt Schwarz-Schilling, Beethoven, Bach und Lilburn

In der Marienkirche Büdingen überraschte am Freitagabend in einem Sonderkonzert das TenHagen Quartett aus Köln mit einem so ungewöhnlichen wie anspruchsvollen Programm als Streichquartett höchsten Karats.

Die Altstadt im hessischen Büdingen zählt zu den schönsten mittelalterlichen Kulturdenkmälern Deutschlands, und mit der gotischen Marienkirche beherbergt sie einen Konzertraum von erlesener Akustik und außergewöhnlich erhabener Schönheit. Natürlich ist so ein hoher Kirchenraum nicht ohne Tücken, wenn im schnellen Tempo manches Detail in tieferen Registern erst dann ans Ohr dringt, wenn bereits der nächste hohe Ton erklingt. Da überwiegend getragene Stücke vorgetragen wurden, waren jedoch die auratischen Vorteile der Akustik weit mehr zu genießen als manche kleine Undeutlichkeit durch Überlappen des Nachhalls stören konnte. Und die vier Musiker verstanden es, spontan damit umzugehen und extremste Durchsichtigkeit und Deutlichkeit walten zu lassen.
Ein solches Quartettspiel hört man heute eigentlich nirgends. Die Musik wird mit einer logischen Verständlichkeit erfasst, die an legendäre Vorbilder wie das Busch Quartett oder das Budapest Quartet denken lässt. Und dann ist da eine Innigkeit und organische Entfaltung des Tonsatzes, die niemals auch nur die Gefahr trockener Gelehrtheit entstehen lässt. Das TenHagen Quartett besteht aus vier Geschwistern, die in der Reihenfolge ihres Alters vor uns sitzen: Primaria Kathrin ten Hagen, die bereits als Solistin am Beginn einer vielversprechenden Karriere steht (sie hat eine exzellente Aufnahme des sehr herausfordernden Violinkonzerts von Anders Eliasson vorgelegt); Leonie ten Hagen als höchst engagierte, energische und zugleich vor allem im Lyrischen aufblühende zweite Geige; Borge ten Hagen als gemütsmäßiger Ruhepol der Formation, ein umsichtig, auf Balance des Gesamten bedachter Bratschist, der manchmal akustikbedingt ein wenig im Nachteil war; und der Cellist Malte ten Hagen, ein feines Beispiel an Ernsthaftigkeit, Akkuratesse und Tonschönheit bietend, und vor allem fast durchweg mit der seltenen Gabe ausgestattet, zwar deutlich vernehmbar seine Funktion wahrzunehmen, jedoch nicht aufgrund der größeren Klangmacht seines Instruments die anderen Stimmen zu verdecken – auch dann nicht, wenn es so richtig zu Sache geht!
Mochte man bei den drei Kontrapunkten (Nr. 1, 10 und der unvollendete letzte) und dem Schlusschoral aus Bachs Kunst der Fuge noch Wünsche offen haben bezüglich der durchgehenden bezwingenden Entwicklung der Gedanken im so unglaublich komplexen vielstimmigen Satz, so ist doch zu sagen, dass dies zum Schwersten gehört, was die abendländische Musik aufzubieten hat, und dass diese Aufführung qualitativ weit über dem agierte, was wir sonst auch von sehr prominenten Ensembles zu hören bekommen. Und wie der Abbruch des unvollendeten Kontrapunkts gestaltet wurde, ließ einem geradezu den Atem stocken: kein Ausblenden der Dynamik, sondern ein Abreißen inmitten einer soeben noch unaufhaltsam scheinenden Entwicklung, als nähme der Tod dem Komponisten den Stift aus der Hand. Wenn die Musiker weiter an dieser Musik arbeiten, könnte ihnen gelingen, diese Stücke in nicht allzu ferner Zeit exemplarisch auf Weltniveau vorzustellen, und ihr Beispiel würde Schule machen.
Es folgte die extrem düster klingende Fassung des Komponisten für Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schillings letztem, 1985 komponiertem Werk, der knappen, konzis konzentrierten Studie über B-A-C-H, ein geradezu beklemmendes Bekenntnis zu einer Tradition, das gegen die Epoche des Klangeffekts um seiner selbst willen gerichtet ist und sich darin eine alle Äußerlichkeit abweisende Welt geschaffen hat. Von Leonie, Borge und Malte ten Hagen wurde dieses kompromisslose kurze Stück, das keine technischen Ansprüche stellt und nur aus der Energie der Intervalle und ungeschönten Dissonanzen lebt, mit bohrend fokussierter Strenge vorgetragen, aber auch mit einer tiefgründigen Schönheit, die suggestiv fesselte.
Danach geschah etwas, das sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Das Adagio aus Beethovens zweitem Rassumovsky-Quartett op. 59 Nr. 2, in welchem sich auch Permutationen des B-A-C-H aufspüren lassen, gelang in einer Vollendung, wie ich es noch nie gehört habe. Die Zeit blieb stehen in einem breiten Tempo, das niemals auch nur den Anflug von Statik vermittelte, sondern mit einer verfeinerten, subtilst abschattierten und noblen sanglichen Emphase vorgetragen wurde, dass sich alle herrlichen Details zu einem unwiderstehlichen Ganzen fügten. Die Hörer folgten den Musikern in eine entrückte Welt, die eben nicht Flucht aus der Realität ist, sondern den Menschen an sein Innerstes führt. Es war ein Akt purer Transzendenz. Vielleicht, so meinten manche in der Pause, haben wir ja hier an einer Initiation teilgenommen, die uns das stilprägende Beethoven-Quartett einer wahrhaft vielversprechenden Zukunft entdecken ließ (noch haben die TenHagens keine offizielle Aufnahme gemacht, aber sie sind ja auch noch jung, und man kann nur staunen, welche Reife und selbstlose Hingabe an die Musik sie bereits jetzt auszeichnen, woran die Kurse beim legendären Altmeister Eberhard Feltz gewiss einigen Anteil haben).
