Eine CD mit drei phänomenalen Streichtrios, zwei davon als Erstaufnahme, hat das Label Aldilà zu seinem zehnjährigen Bestehen herausgebracht: Die Triosonate von Paul Büttner, die Kammersonate von Heinz Schubert sowie den späten Gattungsbeitrag von Reinhard Schwarz-Schilling. Als Ausgangspunkt solcher kontrapunktischen Meisterschaft muss natürlich Bach gelten: Drei Bearbeitungen von Fugen aus dessen Wohltemperiertem Klavier durch Mozart (KV 404a) erweisen ihm anfangs die Referenz. Es spielt das Trio Montserrat.
Höchste Konzentration von den Ausführenden verlangen die beiden hier als Ersteinspielungen vorgestellten Streichtrios: die Triosonate des notorischen Sammlern allenfalls als Symphoniker bekannten Dresdner Komponisten Paul Büttner (1870–1943) sowie die Kammersonate des Kaminski-Schülers Heinz Schubert (1908–1945). Um es gleich vorwegzunehmen: Obwohl sich die drei spanischen Streicher Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Cello) für diese Entdeckungsreise mehr oder weniger spontan als Trio Montserrat zusammengefunden haben, kann man ihre Leistung nicht hoch genug loben. Bei dieser zwar tonalen, dabei kontrapunktisch enorm komplexen Musik benötigt allein die richtige Intonation ein derart perfektes Verständnis des momentanen harmonischen Geschehens, dass man nur staunen kann, wie vollkommen natürlich hier alles gelingt, wie man sich in Sekundenbruchteilen entsprechend anpasst, aber auch insgesamt die Übersicht für die großen Zusammenhänge und die innere Logik behält, und wie dezidiert die drei Musiker mit Hingabe zu einem sprechenden Ausdruck finden, der jeden Hörer berühren muss.
Büttner war der bedeutendste Schüler Felix Draesekes, kam erst relativ spät – ab ca. 1915 – als Symphoniker zu durchschlagendem Erfolg, war aber nach 1933 als bekennender Sozialist faktisch mit einem Berufsverbot belegt. Seine Musik wurde in der DDR zwar ein wenig gepflegt – die einzige derzeit greifbare CD-Aufnahme einer seiner Symphonien auf Sterling stammt von 1967; auf YouTube findet man zum Glück etwas mehr. Wie bei vielen Komponisten, deren rein tonale Musik vielleicht schon vor dem Zweiten Weltkrieg als ein wenig aus der Zeit gefallen erschien, liegt sein Werk heute zu Unrecht im Dornröschenschlaf. Die um 1930 entstandene Triosonate, bestehend aus sieben Miniaturen von insgesamt nur 16 Minuten Dauer, konnte also erst posthum gedruckt werden. Hier werden – oberflächlich betrachtet – vor allem kontrapunktische Finessen des frühen 19. Jahrhunderts wiederbelebt; sozusagen unter der Motorhaube werkelt jedoch elaboriertes Kunsthandwerk vom Feinsten. Zugleich gelingen Büttner hinreißend direkte Charakterstudien, die dann gar nicht so untypisch für die Zeit zwischen den Weltkriegen sind – jede für sich eine kleine Preziose! Faszinierend etwa, wie im gerade mal halbminütigen 4. Satz eine Glasharmonika imitiert wird.
Die eigentliche Überraschung der Veröffentlichung ist ohne jeden Zweifel die Kammersonate des viel zu jung 1945 im Oderbruch gefallenen Heinz Schubert. Der Dessauer studierte 1926–29 in München bei Siegmund von Hausegger und Joseph Haas und brachte es als Dirigent bis zum Rostocker Musikdirektor – was die Nazis nicht hinderte, ihn im „Volkssturm“ zu opfern. Seine offensichtliche Inspirationsquelle war jedoch die hochverdichtete Linearität Heinrich Kaminskis. Wer dessen Chorwerke kennt, weiß, dass diese einen absoluten Höhepunkt einer langen historischen Entwicklung tonalen Kontrapunkts markieren. Heinz Schuberts Kammersonate von 1934/37 setzt hier aber fast noch eins drauf und erweist sich als echtes Meisterwerk: „Die Dichte der essenziellen Ausdruckskraft, die energetische Aufladung von Struktur und Ausdruck drängt beständig danach, die Grenzen des Fasslichen zu überschreiten“ schreibt Christoph Schlüren, dem wir auch als Produzent diese staunenswerte Wiederentdeckung zu verdanken haben, in seinem vorzüglichen Booklettext. Was für eine starke Musik, die das Trio Montserrat auch emotional absolut überzeugend herüberbringt!
Als Alterswerk des engsten Schülers Kaminskis muss sich das Streichtrio (1983) von Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) naturgemäß nichts mehr beweisen. Abgeklärtheit und eine überragende Klangvorstellung kennzeichnen ein Stück, das nochmal die Hochphase großartiger Kammermusik des Komponisten in Erinnerung ruft.
Schlüren begründet zwar, warum zu Beginn des Programms drei Bearbeitungen von Fugen aus Bachs Wohltemperierten Klavierdurch Mozart 1782 stehen: quasi als Visitenkarte. Dafür komponierte dieser statt der zugehörigen Präludien jeweils langsame Einleitungen. Der Rezensent hätte sich vielleicht eher ein Stück gewünscht, das die deutsche Kontrapunkttradition weise ironisiert: z.B. die in Theresienstadt entstandene Passacaglia und Fuge von Hans Krása – der in Schlürens Aufzählung zahlreicher Komponisten, die für Streichtrio geschrieben haben, keineswegs vergessen wurde.
Gerade, weil sich hier wohl für die meisten gänzlich Unbekanntes als musikalischer Hochgenuss herausstellen dürfte, bekommt dieses frühe Kammermusik-Highlight des Jahres 2021 sofort einen Extraplatz im Regal. Die CD wird nicht nur der Rezensent ganz sicher noch öfters hören: eindeutige Empfehlung!
Der Titel „Vivaldissimo“ steht über dieser höchst bemerkenswerten polnischen Produktion wie ein in die Irre führender Wegweiser. Zwar eröffnet Antonio Vivaldi das Programm, doch begeben wir uns, geleitet von dem Gitarristen Krzysztof Meisinger und dem auf historischen Instrumenten spielenden Ensemble Poland baROCK, auf eine zeitlich, geographisch und stilistisch deutlich weiter ausgreifende Reise als die Überschrift vermuten lässt: auf eine veritable musikalische Grand Tour! Sie führt vom Venezianer Vivaldi, vorerst in dessen Zeit bleibend, zu Johann Sigismund Weiss, der als Hoflautenist des Kurfürsten von der Pfalz in Düsseldorf, Heidelberg und Mannheim wirkte, und zu Johann Sebastian Bach nach Mitteldeutschland. Es folgt ein Sprung um eine Generation nach Wien, wo wir Karl Kohaut begegnen. Mit dessen jüngerem Zeitgenossen Luigi Boccherini landen wir in Spanien, und bleiben dort auch, wenn mit Isaac Albéniz die Szene ins späte 19. Jahrhundert wechselt. Sämtliche Werke sind für die Besetzung dieser Aufnahme eingerichtet worden: die Lautenkonzerte Vivaldis und Kohauts, sowie die Stücke von Boccherini und Albéniz vom hier spielenden Gitarristen Krzysztof Meisinger, das Lautenkonzert von Weiss von Alice Artz und die Aria aus Bachs Orchestersuite BWV 1068 von Dmitry Varelas.
Betrachtet man das Manuskript von Vivaldis D-Dur-Konzert RV 93 (an wohlbekannter Stelle im Netz zu finden), so fällt auf, wie wenige Vortragsbezeichnungen der Komponist notiert hat. Meisinger und Poland baROCK haben aus den wenigen Piano- und Forte-Angaben nicht den Schluss gezogen, hier müsse strikt zwischen lauten und leisen Abschnitten ohne weitere Differenzierung geschieden werden. Auch schlussfolgerten sie aus der weitgehenden Abwesenheit von Bindebögen und Artikulationszeichen nicht, dass Legatospiel zu vermeiden sei und die Musik möglichst monoton vorgetragen werden müsse. Nein, die Musiker haben sich hörbar in das Stück vertieft, jede Phrase auf ihre Funktion im Gesamtzusammenhang hin betrachtet, und dadurch den Aufbau der Sätze verinnerlicht. In jedem Moment behalten sie die Übersicht über das Geschehen und können somit den musikalischen Verlauf als Folge einander bedingender Ereignisse darstellen. Nirgends wirken die Klänge unbedacht aneinandergereiht. Die Musik schwingt in großen Bögen und strahlt in jedem Takt Leben aus, im raschen wie im langsamen Tempo. Die feine Differenzierung in Dynamik und Artikulation sorgt dafür, dass der erste Satz, obwohl sehr lebhaft vorgetragen, nirgends gehetzt wirkt, ebenso dass der zweite trotz sehr breitem Zeitmaß (er dauert in der vorliegenden Einspielung länger als die Ecksätze zusammengenommen) fest zusammenhält. Alle drei Sätze des Konzerts sind in zweiteiliger (Sonaten-)Form mit Wiederholungsvorschriften für beide Teile geschrieben. Diese werden auch alle ausgeführt, aber keineswegs als bloße Pflichtschuldigkeit philologischer Ursache, sondern dramaturgisch sinnvoll: Der zweite Durchlauf des zweiten Satzteils schließt unmittelbar an den ersten an, nachdem dieser am Schluss nur zu lokaler, aber nicht endgültiger Beruhigung gekommen war. So gelingt die Überraschung, und die Musik stürzt sich mit neuer Energie in die zweite Runde. Die Wiederholungen im langsamen Satz gestaltet Krzysztof Meisinger mit geschmackvollen Verzierungen aus, während das Orchester noch tiefer in die Musik einzutauchen scheint. Im zweiten Durchlauf des Kopfsatzes erlaubt sich der Solist einen kleinen Scherz, indem er vor dem letzten Tutti in einer kleinen Kadenz die Verwandtschaft des Hauptgedankens mit dem entsprechenden Thema des Frühlings aus den Vier Jahreszeiten offenlegt. Außerdem leitet Meisinger den langsamen Satz mit einem kurzen improvisierten Vorspiel ein. Wie die Freiheiten, die sich die Musiker beim Vortrag und in der Ausgestaltung der Dynamik nehmen, stets im Einklang mit dem musikalischen Verlauf erscheinen, so fügen sich auch diese Zutaten des Solisten passend in den Zusammenhang ein.
