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Einer der ganz großen Dirigenten – Jiří Bĕlohlávek und die BR-Symphoniker in tschechischen Gefilden

Warum eigentlich so selten, und warum immer mit tschechischem Programm? Nach sechs Jahren gastierte Jiří Bĕlohlávek, der Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, erstmals wieder am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München. Natürlich gibt es heute keinen, der wie er die Werke von Dvořák, Janáček oder Martinů meisterhaft einzustudieren vermag (nicht einmal sein einstiger Schüler Jakub Hrůsa, der neue Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, ist ihm hier ebenbürtig, aber er hat ja auch noch einige Jahre Zeit…), doch Bĕlohlávek ist heute ein so überragender Musiker, dass es mehr als bedauerlich und de facto ein Fehler ist, ihn international als Spezialisten zu konsultieren, wie dies auch seine Plattenfirma Decca sehr erfolgreich tut. Denn er ist nicht weniger großartig als Dirigent der Klassiker Mozart, Beethoven oder Schubert, und im romantischen Repertoire kennen wir ihn hier bis auf ein bisschen Mendelssohn, Brahms und Tschaikowsky überhaupt nicht. Dort er mutmaßlich ebenso Wesentliches zu sagen. Also gebt ihm doch zumindest nächstes Mal eine Mozart- oder Beethoven-Symphonie, dass er das kein wie kaum ein anderer, hat er vor allem beim Aufbau der Prager Philharmonie schlagend bewiesen.

Der Abend in der Münchner Philharmonie am Gasteig beginnt mit einem chorischen Arrangement der 2. Serenade für 2 Geigen und Bratsche von Bohuslav Martinů, einer für den Komponisten typischen, zwischen geistreichem Klassizismus und innig böhmischem Musikantentum angesiedelten kurzen Dreisätzer der dreißiger Jahre. Nach sieben Minuten ist das grazile Vergnügen vorbei, und da bleibt keine Zeit für ein Warm up der Ohren. Bĕlohlávek hat sich äußerlich verändert, ist von schwerer Krankheit gezeichnet, die zu überleben wir nicht nur ihm, sondern ganz dringend auch der ganzen Musikwelt wünschen müssen! Fein, zart, durchscheinend, mit unbestechlichem Sinn für die kontrastierenden Charaktere, absoluter Liebe und Meisterschaft in den Details, und absolut ohne jede Pose. Dieser Mann dient in seinem ganzen Wirken ausschließlich der Musik und hat in der völligen Hingabe keinen Platz für Selbstdarstellung – um den Preis, nicht zu den modischen Superstars zu gehören, denen er als Musiker ohnehin überlegen ist. Zugleich ist auch eine Veränderung in seinem Musizieren zu spüren – mit zunehmender Reifung ist das nicht zu erfassen, es hat sicher mit dem Leiden und der Krankheit zu tun, dass Bĕlohláveks Musizieren eine Gelöstheit und Luzidität vermittelt, die jenseits des geschäftigen Betriebs steht. Hier steht ein Mann, der niemandem mehr etwas beweisen will und muss, der ganz im kreativen Akt aufgeht, dessen Führung bei aller Sicherheit und Klarheit mit einer heroischen Fragilität und filigranen Natürlichkeit einnimmt, wie sie nur bei den ganz Großen zu finden sind.

Es folgt eine 1999 von Jaroslav Smolka zusammengestellte, sechssätzig umfangreiche Suite aus Leoš Janáčeks skurriler Oper ‚Die Ausflüge des Herrn Brouček’. Ein wirkliches Korrelieren zu geschlossener Ganzheit ist hier nicht möglich, da die ausgewählten Passagen nun doch zu episodisch aufeinanderfolgen. Freilich ist insbesondere der vorletzte Satz, der unter Attacken sich vorwärtsbewegende Hussiten-Choral, von herrlicher Wirkung. Und das Orchester spielt unter Bĕlohlávek großartig, mit höchster Durchsichtigkeit auch in komplexeren Fortissimo-Bereichen und dort, wo die Orchestration nicht optimal angelegt ist, um alles deutlich hervorzubringen, werden immer wieder echte Wunder vollbracht. Auch hier hat jede Einzelheit ein klares Gesicht, der Tonfall ist erstaunlich idiomatisch getroffen. Besser dürfte das unter den gegebenen Umständen nicht zu machen sein!