Nach der Pause spielten Leonie und Borge ten Hagen zunächst die Canzonetta No. 1 vom großen Neuseeländer Douglas Lilburn, dessen hundertster Geburtstag am 2. November gefeiert wurde. Hier war es nun die vollendete Schlichtheit des Gesangs der zweiten Geige, begleitet von durchgehenden Pizzicato-Arpeggien der Bratsche, die die Hörer nach dem Beethoven-Himmel in einen neuseeländischen Himmel (man kann es kaum anders beschreiben…) mitnahmen – von einer tiefen, anrührenden und eben nicht sentimentalen Verinnerlichung des Ausdrucks getragen, und dabei leicht wie ein sanfter Windhauch, der zwischendurch etwas kräftiger wird und dann in die Stille mündet. Danach spielte Kathrin ten Hagen die Chaconne von Johann Sebastian Bach – würdig einer großen Geigerin, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Von manchen Traditionen und überlieferten Konzepten kann sie sich mit der Zeit noch befreien, doch hat sie alles Zeug, um zu einer überragenden Gestalt heranzureifen, und möge ihre Charakterstärke ihr helfen, mit der Bewunderung, die ihr Spiel auslöst, auf natürlichste und davon nicht zu beeindruckende Weise umzugehen.
Wie sollte nach all dem noch der Höhepunkt des Konzerts folgen? Ja, er folgte, und man kann es nur als ein Wunder bezeichnen, denn die Musiker hatten erst einen Monat zuvor erfahren, dass sie mit dem 1932 entstanden Streichquartett in f-moll von Reinhard Schwarz-Schilling eines der kompliziertesten, herausforderndsten Werke der Quartettliteratur spielen sollten, als „Einspringer“! Diesen gutwilligen Bonus brauchten sie nicht, als sie das vierzigminütige, dreisätzige Werk, eine auf die Tomsatz-Essenz reduzierte Symphonie für vier Instrumente, einem Publikum nahebrachten, in dem viele Kenner und durchaus auch einige Skeptiker saßen. Introduktion und Fuge als Kopfsatz, dann ein großes, am ehesten als brucknerisch zu bezeichnendes Adagio, und ein höchst komplexes, zyklisch verbundenes Finale. Nicht ein Hörer, der diesmal nicht begriffen hätte, dass es sich hier um ein zeitloses Meisterwerk handelt, um ein Gipfelwerk abendländischer Tradition, wie eine gewaltige Zusammenfassung der Elemente Bachs, Beethovens, Bruckners und Kaminskis in einer zwar Dur-Moll-tonalen Sprache (stark molldurchtränkt!), jedoch in der dramatischen Expressivität zugleich unbestreitbar Dokument der expressionistischen Epoche mit intensiv tragischer Tönung, und mit einer archaischen Kraft und Erzählkunst, die manchen an eine antike Tragödie denken ließ. Hier werden alle Aspekte der Quartettkunst gefordert, extreme Selbständigkeit der vier Stimmen und zugleich vollkommene Verschmelzung, heroischer Ausdruck und lyrische Intimität, romantische Breite und Schönheit und präzise-musikantische Zuspitzung der rhythmischen Komplikationen, kollektives Rubato in eng verzahntem Kontrapunkt, kraftvoll flammende Melismatik mit fast orientalischer Eleganz, wuchtigstes Pesante und überirdische Leichtigkeit, und über all dem die Entwicklung der durchgehenden organischen Formung, des bezwingenden Zusammenhangs.  Die Konzentration hielt bis zum Schluss bei Ausübenden und Zuhörenden, schien fast noch zuzunehmen, mit zum Bersten ausgereizter Spannung an den Höhepunkten, mit Phasen meditativer Versenkung, die einige an Arvo Pärt (!) erinnerten, in unerhörtem Wechsel vom Explosiven zum Schwerelosen, vom stringent Drängenden zum momentweisen Erreichen eines Elysiums. Großartiger kann Quartettkunst eigentlich nicht sein, und doch bin ich sicher, dass dieses Quartett, macht es so offenen Ohrs und Gemüts weiter, uns noch ungeahnte Dimensionen des Ausdrucks und darüber hinaus eröffnen wird. Ein so erschütterndes wie anrührendes und beglückendes Erlebnis transzendenten Musizierens.
Nicht vergessen seien zwei Orgelwerke im ersten Teil – zu Beginn des Konzerts Bachs Fuga sopra Magnificat und (nach der B-A-C-H-Studie) Schwarz-Schillings nichts weniger als großartiges Präludium und Fuge –, die von der jungen, hochbegabten Organistin Geraldine Groenendijk in erfrischend klarer, erstaunlich innerlich erfasster Weise und mit geschmackvoll-prächtiger Registrierung vorgetragen wurden.
So sollten unsere Konzertprogramme öfter zusammengestellt und aufgeführt werden.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, November 2015]