Johann Sigismund Weiss stand zu Lebzeiten im Schatten seines älteren Bruders Silvius Leopold Weiss. Während jedoch dessen Lautenkonzerte bis auf die Solostimmen verloren gingen, hat das Schicksal es in dieser Hinsicht mit Johann Sigismund besser gemeint. Sein Konzert in d-Moll ist viersätzig, aber kürzer als das Vivaldische. Zweimal wechselt hier ein langsamer mit einem schnellen Satz, wobei der Kopfsatz sich gegen Schluss in einen kurzen schnellen Abschnitt hineinsteigert. Feurig beschwingt in den raschen Sätzen, grüblerisch und herb in den langsamen, stellt das Werk seinem Komponisten ein treffliches Zeugnis aus.
Karl Kohaut galt Mitte des 18. Jahrhunderts als bester Lautenist Wiens und stand in der Gunst Kaiser Josephs II., der ihn in den Adelsstand erhob. Sein etwa 20-minütiges Konzert in E-Dur steht stilistisch ungefähr in der Mitte zwischen Matthias Georg Monn und dem frühen Joseph Haydn, was sich formal darin äußert, dass der Kopfsatz sich gleichermaßen als Ritornell- wie als Sonatenform beschreiben lässt. Ein freundlicher, galanter Tonfall prägt die Ecksätze, namentlich das im Menuett-Zeitmaß gehaltene Finale. Sie umschließen ein arioses Larghetto in Moll.
Krzysztof Meisinger ist ein souveräner Virtuose und zeigt dies überall, wo ihm die Komponisten entsprechende Figurationen zu spielen geben. Allerdings erschöpft sich sein Künstlertum nicht in der technischen Perfektion. Alle langsamen Sätze des vorliegenden Albums demonstrieren, wie fein er es versteht, die Gitarre singen zu lassen; ebenso, dass er ein großartiger Kammermusiker ist, der auf seine Mitspieler zu hören weiß. Auf den charakteristischen Klang seines Instruments vertrauend, hält er sich mitunter deutlich zurück, um den Streichern mehr Raum zu gönnen, wenn diese prominent hervorzutreten haben. Der Solist drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern fungiert gleichsam als Schlagader des musikalischen Geschehens. Er mag die markanteste Stimme haben, doch gönnt er auch allen anderen Stimmen ihr Recht. Ein besonders inniges Miteinander gelingt auf diese Weise in der Bachschen Air. Ein Reiz eigener Art entsteht durch die Besetzung der Continuo-Gruppe von Poland baROCK mit Theorbe und Cembalo. Gerade in den langsamen Sätzen, wenn die Musik im allgemeinen recht leise ist, kann man die drei einander ähnlichen Klangfarben von Solo-Gitarre, Cembalo und Theorbe im Zusammenspiel hören.
Um für den Schluss des Programms nach Spanien überzuleiten, erweist sich der letzte Satz von Boccherinis Gitarrenquintett G. 448 bestens geeignet, beginnt doch seine Einleitung im gleichem Rokoko-Geist, der dem vorangegangenen Konzert Kohauts das Gepräge gibt, um letztlich in einen Fandango zu münden. Meisingers Bearbeitung von Albéniz‘ Asturias lässt klanglich aufhorchen. Zwar hört man das ursprünglich für Klavier geschriebene Stück oft von einer Gitarre vorgetragen, aber wann einmal mit einem Barockorchester als Begleitung? Das Experiment gelingt prächtig! Im Gegensatz zu Boccherinis Fandango, wo Meisinger noch Erster unter Gleichen ist, übernimmt er hier sehr entschieden die Führung. Die Streicher schaffen mit langen Orgelpunkten eine weiträumige Atmosphäre, während das Cembalo mit harten Arpeggien und Stützakkorden wie eine große zweite Gitarre klingt. Dass auch die spanischen Stücke, jedes auf die ihm angemessene Art, höchst kultiviert vorgetragen werden, erübrigt sich fast zu sagen.
Der Begleittext beschränkt sich auf ein kurzes Geleitwort Krzysztof Meisingers auf Polnisch. Die Musiker lassen also weitgehend die Musik für sich sprechen. Und das tut sie in ihren Händen wahrlich ausgezeichnet.
Die Frankfurter Cellistin Katharina Deserno kombiniert auf ihrer neuen CD „Suites & Roses“ auf faszinierende Weise Bachs erste beiden Cellosuiten mit drei Werken der rumänischen Komponistin Violeta Dinescu: „Sieben Rosen“, der „Kleinen Suite“ und „Abendandacht“.
Noch im 19. Jahrhundert verschmäht oder lediglich als Unterrichtsmaterial abgetan – ähnlich erging es lange auch dem Wohltemperierten Klavier –, sind Bachs sechs Suiten für Cello solo heute genauso Standardrepertoire und höchste Herausforderung wie die Sonaten und Partiten für Violine. Wenn die aus Frankfurt stammende – und mittlerweile dort lehrende – Cellistin Katharina Deserno die beiden ersten Suiten (BWV 1007 und 1008) nun mit zwei gleichfalls zyklischen Stücken der seit langem schon hier ansässigen, rumänischen Komponistin Violeta Dinescu (*1953) umrahmt, fragt man sich natürlich gleich, inwieweit diese fast 300 Jahre auseinander liegenden Werke tatsächlich in Beziehung treten können.
Dinescus Sieben Rosen (2014/18), zunächst für Flöten geschrieben, beziehen sich auf Bertolt Brechts gleichnamiges Gedicht aus den Vier Liebesliedern, und die sieben kurzen Sätze beleuchten verschiedene Charaktere von Werden und Vergehen. Dinescus eigentliche Stärken äußerten sich vor allem in Ensemblestücken mit mittlerer Besetzung, wie sie typischerweise von auf Neue Musik spezialisierten Formationen nachgefragt werden – darunter etwa die geniale Filmmusik zu Friedrich Murnaus letztem Stummfilm Tabu. Die Konzentration auf ein Soloinstrument gerät klanglich und ausdrucksmäßig jedoch keineswegs weniger farbig: In der Diktion äußerst frei, bewegt sich diese Musik – wie immer bei Dinescu mit einigen folkloristischen Allusionen aus ihrer Heimat – überzeugend atmend durch vielfältige Stimmungen. Direkte Bezüge zu Bachs Cellosuiten finden sich dann, meist gut versteckt, in der Kleinen Suite (2018), die – wenngleich nur fünfsätzig – schon formal an den Aufbau der Bach-Werke erinnert und bereits im Hinblick auf die programmatische Verbindung entstand. Katharina Deserno gestaltet dies mit überaus differenziertem Klangsinn, aber hält sich dabei stets in einer sehr intimen Atmosphäre – auch die stellenweisen, kurzen gesanglichen Einlagen, die die Komponistin fordert, kann sie dabei überzeugend integrieren: als tief der Seele entsprungenes Bedürfnis, das den Instrumentalklang reflektiert.
Die Bach-Suiten spielt Deserno ebenfalls eher zurückhaltend, beachtet die Spielweisen historisch informierter Aufführungspraxis und erreicht dabei immer enorme Klangschönheit wie präziseste, sprechende Artikulation. Die erstaunliche Tempokonstanz bewirkt allerdings in einigen Sätzen – besonders den Préludes – ein wenig die Gefahr des Kippens in Richtung Langeweile. Die schnellen Tanzsätze der G-Dur-Suite sind agil und lebendig; überraschend dann allerdings, wie Frau Deserno fast die gesamte d-Moll-Suite – bis auf die Gigue – aus der Sicht eines gebrechlichen, alten Mannes (?) interpretiert, für den Tanz wohl nur noch als schemenhafte, schmerzliche Erinnerung existiert. Das ist zwar durchaus spannend, zwingt zum Hinhören – aber dieses Stück in eine derartige Todesnähe zu stellen, ist dennoch eigenwillig und lässt sich allein durch die Tonart kaum rechtfertigen. Immerhin gelingt so die Sarabande in desolater Verzweiflung, die wirklich bewegt. Umso versöhnlicher danach Dinescus Abendandacht mit balkan-typischen Intervallverbindungen als quasi sehnsuchtsvolle Hoffnung. Insgesamt eine gelungene Zusammenstellung, die ihre Wirkung nicht verfehlt und eine beeindruckend bewusst agierende Künstlerin zeigt.
Bei Reinhard Goebels neuer CD bleibt alles in der Bach-Familie. Die Berliner Barock Solisten musizieren mit Bariton Benjamin Appl drei Kantaten: „Ich bin vergnügt mit meinem Stande“ von Carl Philipp Emanuel, „Pygmalion“ von Johann Christoph Friedrich sowie „Ich habe genug“, BWV 82 von Vater Johann Sebastian. Als Intermezzi fungieren zwei neuentdeckte Streichersinfonien von Carl Philipp Emanuel sowie Wilhelm Friedemann Bach – diese und „Ich bin vergnügt…“ sind Ersteinspielungen. Man darf also gespannt sein…
Reinhard Goebel wird nicht müde, neue Barockmusik zu entdecken und schon Bekanntes neu zu entdecken. Auch als künstlerischer Leiter der Berliner Barocksolisten steht er für klare, wohlüberlegte Konzepte und eine heute leider selten gewordene, gewissenhafte Vorbereitung, ohne die der außerordentlich hohe Qualitätsstandard, der auf der neuen CD mit Kantaten der Bach-Familie wieder demonstriert wird, undenkbar wäre. Jedes der hier aufgezeichneten Stücke glänzt mit ganz individuellem Charakter, alle sind für sich genommen schon faszinierend und spannungsreich. Trotzdem war es ein kluger Schachzug, nicht Kantate an Kantate zu reihen, sondern dazwischen knappe, kaum zehnminütige Streichersinfonien zu platzieren. Tatsächlich kann so der Hörer die randvolle CD gerne an einem Stück genießen, ohne dass es auch nur eine Sekunde langweilig würde.
Zentrales, und mit fast 34 Minuten umfangreichstes Werk ist Pygmalion von Johann Christoph Friedrich Bach, von den Ausmaßen her schon fast ein Opern-Monodram. Diese Kantate „empfindsamen Stils“ ist ein Kleinod ihrer Zeit (ca. 1770), das innerhalb einer konzertförmigen Gesamtanlage eine Fülle von Stimmungsnuancen auskostet, besonders im zentralen Rezitativ – nicht ohne einen Hauch von Ironie. Goebel verriet kürzlich im Interview, dass die Realisierung einer Aufnahme ein von ihm seit dreißig Jahren gehegter Wunsch war – er hingegen erst jetzt in Benjamin Appl den idealen Interpreten gefunden habe. In der Tat ist Appl der eigentliche Star der Einspielung: ein tiefer Bariton in absoluter Bestform! Klangschönheit, perfekte, in jeder Silbe verständliche Diktion – der man zwar die Schule Dietrich Fischer-Dieskaus anmerkt, aber ohne dessen Mätzchen, zu oft in reines Deklamieren abzugleiten – und eine ansteckende Freude auch an barocken Verzierungen und Melismen, die nie zum Selbstzweck geraten. Und obwohl Appl hier zum Glück nirgends opernhaft „aufdreht“, ist seine immer adäquate Dynamik ungemein differenziert, dabei stets angenehm.
Noch weitgehend im Fahrwasser des Vaters – ganz klar im mittigen Rezitativ – bewegt sich C. Ph. E. Bach in seiner Kantate von 1733/34, dessen Wiederentdeckung hier gefeiert wird; da war er auch gerade mal zwanzig. Die Sinfonie in F-Dur wirkt schon eher als früher Vorbote des sich später deutlich wandelnden Sinfoniestils. Beeindruckender noch der B-Dur-Beitrag Wilhelm Friedemanns; diese kompakte Musik hat richtig Biss! Die Innigkeit und stilistische Sicherheit bei Johann Sebastians Kantate Ich habe genug setzt der Darbietung endgültig die Krone auf. Hier stimmt wirklich alles – überzeugend homogener Streicherklang (nur hier hören wir außerdem eine Oboe bzw. Oboe da caccia), konsequente Phrasierung von Solist und Orchester, vor allem jedoch ein Überspringen von Bachs unerschütterlicher Überzeugtheit vom vertonten Text auf den Hörer. Als Aufnahmeort diente Dezember 2019 die bewährte Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem – und der Tontechnik gelang ein Musterbeispiel an Luftigkeit und Durchsichtigkeit mit angenehmem Hall und schöner Räumlichkeit. Reinhard Goebels Booklettext ist informativ, sprachlich leider ein wenig geschwollen. Das schmälert den hervorragenden Gesamteindruck dieser Produktion natürlich nicht. Selten gelang es einem solchen Programm, einen eingefleischten Barockmuffel wie – zugegebenermaßen – den Rezensenten, derart bei der Stange zu halten und zu begeistern. Diese Musik gehört zweifelsohne gehört!
Sechs Jahre schlummerten die Aufnahmen dieser CD in den Archiven, bevor sie nun endlich das Licht des Tages erblicken und somit einen vollkommen unbekannten Violinisten als einen der tiefgründigsten Musiker unserer Zeit präsentieren. Lucas Brunnert spielt Grundpfeiler der Literatur für Violine alleine von namhaften wie entdeckenswerten Meistern: umrahmt wird die CD von der symphonisch angelegten Sonate für Violine allein op. 12 von Eduard Erdmann und der zweiteiligen Phantasie von Heinz Schubert. Dazwischen erklingt das Präludium op. 11 Nr. 2 von Edmund von Borck, Johann Sebastian Bachs Zweite Violinsolosonate a-Moll BWV 1003 und Paul Hindemiths Sonate op. 31 Nr. 2.
Wie eine Sternschnuppe erglimmt diese CD von Lucas Brunnert mit Aufnahmen vom Dezember 2014, setzt Maßstäbe und sollte das Geigenfirmament nicht unberührt lassen, denn wir erleben hier einen Musiker von vollendeter Feinheit, Innigkeit und Verständnis.
Als ich erfuhr, dass diese CD erschienen ist, bestellte ich sie ohne Umschweife – denn tatsächlich hörte ich Lucas Brunnert in den Jahren 2014 und 2015 mehrfach in ausnahmslos kleinen Konzerten am Tegernsee oder im Freien Musikzentrum München. Deutlich erinnere ich mich an das erste Mal, als ich ihn hörte: ich wurde gebeten, bei einem Konzert umzublättern – die Künstler kannte ich nicht. Als die beiden Musiker das erste Stück anstimmten, war ich wie in Trance, denn solch eine hingebungsvolle Spielweise, solch ein unsagbar herrliches Spiel hatte ich noch nie erlebt. Als Lucas Brunnert die Melodia aus Bartóks Soloviolinsonate spielte, vergaß ich die Zeit, beim gemeinsam mit der Pianistin Ottavia Maria Maceratini musizierten Schubert vor Faszination fast das Umblättern. Dieses musikalische Schlüsselerlebnis geht mir bis heute nach und auch die folgenden Konzerte der beiden Musiker oder von Lucas Brunnert alleine beeinflussen unaufhörlich mein Spiel wie allgemein meinen Zugang zur Musik. Seit dem Sommer 2015 plötzlich gab es keine Konzertankündigungen mehr von Lucas Brunnert, er war wie vom musikalischen Erdboden verschwunden – bis ich diese CD vor mir liegen sah. Das bizarre Layout mit den blanken Albuminformationen schwarz auf weiß auf der Vorderseite und dem textlosen Graustufenbild eines geöffneten Autodachfensters auf der Rückseite irritiert, aber zieht auf eigenartige Weise die Blicke auf sich. Im umfangreichen Booklet mit dem umfassend informierenden wie ansprechenden Begleittext von Christoph Schlüren finden sich weitere Bilder des Titelfotografen Max Rossner, der zauberhafte Stillleben einer Autoreise dokumentierte, den Titel der CD illustrierend: „Gateway into the Beyond“. Wer die abenteuerlichen Berichte Eduard Erdmanns von seinen Italienreisen mit dem Auto kennt (nachzulesen in: Begegnungen mit Eduard Erdmann), wird sogleich auch den unscheinbaren Bezug zum musikalischen Programm entdecken.
Zu Beginn steht direkt ein weltersteingespieltes Werk für Violine solo mit unvorstellbarem Gehalt (bei Genuin Classics erschien das Werk nur wenige Wochen früher – jedoch später aufgenommen – mit Judith Ingolfsson, die allerdings trotz ebenfalls intuitivem wie erspürtem Spiel weit weniger in den Noten entdeckte als Lucas Brunnert). Beinahe symphonisch mutet diese Sonate op. 12 von Eduard Erdmann an, die mit einem mysteriös freitonalen Motiv beginnt, Cis“-Dis‘-Gis-E‘-C“-Fis‘, aus welchem sich ein gewaltiger Kosmos entfaltet voll organischer Entwicklung und tiefgreifend emotionalen Kontrasten. Die Sonate gilt als sperrig und spröde, gar als unzugänglich – welch ein Fehlurteil! Die Tatsache ist, dass sich wohl die Geiger nicht adäquat mit der freien Tonalität samt ihrer enormen Spannungen auseinandergesetzt haben. So handelt in der früher erschienen Aufnahme Judith Ingolfsson das Anfangsmotiv als simple Melodie ab, ohne dass viel davon bei uns hängenbleibt; bei Lucas Brunnert nehmen wir nun die einzelnen Bezüge von Ton zu Ton wahr, verstehen beim Hören die trotz der Abwärtsbewegung expansive Kraft von Cis“ nach Dis‘, die leichte Entspannung zum Gis und den unerwartet extrem nach innen gerichtete Zug hoch zum E‘. Und so exerziert der Violinist die gesamte Sonate durch, wobei er sich nicht bloß auf solche Mikrobezüge stützt, sondern gleichermaßen im Großen korreliert und Beziehungen sucht. Das Werk macht Sinn, von vorne bis hinten, vom Detail bis zum Ganzheitlichen.
Edmund von Borck und Heinz Schubert fielen beide im Zweiten Weltkrieg. Der Name von Borck ist heute höchstens noch mit einem stumpfen Lexikoneintrag verknüpft, er habe das erste Saxophonkonzert geschrieben, welches 1932 von Sigurd Raschèr uraufgeführt wurde. Seine Musik bezaubert durch ihre himmlische Klangsprache in strahlender Tonalität und voll subtiler Detailverliebtheit. Anders als von Borck kommt die Musik Heinz Schuberts nach und nach ans Licht, spätestens durch die Renaissance seines Idols Heinrich Kaminski, von dem immer mehr Werke eingespielt und verlegt werden. Kaminski wie Schubert zählen zu den bedeutenden Kontrapunktikern der Epoche nach Bruckner. Beide wurden während der Herrschaft der Nationalsozialisten aufgeführt, obgleich sie sich beide nicht den Forderungen der Partei unterwarfen: Während von Borcks Tonsprache deutlich zu modern war für das Regime, stellte Schubert sich als Dirigent teils offen gegen das Aufführungsverbot von u.a. Kaminski. Anfang 1944 wurde von Borck eingezogen und starb in Nettuno beim Einfall der Alliierten; Heinz Schubert stand bis zur Emigration Furtwänglers unter dessen Schutz, wurde aber zum letzten Aufgebot eingezogen und kam bei einer Verteidigungsschlacht ums Leben.
Über die zeitlose Musik von Bach muss nichts gesagt werden, Lucas Brunnert lässt sie in aller Schlichtheit und grenzenloser Reinheit aufblühen, beschert uns so ganz besondere Momente mit diesem Werk aus dem Standardrepertoire, welche so nur selten erlebt werden können. Auch Hindemiths beide Solosonaten dürfen mittlerweile glücklicherweise zum Standardrepertoire zählen und mit der hier zu hörenden Zweiten schafft Brunnert eine Referenzaufnahme. Das ansonsten doch oft kahl wirkende Stück erhält unter dem feinen Strich des jungen Geigers ein neues Farbgewand, sprüht förmlich Funken und entsteht in aller Lebendigkeit. Die fast durchgehende Einstimmigkeit wird zum durchdringenden Gesang, der den Raum erfüllt. Sarkastisch brodelt das Pizzicato-Scherzo und mit den Variationen über „Komm lieber Mai und mache“ triumphiert der Komponist so ausgewogen und formal perfektioniert, dass er mühelos selbst neben dem Genie Mozart bestehen kann.
Auf der vorliegenden Doppel-CD widmen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Auf der ersten CD erklingen die Contrapuncti eins bis elf in der durch den Erstdruck definierten Abfolge sowie der unvollendet gebliebene Contrapunctus Nr. 14, der an der Stelle abbricht, wo Carl Philipp Emanuel Bach schrieb: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. An Stelle einer Vollendung tritt das letzte Werk aus der Feder Bachs: der Choral „Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit“. Die zweite CD birgt zunächst die beiden vierstimmigen Spiegelfugen, die als Contrapunctus zwölf zusammengefasst wurden, und dann drei Vollendungen der unvollendeten Quadrupelfuge (Contrapunctus 14), nämlich je eine von Karl Hermann Pillney, Donald Francis Tovey und Kalevi Aho. Dazwischen erklingen als kontrastierende Überleitungen die Orgelfuge g-Moll op. 60/3 von Schumann (arr. Dan Turcanu) und die „Studie über B-A-C-H“, das letzte Werk Reinhard Schwarz-Schillings.
Um kaum ein Werk der Musikgeschichte kreisen so viele Mythen wie um die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Nicht nur, dass es das früheste Werk war, das unvollendet und ohne den Versuch einer Schlussfindung abgedruckt wurde, auch die mystifizierenden, nicht zutreffenden Zeilen seines Sohns Carl Philipp Emanuel trugen dazu bei, der Musik transzendentale Bedeutung zu verleihen: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. Die fehlende Instrumentierungsbezeichnung gibt ebenso Rätsel auf: Handelt es sich um ein Werk für ein Tasteninstrument (wie die ebenfalls nicht bezeichneten „Fiori Musicali“ von Frescobaldi, die Bach intensiv studiert hat) oder doch für Streicher oder ein anderes homogen zusammenklingendes Ensemble? Fakt ist, dass diese Musik den Menschen zeitlos bewegt, berührt oder gar aufrüttelt. So schrieb beispielsweise Glenn Gould, „dass sich darin Momente finden, die für mich alles andere übertreffen, was Bach geschrieben hat. Mir fällt wirklich keine andere Musik ein, die mich tiefer bewegt hätte als diese letzte Fuge.“ So verwundert all das Überhöhen, Vergeistigen nicht, ebenso nicht die bis heute ungebrochene Tradition der wüstesten Theorien und Gedankengänge – dafür auch nicht die mittlerweile dutzendfachen Versuche einer Vollendung der letzten Fuge. Begonnen hat dies bereits kurz nach der Wiederentdeckung der Kunst der Fuge durch Wolfgang Graeser, dem es vor seinem frühen Suizid mit nur 22 Jahren gelang, eine umfassende Renaissance des Werks in die Wege zu leiten. Die ersten Ergänzungen als Quadrupelfuge (zuvor wurde sie, schon seit Johann Mattheson, mehrfach als Tripelfuge behandelt und zu einem Ende geführt) schrieben Hugo Riemann, der durch die Ungelenkheit seiner Arbeit stark in die Kritik rückte, Ferruccio Busoni, der sie in eine chromatische Fantasie wandelte, und schließlich 1931 Donald Francis Tovey, der die erste brauchbare und zugleich nahe am Stil Bachs orientierte Vollendung schuf, die bis heute gelten darf – sie wurde auf dieser CD eingespielt, durch Dan Turcanu eingerichtet mit subtiler Hinzunahme des Kontrabasses. 1937 folgte Karl Hermann Pillney, ein Schüler Regers und wahres Stil-Chamäleon, der mit tiefer Sympathie – bei Bedarf aber auch mit subtilem Witz – nicht nur in die Welt Bachs eintauchte, sondern gar ganze Variationswerke mit unterschiedlichen Stilimitaten füllte. Manche seiner Bearbeitungen können von einem Original nicht unterschieden werden, in der Vollendung dieser Quadrupelfuge allerdings greift er mehr als Tovey auf zeitgenössische Techniken der Reger-Schule und der Liszt-Tradition zurück. Doch stellt er sie anders als Busoni vollkommen in den Dienst der Fuge und unterstreicht damit bloß die enorme Dichte des Werks, die er noch weiter zu steigern vermag hin zu einem expansiven Höhepunkt. Nun macht Christoph Schlüren einen Sprung in die Gegenwart und fügt noch die Vollendung des finnischen Meisters Kalevi Aho hinzu, die Schlürens Aussage nach alle vorherigen seit Pillney überbiete. Zunächst mag die Streicherfassung verwundern, da die Stimmen stellenweise zunächst in den ersten Geigen, beim Finale im ganzen Orchester oktavweise gedoppelt werden (durch divisi der einzelnen Stimmen). Beim genaueren Hinhören erkennt man schnell die Intention: Aho schrieb seine Vollendung für eine Wiedergabe auf der Orgel, wo Oktavierungen durch Registermixturen üblich sind. Und indem es Christoph Schlüren gelingt, sein Streichorchester klanglich in eine gewaltige mehrstimmige Orgel zu verwandeln, geht der Kern und die Sinnhaftigkeit der Komplettierung auch in diese Fassung über.
Zwischen den Vollendungen erklingen Schumanns Orgelfuge über B-A-C-H, für Streichorchester gesetzt vom bereits erwähnten Rumänen Dan Turcanu, selbst übrigens ein vielseitig talentierter, tief erspürender Komponist. (Bislang schenkte er vor allem der Violine und dem Klavier substanzgeladene Werke, schrieb nun aber erste Orchesterwerke, die noch auf eine Aufführung warten. Einen Namen machte sich Turcanu besonders als Arrangeur, so bearbeitet er beispielsweise das gesamte Wohltemperierte Klavier für Geige solo.) Das zweite Interludium bildet Reinhard Schwarz-Schillings „Studie über B-A-C-H“, die bei Aldilà Records bereits in der Klavierversion erschien, eingespielt von Hugo Schuler: Die Studie ist Schwarz-Schillings letztes Werk, das in knapper Form diese berühmte Namensformel in die Gegenwart katapultiert und in einem modernen Stil kontrapunktisch durchführt: ein wahres Kleinod eines zu entdeckenden Großmeisters.
Auf dieser CD treffen zwei Künstler aufeinander, die ich zutiefst schätze und verehre: Der Dirigent Christoph Schlüren, einer der wenigen Schüler Celibidaches, der seine Lehren verstanden hat und sie klanglich umzusetzen weiß – als Lehrer und Mentor trieb er seine Schüler zu unerreichten Höchstleitungen, die Referenz bilden: so bei unter anderem Ottavia Maria Maceratini, Rebekka Hartmann, Hugo Schuler und Lucas Brunnert; nun hören wir ihn selbst am Pult. Und Lavard Skou Larsen, der brasilianische Nonchalance mit europäischer Präzision eint und als Violinvirtuose wie als Dirigent (ausgebildet u.a. bei Sándor Végh) tiefgreifende, erlebte wie auch reflektierte Darbietungen schafft – oftmals gemeinsam mit den hier zu hörenden Salzburg Chamber Soloists, eine kleine Formation erstklassiger Musiker, die jeder für sich als Orchestersolisten in Erscheinung treten können.
Beim klanglichen Resultat dieses Zusammentreffens bleiben keine Wünsche offen. Wer natürlich eine opulent überwältigende und romantisierend aufwühlende Darbietung erwartet, wird freilich enttäuscht, doch geht es bei Bach nicht um das. Asketisch stellen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists in den Dienst von Bach und setzen diese Musik auf die innigst nur vorstellbare Weise um. Mit klarem, offenem Klang begegnen die Musiker der Kunst der Fuge, formen aus dem stets gleichen Kern jeweils vollkommen andere Existenzen. Dies geschieht vollständig ohne Effekt oder aufbegehrende Geste. Christoph Schlüren ist ein Meister der innermusikalischen Spannungsverhältnisse: wie kein anderer kann er die spannungsträchtige Dichte in Bachs Musik aufrechterhalten, sofern die Musik es verlangt, und modelliert so eine klare Kontur des Verlaufs dieser Musik, die harmonisch wie melodisch nachvollziehbar wird. Die Stimmen entstehen in ihrer Eigenständigkeit plastisch vor uns und setzen sich so stimmig wie lückenlos zusammen. Stellenweise wirken lediglich die hohen Streicher etwas dissoziiert vom restlichen Geschehen, wobei dies auch einfach an der Aufnahme liegen könnte. Die Musik selbst wird der Impetus für das gesamte Spiel, sie läuft scheinbar von selbst, ohne äußeren Anstoß zu benötigen oder irgendwo zu stocken. Hier wird der Ausspruch des schwedischen Komponisten Anders Eliasson fühlbar, Bachs Musik sei im ständigen und unaufhaltsamen Fluss, wie H2O: Harmonie, Melodie und Rhythmus.
Am 21. 11. 2019 gedachte die musica viva bei einem Sonderkonzert des 100. Geburtstags der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja, mit einer Aufführung ihres kompositorischen Tryptichons „Triade“ durch Mitglieder des BR-Symphonieorchesters. Im ersten Teil des Abends spielte Nicolas Altstaedt Werke für Solo-Violoncello von Bach und Dutilleux. Das Symphoniekonzert am darauffolgenden Freitag – eigentlich anlässlich der „Happy New Ears“-Preisverleihung 2019 – geriet dann natürlich zur Gedenkveranstaltung für den erst einen Monat zuvor verstorbenen Komponisten, Dirigenten und – gemeinsam mit seiner Frau Gertrud – Stifter des Preises, Hans Zender. Unter der Leitung von Peter Rundel erklangen Werke des diesjährigen Komponisten-Preisträgers Klaus Ospald und Hans Zenders.
(c) Astrid Ackermann
Die
Komponistin Galina Ustwolskaja (1919-2006) ist in der Musikgeschichte des 20.
Jahrhunderts ein Unikum geblieben. Da ist einmal ihr Selbstbild als Medium
göttlicher Inspiration und einsames Genie, was zu Zeiten der UdSSR natürlich auf
wenig Zustimmung stieß. Auch der kommerzielle, westliche Musikbetrieb wurde erst
ab den 1990ern zunehmend aufmerksam auf Ihre Musik. Die geht mit nur scheinbar
einfachsten Mitteln ausschließlich in die Extreme, äußerliche Reduktion bei
gleichzeitig unerhörter Dichte – ganz wörtlich vor allem durch Cluster – des Klangeindrucks,
der den Hörer unmittelbar „trifft“, um nicht zu sagen: erschlägt.
Im ersten Teil bringt Nicolas Altstaedt zwei Werke für Solocello zu Gehör: Ganz ausgezeichnet Dutilleux‘ Trois Strophes sur le nom de Sacher – energisch, facettenreich und in sich geschlossen. Für Bachs fünfte Solosuite benutzt Altstaedt dann ein Barockcello – sein Vortrag gerät sehr intim, nach innen gerichtet, dabei mit immer klar bestimmter harmonischer Richtung, dynamisch grandios – oft quasi sul tasto –, aber gleichzeitig mit sehr definiertem Einzelton. Schade, dass das Publikum diese eigentlich hinreißende und virtuose Darbietung anscheinend nur als Appetizer wahrnimmt: eine Brücke zur Musik Ustwolskajas kann hiermit sicher nicht gebaut werden.
Ustwolskajas
Triade, eigentlich schlicht Kompositionen Nr. 1-3 benannt,
besteht aus drei kammermusikalischen Werken der frühen 1970er-Jahre mit höchst
ungewöhnlicher Besetzung, liturgisch betitelt: So lotet Dona nobis pacem die
Extremlagen von Piccoloflöte und Tuba (bzw. Kontrabasstuba) aus, die vom Klavier
mehr Verdoppelung als Kontrast erfahren, insgesamt durchaus meditativ wirken. Dies
irae für 8 Kontrabässe (differenziert, aber immer homophon), einen mit
Hämmern malträtierten Holzwürfel und Klavier evoziert teilweise brachial eine
Vision von Vergänglichkeit bzw. Apokalypse; etwas milder dann Benedictus qui
venit, für je 4 Flöten und Fagotte plus Klavier. Die Musik der rätselhaften
Russin entwickelt in kleineren Räumen immer eine gewisse Penetranz. Davon ist
hier – liegt es am Herkulessaal oder sind die Mitglieder des BR-
Symphoniekonzertes etwa wirklich noch auf eine Art Schönklang aus? – wenig zu
spüren. Die Musiker sind innigst bei der Sache; das Klavier könnte im Ensemble
perfekter zusammen sein – der Gesamteindruck bleibt jedoch blass. Beim Rezensenten
vermutlich, weil er auch russischen Ikonen so gar nichts abgewinnen kann. Die
Reaktion beim Publikum scheint gespalten zwischen tief beeindruckt und eher gelangweilt.
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Am 22.11. wäre Hans Zenders 83. Geburtstag gewesen, das Symphoniekonzert zur Happy New Ears-Preisverleihung nur zufällig auf diesen Termin gefallen. Der großartige Förderer nicht nur der Münchner musica viva (s. die Rezension des letzten, nur seiner Musik gewidmeten Konzerts von 2016) verstarb jedoch einen Monat zuvor. So muss auch die diesjährige Preisverleihung in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste nur in Anwesenheit seiner Witwe und Mitstifterin Gertrud Zender stattfinden. Die Komponistin Isabel Mundry hält eine etwas schrullige Laudatio, wo hingegen die Danksagung des Preisträgers für Komposition, Klaus Ospald, gleichzeitig zum tief bewegenden Nekrolog auf Zender wird, ebenso eindringlich die des Preisträgers für Publizistik, Jörn Peter Hiekel, der intelligent die Rolle u.a. der Musikwissenschaft in der Vermittlung „Neuer Musik“ beleuchtet – beide Preisträger hatten Hans Zender noch kurz vor dessen Ableben persönlich besucht.
So gerät natürlich auch das Symphoniekonzert am Abend zur In Memoriam-Veranstaltung; gleich zu Beginn bittet Winrich Hopp um eine Gedenkminute. Umso erfreulicher, dass sich das gut 50-minütige Werk Ospalds, Más raíz, menos criatura, nicht nur als preiswürdig, sondern als eines der faszinierendsten Stücke erweist, die in den letzten fünf Jahren in München zu hören waren. Klaus Ospald ist bekannt dafür, sich dem Neue-Musik-Betrieb in keinster Weise anzubiedern. Und er hat seine ganz eigene musikalische Sprache gefunden: Trotz großer Besetzung mit fast schon traditionell verwendetem Soloklavier, von dem immer wichtige Impulse ausgehen (souverän und mit tiefem Verständnis: Markus Bellheim) und 8-stimmigem Vokalensemble, das anfangs nur sporadisch mit fragmentierten Einsprengseln zum Einsatz kommt (Singer Pur, vielleicht zu weit hinten platziert), gibt es hier keine Note zu viel. Die Dichte an Einzelereignissen ist mühelos zu erfassen, die Musik vielleicht gerade deswegen ungemein spannungsreich, die Klangfarben äußerst subtil. Dem in der Einführung vom Komponisten erwähnten Bemühen um Wiedererkennbarkeit – was nicht zwangsläufig mit Wiederholung gleichzusetzen ist – wird Ospald z.B. dadurch gerecht, dass er den Klavierklang vom Orchester, bisweilen mikrotonal leicht verfremdet, aufnehmen und weiterführen lässt; ein ähnliches Wechselspiel gibt es zwischen Orchester und Vokalensemble. Das grausam existentielle Gedicht von Miguel Hernández – im Verdichtungsprozess gegen Schluss dann präsenter – dient hierbei nur als Vorlage für eine musikalische Gedanken- und Gefühlswelt, die jedes vordergründige Abbilden vermeidet, aber umso stärker trägt. Peter Rundel steuert diesmal gerade das differenzierte dynamische Geschehen richtig gut – verdient großer Applaus schon vor der Pause.
Im zweiten Teil des Konzertes gibt es – auch als Ausblick auf das Beethoven-Jahr 2020 – Zenders 33 Veränderungen über 33 Veränderungen, eine seiner komponierten Interpretationen; viel gespielt mittlerweile die der Winterreise. In der Reihenfolge unverändert, werden Beethovens Diabelli-Variationen zwar nicht auseinandergenommen, jedoch bei jeder einzelnen wird höchst intelligent und auch über weite Strecken mit respektablem Humor ihre Unerhörtheit aus damaliger Sicht in eine für heutige Ohren – mit all den musikhistorisch geprägten Ablagerungen der letzten zwei Jahrhunderte – gleichermaßen überraschende Couragiertheit transformiert. Leider steht jetzt Peter Rundel zumindest in den ersten 8 bis 10 Variationen etwas neben sich, schlägt oft unnötig kleinteilig; vieles wird schlicht zu langsam. Zum Glück fängt sich der Dirigent aber wieder und gestaltet den weiteren Verlauf mit seinem lustvoll aufspielenden Orchester überzeugender: großartig trotz kleinerer Patzer insbesondere Var. XXXI mit ihren Trompetensoli und die darauf folgende, brillante Fuge. Den Blumenstrauß zum Schluss überreicht Rundel dann, ins dankbare Publikum eilend, Zenders Witwe. Ein bewegender Abend, den der interessierte Leser am 3.12.2019 um 20:05 Uhr auf BR-Klassik nachhören kann.
Für den Herbst 2019 nahm sich das Bruckner Akademie Orchester unter Leitung von Jordi Mora ein Programm in D vor, was sie am 3.11 im KUBIZ Unterhaching vortrugen: Zunächst spielte es Mozarts Haffner-Sinfonie D-Dur KV 385, dann Bachs Konzert für Klavier und Streicher d-Moll BWV 1052 gemeinsam mit dem argentinischen Pianisten Hugo Schuler und nach der Pause die Sinfonia a gran orquesta in D-Dur von Juan Crisóstomo de Arriaga, der auch als spanischer Mozart bezeichnet wird.
Was das aus Profis wie begeisterten Laien zusammengewürfelte
Bruckner Akademie Orchester unter der grandiosen Leitung von Jordi Mora auf die
Beine stellt, erstaunt jedes Konzert von Neuem. Dieses Mal arbeiteten die
Musiker gemeinsam an zwei klassischen Symphonien in D-Dur: Mozarts
Haffner-Sinfonie und Arriagas Sinfonia a gran orqesta. Arriagas Symphonie, bis
vor kurzem noch ein Exot in den Konzertsälen, setzt sich immer mehr als
bedeutendes Meisterwerk durch und steht mittlerweile regelmäßig auf den
Programmen verschiedener Orchester. Wäre der Komponist nicht bereits vor seinem
20. Geburtstag einem Lungenleiden erlegen, was hätten wir noch für monumentale
Musik von ihm erwarten können! Selbst seine frühen Ouvertüren bestechen schon
durch ihre Ausdrucksgewalt, die reiche Rhythmik und inspirierte Melodik – und
das, bevor er den ersten Kompositions- oder Kontrapunktunterricht nahm. Später
ließ er sich in Paris unter anderem bei Baillot ausbilden, erhielt
Unterstützung von Luigi Cherubini und lernte vermutlich sogar Beethoven
persönlich kennen. Die ständig zwischen Dur und Moll changierende einzige
Symphonie zählt als sein wichtigstes Werk, ihre zwingende Rhythmik packt den
Hörer, die formale Gestalt überrascht und verzaubert gleichermaßen durch
perfektes Timing und ideale Ausgewogenheit.
Von der rein äußeren Wirkung übertrifft die heutige
Darbietung von Arriagas Symphonie sogar die mitreißende Leichtigkeit von
Mozarts Haffner-Sinfonie. Jordi Mora treibt das Orchester stetig an, alles zu
geben und sich zu 100% auf die Musik zu fokussieren. Dabei fallen die
intensiven Blickkontakte zwischen den einzelnen Streichergruppen auf, aus denen
eine fruchtbare Symbiose resultiert und den Streicherklang verschmelzen lässt.
Die Bläser können sich auf diesem Fundament elegant entfalten und der Musik all
die feinen Nuancen entlocken. Bemerkenswert ist, wie fein Jordi Mora die
Kontraste und gegensätzlichen Passagen abwägt und somit die Form in der Waage
hält. Das Minuetto wirkt durch die gewollt holprige Rhythmik mehr wie ein
Beethoven’sches Scherzo als ein Mozart’sches Menuett, das Finale wütet in
markantem Precipitato, das durch die Wiederholung in Form der Zugabe noch mehr
gewinnt.
Mozart bleibt dagegen subtil, wenngleich nicht weniger
substanz-geladen. Kompromisslos achtet Jordi Mora auf die Feinheit,
Durchsichtigkeit und nicht zuletzt Leichtigkeit der Symphonie, die dadurch
beinahe spielerisch ungezwungen Glanz erhält.
Überrascht wurde ich von Bachs Klavierkonzert in d-Moll.
Anstelle des ansonsten oft ruppigen und pompösen Tuttis zu Beginn vernehmen wir
kontrollierte und gar feinsinnige Klänge, die öffnen und fragen, anstatt direkt
durch ein Statement mit der Tür ins Haus fallen. Auch der anschließende
Solo-Part behält den Gestus bei: Hugo Schuler behält ein luzides Détaché, ein
flötenartiges Nonlegato, bei, was der Musik eine stetige Feingliedrigkeit und
Eleganz verleiht. Der Klang des Steinway-Flügels verschmilzt so erstaunlich gut
mit den Streichern – es erweckt fast den Eindruck eines modernen Clavicembalos,
das jedoch über gezielt eingesetztes Pedal und mehr klangliche Schattierungen
verfügt. Im ersten Satz kommt Schulers linke Hand nur schwer über die sechs (!)
Celli drüber, was angesichts des Klangideals auch unmöglich ist, ab dem zweiten
Satz finden die Partner zusammen und vereinen sich in ihren musikalischen
Vorstellungen. Das Adagio avanciert am Klavier zur gesungenen Cantilene, das
Finale bricht in voller Spielfreude hervor.
Orchesterkonzert: Salzburg, 25. Oktober 2019, Salzburg
Chamber Soloists, Christoph Schlüren
Wer sich am 25. Oktober 2019 im Odeion des Salzburger Waldorfcampus eingefunden hatte, hatte das Glück, einer außergewöhnlichen Demonstration kammerorchestralen Musizierens beiwohnen zu können. Die Salzburg Chamber Soloists, jeweils fünf erste und zweite Violinen (darunter der Konzertmeister Lavard Skou Larsen), vier Bratschen, drei Violoncelli und ein Kontrabaß, spielten unter der Leitung von Christoph Schlüren Die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Man verzichtete auf ein Arrangement der Kanons und präsentierte Contrapunctus XIV zweimal: am Ende der ersten Konzerthälfte, nach den Contrapuncti I–XI, in der von Bach unvollendet hinterlassenen Gestalt, der sich jener Choral anschloss, mit welchem die Herausgeber des Erstdrucks ihr Publikum „schadlos halten“ wollten; zum zweiten Male, am Ende des Konzerts, mit der sehr geglückten Ergänzung des finnischen Symphonikers Kalevi Aho, die damit ihre österreichische Erstaufführung erlebte. Zuvor erklangen in der zweiten Konzerthälfte nach den Spiegelfugen zwei im wahrsten Sinne des Wortes auf Bach bezogene Stücke aus späterer Zeit: Robert Schumanns Fuge über BACH op. 60/3, für Streichorchester transkribiert von Dan Țurcanu, und Reinhard Schwarz-Schillings Studie über BACH für drei Stimmen, das letzte Werk dieses Komponisten polyphoner Meisterstücke, dessen gesamtes Schaffen im Grunde eine große Hommage an Bach darstellt.
Ein ganzes Konzert mit Stücken, in denen jeder Musiker in
regelmäßigen Abständen das Hauptthema zu spielen hat und auch die Übersicht
behalten muss, wenn gerade „nur“ ein Kontrapunkt in der Stimme steht, ist für
ein Orchester eine besondere Herausforderung. Die Salzburg Chamber Soloists haben es bei der
Bewältigung dieser Aufgabe nicht an Einsatzbereitschaft und Begeisterung fehlen
lassen und folgten hochkonzentriert den Vorgaben ihres Dirigenten.
Schlürens Präsentation der Werke lebte vor allem von der
sorgfältigen Artikulation jeder Stimme. Kein Themeneinsatz ging im Gesamtklang
unter, die kontrapunktischen Verflechtungen wurden fein abgestuft nach dem
Gewicht dargeboten, das den beteiligten Stimmen im jeweiligen Moment zukam,
sodass die Interaktion der Instrumentengruppen trefflich zur Wirkung gelangte.
Mit seinem feinen Gespür für Bachs Formung der musikalischen Verläufe aus dem
Gegeneinander der melodischen Linien legte der Dirigent vorbildlich bloß, wie
einfalls- und abwechslungsreich diese Sammlung aus Stücken in d-Moll ist, die
alle über das gleiche Thema geschrieben sind. So wurde der Abend zu einem
Triumph der Bachschen Kompositionskunst.
Das Konzert wurde mitgeschnitten und man kann nur wünschen,
dass die geplante Veröffentlichung auf CD bald folgen möge.
Freitag, 25. Oktober 2019 in Salzburg, Campus der Rudolf Steiner-Schule, Dorothea Porsche Saal – Konzert „Kunst der Fuge“ ; Christoph Schlüren, Dirigent; Salzburg Chamber Soloists (Leitung: Lavard Skou-Larsen); Werke von Bach, Schwarz-Schilling, Schumann und Aho
Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge – Contrapunctus I – XI; Finale, Quadrupelfuge, unvollendet; Choral, Vor Deinen Thron trete ich hiermit; Spiegelungen I und II a 4; Robert Schumann (1810-1856) Orgelfuge g-Moll über BACH Op.60/3 a 4 2019 transkribiert von Dan Turcanu; Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985) Studie über BACH a 3; Finale Quadrupelfuge, 2012 vollendet von Kalevi Aho (geb.1949)
Er ist und bleibt das A&O der
Musik, Johann Sebastian Bach. Das ist die ganz einfache (?) Feststellung nach
dem gestrigen Konzert im Dorothea Porsche Saal im Salzburger Odeion.
Nach einer Einführung mit dem Dirigenten des Abends, Christoph Schlüren, begann um 19 Uhr mit dem Contrapunctus 1 ein Abend der überwältigenden Musik. Die Salzburger Chamber Soloists mit ihrem Konzertmeister Lavard Skou-Larsen musizierten unter der Leitung des Münchener Dirigenten Christoph Schlüren ein intensives Programm mit ausgewählten Stücken aus dem letzten Meisterwerk Bachs, der „Kunst der Fuge“. Und was für eine Kunst sich da entfaltetete! Immer neue und unvermutete Aspekte des Eingangs-Themas wurden aufgeblättert und im Entstehen aus der Taufe gehoben. Geleitet vom gelassenen und dennoch energischen Dirigieren wurde dieser Riesen-Kosmos aus Klängen, Rhythmen, Harmonien und Stimmführungen von den mit intensivstem geistig-seelisch-musikalisch spielenden Musikerinnen und Musikern zum hörgewaltigen Erleben. Was waren in den vertracktesten Kombinationen, den ausgefeiltesten Zusammenklängen, den kraftvollsten Durchdringungen der einzelnen Stimmen für Offenbarungen vor unsere Ohren, Augen und Herzen gestellt.
Alle 11 Contapuncti – jeder
einzelne eine eigene Welt – offenbarten nicht nur die unglaubliche und immer
wieder aufs Neue faszinierende Meisterschaft des „Alten Bach“, sie gaben im
zweiten Teil auch den Nährboden für zwei Kompositionen von Robert Schumann und Reinhard
Schwarz-Schilling und regten eben auch den finnischen Komponisten Kalevi Aho
2012 zu der Vollendung der letzten Fuge
an. Welche Steigerung auch oder gerade heute möglich ist, zeigte dieser
Komponist und mit ihm die auf allerhöchstem Niveau Spielenden. Die schier bis zu
einer unmöglich scheinenden Ausbreitung der Kontrapunktik und der musikalischen
Energie ließ einen denkwürdigen Abend ausklingen, der sicher zum allertiefsten
gehört, was ich bisher in meinem Leben erleben durfte.
Artis Gitarrenduo (Julia und Christian Zielinski); Musik von Georg Friedrich Händel (1685-1759), Francois Couperin (1668-1733), Sylvius Leopold Weiss (1687-1750), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Antonio Vivaldi (1678-1741)
Naxos 8551420; EAN: 73009914203
Seit dem internationalen
Aufstieg des Naxos-Labels haben Gitarren-CDs schon immer eine große Rolle im
Repertoire gespielt. Mal gelungener, mal misslungener, denn bei der klassischen
Gitarre scheiden sich die Geister. Seit Julian Bream dieses Instrument zu einem
vollwertigen „Musik-Vermittler“ gemacht hat, ist es ein Liebling für alle und
jeden geworden, sei es in der Klassik, sei es im Jazz oder in der Pop-Musik.
Was der klassischen Gitarre nicht immer gut bekommen ist, wie man an vielen CDs
sehen resp. hören kann. Denn was bei der Geige oder mehr noch bei der Flöte
selbstverständlich ist, nämlich die mitvollziehbare Gestaltung der Melodie, ist
bei der Gitarre für viele Spielerinnen und Spieler unerreichbar, weil äusserst
schwierig zu verwirklichen, was einerseits in der leichten Handhabung und
andererseits in der absolut schwierigen Verfügbarkeit wurzelt.
Soweit erst einmal die
Vorrede…!
Nun ist bei Naxos eine CD
erschienen, die all’ diese Schwierigkeiten sich in Luft bzw. eben in Musik
auflösen lässt. Was Julia und Christian Zielinski da nämlich mit ihren zwei
Gitarren erleben lassen, habe ich seit dem berühmten Duo Julian Bream/John
Williams nicht mehr gehört: Musik vom Feinsten, gespielt mit allem, was dazu
gehört. Vom ersten bis zum letzten Ton ein hinreißender, dergestalt auch selten
gehörter wunderbarer Klang, wie ihn eben nur zwei – nicht eine – Gitarren
zusammen hervorbringen können. Dazu eine Agogik, die den Melodien und ihren
Harmonien alle Freiräume geben, die gerade die Barockmusik so nötig hat, soll
sie nicht nähmaschinenhaft – wie so oft – abschnurren. Dass die beiden auf
ihren Gitarren wirklich „singen“, was bei ach so vielen „Klassikern“ leider nie
zu hören ist, hebt diese Scheibe aus dem globalen Gitarrenpool himmelhoch
heraus.
Besonders gelungen sind
dabei die Stücke, wo die beiden ihre ganze Innigkeit ausspielen, also die
langsamen Sätze, die oft berückend schön und berührend geraten. Kommt dann die
Geschwindigkeit ins Spiel, zeigen sie
natürlich ebenso ihre stupende Virtuosität. Allerdings ist das dann eben auch
der Punkt, der mich als einziger stört: Dann geht darüber die strukturelle und
musikalische Feinheit ein wenig den Bach runter. Nicht unzutreffend sagte einst
ein Gitarrist, dem immer wieder dieser Satz eines Kritikers einfiel: „Die
Gitarristen mögen sich doch bitte nicht so anstrengen, ein Maschinengewehr ist
doch immer noch viel, viel schneller!“
Fazit: Endlich mal wieder
eine Gitarren-CD, die Musik in sich hat. (Was man von der zeitgleich
erschienenen Naxos-CD „ Beethoven on Guitar“ übrigens nicht sagen kann!)
Tetiana Muchychka, Akkordeon – kunstsignal im Alten Bahnhof Mönchengladbach Rheydt-Geneicken
Eine Konzertreihe für die begabte
musikalische Jugend braucht attraktive, geeignete Spielstätten. Ideale
Aufführungsbedingungen für die renommierte Kammermusik-Reihe „Best of NRW“
sieht die Werner Richard – Dr. Carl Dörken-Stiftung in einem ehemaligen
Bahnhofsgebäude im Mönchengladbacher Stadtteil Rheydt-Geneicken verwirklicht.
Unter den Etikett „kunstsignal“ verbinden sich hier fortan Ereignisse der Musik
mit der bildenden Kunst. Jens Gunnar Becker, der als Künstleragent die Reihe
betreut, äußerte sich hellauf begeistert vom Ambiente im ehemaligen Wartesaal. Und
von dem fühlte sich die ukrainische Akkordeonvirtuosin Tetjana Muchychka bei
ihrem spektakulären Solo-Recital spürbar inspiriert!
Tetiana Muchychka, die zurzeit an der Essener Folkwang-Hochschule studiert, weiß, was sie auf ihrem Akkordeon kann und was nicht. Was zum Beispiel geht: Ohne weiteres sich fast die gesamte Klavierliteratur eins zu eins auf die Möglichkeiten des Akkordeons übertragen. Wo es Einschränkungen gibt? „Chopin kann ich gleich vergessen, denn diese Musik beruht vor allem auf Klangeffekten im Pedal und dafür gibt es auf dem Akkordeon keine Möglichkeiten.“
Was stattdessen alles geht, welche
Steigerungen der Ausdruckskraft, welch neue Sichtweisen und vor allem, was für
ungeahnte Energien scheinbar bekanntem Repertoire abgerungen werden können, das
demonstrierte Tetiana Muchychka dann aufs eindrücklichste. Vor allem: Wie diese
junge zierliche Musikerin die ganze dynamische Kraft entfaltet, das ist nicht
nur eitler Selbstzweck, sondern hat bei ihr viel mit musikalischer Wahrheitssuche
zu tun.
Alles, was wuchtig aufbrandet, was
in opulenter Klangpracht den Raum anfüllt, steht im Dienst einer darstellerisch
plausiblen Diktion. Da darf auch eine Portion jugendlicher Wagemut nicht
fehlen! Bachs „Französische Suite Nr. 3 h-Moll“ mutet zunächt noch wie
vertrautes Terrain an, wenn deren polyphone Tonarchitektur durch die atmende
Dynamik des Akkordeons sehr orgel-artig daher kommt. Zugleich bringt die junge
Interpretin mit frappierender Fingerfertigkeit die tänzerischen Passagen in leichtfüßigen
Schwung. Die herrlich offene Akustik in diesem ehemaligen Bahnhofs-Wartesaal
bringt ohnehin jedes Detail zum Leuchten. Mozarts f-Moll-Klaviersonate geht
dann so richtig in die Vollen, wenn es um pointierte Darstellungslust geht.
Zwar mag mancher hier die Mozartsche Schlankheit vermissen. Stattdessen erobert
umso mehr eine starke, oft stürmische, Emotionalität den Raum und das Publikum.
Denn Mozart will alles sein, nur keine Wellness-Oase.
In einfachen, charmanten Worten
macht Tetiana Muchychka immer wieder ihren persönlichen Bezug verständlich, um
damit ihrem Publikum einen Leitfaden zum verstehenden Hören an die Hand zu
geben.
„Man
kann sich zwei kleine Kinder vorstellen, die spielen und Spaß haben“, sagt sie
zur Einleitung zweier Scarlatti-Sonaten. Die spielerische Einlösung folgt auf
den Punkt, wenn sie in den Stücken die beiden Stimmungscharaktere leichtfüßig
heraus kehrt.
Das
konzertante Akkordeon ist ein Instrument, das sich frei von zu viel
erdrückendem Konventions- und Traditionsballast fühlen darf. Diese Einsicht
scheint Tetiana Muchychka mit ihrer jugendfrischen-spontanen Spiellust wörtlich
zu nehmen, vor allem bei den moderneren Stücken des Abends. Aufrührerisch
anmutende chromatische Skalen pulsieren in Wolfgangs Jacobis Scherzo aus dem
Divertissement pour Akkordeon. Sergej Voitenkos melancholisch-cineastische
„Offenbarung“ wirkt wie eine geschmeidige Überleitung zur Leidenschaft des
Tangos – keine Frage, dass Tetiana Muchychkas schonungsloser dymanischer
Zugriff auch in der aufwühlenden Emotionalität von Frank Angelis Konzertetüde
über ein Thema von Astor Piazolla keine Wünsche offen lässt.
Fazit des Abends: Hier ließ sich eine junge Künstlerin auf die spezifischen Schwingungen an diesem exklusiv anmutenden Ort ein. Hinzu kommt, dass ein aufgeschlossenes Publikum die Aufbruchsstimmung der Programm-Macher dieser neuen Spielstätte spürbar teilt.
Wenngleich der
Widmungsträger dieser CD mit nur einem kleinen Stück im Programm enthalten ist,
so dreht sich der Geist dieser Aufnahme doch vollständig um ihn. Die Rede ist
vom legendären Cellisten Pau, oder Pablo, Casals, dessen „Cant dels Ocells“ die
Hommage-CD beschließt. Davor zu hören sind zwei improvisatorische Préludes des
ausführenden Cellisten Yorick-Alexander Abel, „Lampes de Sagesse“ (2000) und
„Sagesse Amérindienne“ (2010), die er je Pau Casals gewidmet hat, Johann
Sebastian Bachs Suite in G-Dur BWV 1007, Enric Casals Suite Per Violoncel Sol
„A Pau Casals“ und Paduana von Arthur Honegger.
Dass die Cello-Suiten Bachs heute den ihnen zustehenden
Stellenwert in der Literatur für das Instrument besitzen, ist in erster Linie
Pau Casals zu verdanken (den man hauptsächlich unter seinem spanischen Namen
Pablo kennt). Dessen zutiefst empfundene und der Musik gänzlich alles
entlockende Aufführungen und Aufnahmen dieser Suiten führten zu einem
regelrechten Boom unter den Cellisten, der bis heute anhält. So kann eine
dieser Suiten auf dem Programm Yorick-Alexander Abels nicht fehlen. Abel
umrundet die Suite mit zwei eigenen Kompositionen/Improvisationen, den Préludes
„Lampes de Sagesse“ und „Sagesse Amérindienne“, von welchem vor allem das
zweite die natürlichen Schwingungen des Cellos auskostet und tief in den Nachhall
hineinlauscht. Das erste der Préludes hat einen orientalischen Touch, setzt
diesen aber auf westliche Weise um. Beide Stücke besitzen eine tief meditative
Aura, der bestärkende Kräfte innewohnen. Als Pau Casals im Jahr 1973 verstarb,
widmete ihm sein jüngerer Bruder Enric (selbst bereits über 80) eine
viersätzige Suite für Cello solo. Prélude und Elegía stehen im Zeichen der
Trauer, öffnen melancholische wie elegische Welten erhabener Schönheit.
Durchbrochen werden diese durch die ruppige Fassungslosigkeit des Scherzandos,
das beinahe dämonische Kräfte freisetzt. Das Finale setzt dort an, wo das
Scherzando aufhörte, kehrt aber nach und nach in die Resignation zurück. Im
Programm folgt Honeggers Pavane-artige Paduana, ein zutiefst erhabener und
tröstender Satz, der eine nie realisierte Suite einleiten sollte, in diesem
Kontext aber Enric Casals Suite um einen hoffnungsvollen Nachsatz bereichert.
Eines der meistgespielten Stücke für Cello stellt Pau Casals „Cant dels Ocells“
mit seinen bildlichen Vogelrufen zu Beginn und den nachfolgend hinreißenden
Kantilenen dar.
Durch allumfassende Innigkeit und Echtheit besticht das
Spiel von Yorick-Alexander Abel, seine musikalisch ehrliche und durchweg
natürliche Weise spricht den Hörer unmittelbar an und zieht ihn in den Bann der
Töne. Abel vermittelt die Musik und versetzt sein Publikum in die meditativen
Sphären, die er mit seinem Spiel verströmt. Jeder Ton ist erspürt, die
Beziehungen erlebt und die Struktur verstanden – dies verleiht der Musik eine
unentrinnbare und transzendierende Kraft. Die Ruhe behält Yorick-Alexander Abel
selbst in den aufbrausenden Sätzen von Enric Casals Suite, die dadurch nur noch
gewaltiger erscheinen; die elegischen Sätze erhalten durch sie eine
mitempfundene Trauer, die nie verjährt. Die Cellosuite Bachs bleibt so zeitlos
wie eh und je, noch immer aktuell in ihrer Aussage. Abel bringt die gesamte
vielstimmige Textur zum Vorschein, verbindet die einzelnen Phrasen gekonnt und
zaubert all die harmonische Feinheiten an die Oberfläche der Wahrnehmung.
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 508; EAN: 4 260052 385081
Auf zwei CDs hören wir
Aufnahmen mit Boris Bloch von Klaviermusik Johann Sebastian Bachs, die
Entstehung dieser erstreckt sich dabei über 15 Jahre. Wir hören die Toccata
D-Dur BWV 912, Präludien und Fugen BWV 846, 847, 850, 851, 854, 855, 859 und
884, die ersten zwei Partiten, die IV französische Suite, die Fantasie c-Moll
BWV 906 und die Concerti BWV 972 (nach Vivaldi), 974 (nach Marcello) sowie das
italienische Konzert F-Dur BWV 971.
Kaum ein Komponist hat ein stilistisch derartig vielseitiges
Repertoire an Clavier-Musik geschrieben wie Johann Sebastian Bach. Allein bei
einem Durchspielen des Wohltemperierten Klaviers wünschte ich mit Flügel,
Hammerklavier, Cambalo, Clavichord und Orgel – oder gar Instrumente, die noch
gar nicht erfunden wurden und die es ermöglichen, Streichertechniken wie
Crescendo auf einem Ton oder Vibrato zu ermöglichen. Deshalb bin ich sehr froh
darum, dass es abgesehen einiger puristischer Barockkreise mittlerweile Usus
geworden ist, Bach auch auf modernen Instrumenten darzubieten, welche klanglich
mehr differenzieren können als die Historischen und diese doch teils zu
imitieren vermögen. Mittlerweile fand man übrigens sogar Belege, dass Bach
nicht nur einen, sondern gleich mehrere Hammerklaviere besaß und diese oftmals
im Konzert spielte. Besonders in den Partiten und den Konzerten profitiert
Boris Bloch von den Vorzügen des modernen Flügels und holt orchestralen Klang auf
das Tasteninstrument. ARS Produktion Schumacher entdeckte den Pianisten und
gibt nun die bereits achte Aufnahme seit 2011 mit ihm heraus, in welcher er
sich je einem Komponisten verschreibt.
Bei Bach sieht Boris Bloch vor allem die menschliche und
nicht die rein mechanisch-flächige Seite, nimmt sich gewisse Freiheiten in der
Musik und gibt ihr so plastische und organische Gestalt. Dabei kann er vor
allem den Partiten ein hinreißendes Sentiment entlocken, das innerlich ergreift,
ohne zu schwelgen. Die Sinfonia der zweiten Partita sticht durch ihre
stringente Formgestaltung besonders heraus, so auch das e-Moll-Präludium. In
den Präludien und Fugen bin ich nicht immer mit der Tempogestaltung
einverstanden, wenngleich dies bei Bach natürlich immer eine Diskussion für sich
darstellt: Beim D-Dur-Präludium fehlt mir das erhöhende Gefühl, welches nur
durch moderates Tempo erreichbar wäre (phänomenal dafür die Bässe, die wie ein
gezupfter Kontrabass klingen), die d-Moll-Fuge wirkt hingegen zu geschwind, um
all die harmonischen Finessen erkennen zu lassen, die bereits einen
Vorgeschmack auf die Kunst der Fuge geben – die karge Struktur sollte
unterstrichen und nicht umgangen werden. Zudem stören mich manche
Schlussritardandi, die sich über mehrere Takte erstrecken: Selbst Bachs
Schlussgestaltung geht über die Konventionen seiner Zeit hinaus und so sollte
jeder für sich stehen und nicht einer Gewohnheit folgen; und viele der Schlüsse
verlangen geradezu nach einer direkten Zielführung. Südliche Leichtigkeit
erreicht Bloch in den drei Concerti der zweiten CD, wobei lediglich der
Mittelsatz des italischischen Konzerts in der linken Hand die gespenstische
Lebensferne vermissen lässt. Das rauschende Finale macht dies schnell
vergessen. Augenmerk legt Bloch auch in den strukturell leichteren Stücken auf
die Mehrstimmigkeit und holt verschiedene Stimmakzente wohldosiert an die
Oberfläche, lässt die einzelnen Linien miteinander agieren und zusammenwirken.
In den Fugen hören wir stets alle Stimmen durch, Bloch behält dabei den
Charakter des jeweiligen Themas bei und führt ihn das gesamte Stück durch.
Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen. Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.
Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo
etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine
dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir
Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg
zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs
Klavierkonzert.
Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste
Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte
Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das
imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten
Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal
errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und
wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für
Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen
Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten
bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik
verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es
den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste
Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den
Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im
vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert
hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat
meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr
zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und
selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das
B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone
Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem
Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und
Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte –
schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten.
Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik,
hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt
dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose
harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio
überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.
Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor. Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!
Troldhaugen Villa (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)
Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.
Griegs Steinway & Sons aus dem Jahr 1892 (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)
Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.
In SIljustøl (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)
Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.
Das Komponierzimmer Harald Sæveruds (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)
Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für
diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs
80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich
bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola
und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren
die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von:
Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute
erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev.
1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex
für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai
Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das
Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen,
Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke
Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und
wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden,
gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage
zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall,
indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies
sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für
ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil
sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen
seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese
immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer
Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und
eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete
sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds
Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er
regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt
beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches
Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten
Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher
Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist
laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik
und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich
ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das
Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder
Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren
seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er
denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an
Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen
muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema
als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine
Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich
anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt
des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als
Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider
zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst
reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen
Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen
muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie;
oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er
sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem
Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und
fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim
Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück
unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal
wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein,
bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich
darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird;
er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben
steht.
Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem
Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat
ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er,
während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel
Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt
und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier
bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal
auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der
dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht
entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt.
Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper
Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die
zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit
zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen
Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er
sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar
unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen.
Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die
Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten
Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen
mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen
Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von
denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes
Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf
die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten
die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir
das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem
Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch
heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es
musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der
Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren,
dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie
meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt.
Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und
beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich,
teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es
klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben,
den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie
Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und
Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig
abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh
und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich
jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar
eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die
beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo
Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und
setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu
vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für
ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem
Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um
das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen
Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden
Musikern, die so präzise hörten und interagierten.
Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch
zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten
Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit
von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen
Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt
wurden.