Nach der Pause singt Magdalena Kožená die Biblischen Lieder von Antonín Dvořák. Leider hat sie für diese zehn herrlich schlichten Lieder eine exklusiv für sie angefertigte Instrumentation mitgebracht, und man frag sich nun wirklich, was das soll. Warum spielen hier Klarinetten statt Geigen, und dort Geigen statt Flöten, und warum werden immer wieder auch konkret Töne geändert? Das alles ist zwar keine Katastrophe, aber auf jeden Fall das Gegenteil einer Verbesserung, und ich verstehe nicht so recht, warum man heute noch so etwas macht. Sicher singt sie wunderbar, sie hat einfach eine hinreißende Stimme. Ich finde aber auch, dass sie die Musik dramatischer auffasst als dem Gehalt angemessen, eher Richtung Wagner’schen Dramas als biblischer Würde. Der Erfolg beim Publikum ist freilich groß, und dass der volkstümlich sakrale Charakter der Lieder sich nicht wirklich einstellen kann, merkt dann doch nur, wer die Musik kennt oder eine klare Vorstellung davon hat. Und das ist fast niemand. Es ist auch nicht ganz einfach, Magdalena Koženás subtilen agogischen Eigenwilligkeiten zu folgen, doch hier beweits Bĕlohlávek eine souverän ruhige und reaktionsschnelle Hand. Und singen kann sie ja nun doch fraglos auf herausragendem Niveau.

Zum Schluss der grandiose Höhepunkt des Konzerts: Leoš Janáčeks dreisätzige tragische symphonische Dichtung ‚Taras Bulba’ nach Gogol. Es ist atemberaubend, wie sich selbst im dichtesten eruptiv aufgipfelnden Geflecht immer die entscheidenden Stimmen durchsetzen können, und ebenso frappierend ist, wie es Bĕlohlávek gelingt, mit klarer Vorstellung die extremen Kontraste zu sinnfällig sich entfaltendem Zusammenhang zu bündeln. Das Orchester beweist wieder einmal seine ganz große Klasse, die Aufführung wird zu einem Triumph der Musik, wie er ganz selten zu erleben ist. Schade nur, dass sich das Publikum in München für tschechische Musik des 20. Jahrhunderts nur bedingt zu interessieren scheint, der Saal also mit vielen Lücken glänzte. Dem Dirigenten lag freilich am Schluss nicht nur das Orchester, sondern auch das Publikum zu Füßen. Seit Václav Talich hat Tschechien keinen solch umfassenden Meisterdirigenten hervorgebracht. Seinen einstigen Lehrmeistern Josef Vlách und Sergiu Celibidache macht Jiří Bĕlohlávek alle Ehre. Und so überwältigend kann Leoš Janáček sein.

[Christoph Schlüren, April 2017]

Ein Heimspiel

EuroArts; Unitel Classica; DVD 2072758; ISBN: 8 80242 72758 9

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Im Prager Smetanasaal des Gemeindehauses dirigiert Jiří Bělohlávek die Tschechische Philharmonie im Rahmen des traditionsreichen Prager Frühlings mit dem wohl bekanntesten Werk des Namenpatrons Bedřich Smetana: Má Vlast, Mein Vaterland. Aufgenommen wurde das Eröffnungskonzerts des Festivals von 2014 unter der Leitung des Videodirektors Tomáš Šimerda.

Die tschechische Musikszene wird hierzulande nach wie vor recht marginal wahrgenommen, lediglich die Namen Bedřich Smetana, Antonin Dvořak, Leoš Janáček und vielleicht noch Josef Suk und Bohuslav Martinů, Ervin Schulhoff sowie ganz am Rande Zdeněk Fibich sind international ein Begriff. Während Dvořak immerhin mit seinen späten Symphonien sieben bis neun und dem Cellokonzert omnipräsent ist und von Janáček gelegentlich einmal eine Oper oder ein Kammermusikwerk aufgeführt wird, haben es die anderen Komponisten nach wie vor recht schwer, sich außerhalb Böhmens durchzusetzen. Smetana konnte nur zwei Orchesterwerke beitragen, die heute immer und immer wieder von sämtlichen Orchestern dieser Welt präsentiert werden und zu Dauerrennern avancierten: Vltava, zu deutsch die Moldau, sowie die Ouvertüre zur Oper ‚Die verkaufte Braut’. Vernachlässigt hingegen sind die fünf anderen Stücke des circa 75-minütigen Zyklus ‚Ma Vlást’, dessen zweite Nummer die Moldau ist, und die einen nicht minder wertvollen Beitrag zur tscheschischen Nationalromantik bilden als diese: Die epochale Burg Vyšehrad, die männerhassende Rebellin Šárka, das Naturschauspiel ‚Aus Böhmens Hain und Flur’ (Z českých luhů a hájů) sowie das Hussitenlager Tábor und der Hussiten letzter Rückzugsort Blaník sind die Besungenen, die so zentral sind für Smetanas tönende Verherrlichung seines Vaterlandes.

Es ist offenkundig, dass Jiří Bělohlávek und die Tschechische Philharmonie hier ein absolutes Heimspiel haben, jedes Stück ist bis ins Kleinste genauestens bekannt und sämtliche Charaktere sind minutiös idiomatisch erfasst. Von der zartesten Kantilene bis zum überwältigendsten Brausen, vom Naturlaut bis zum geschwinden Bauerntanz kann der Dirigent dem Orchester jede Nuance in Vollendung entlocken. Zu nennen ist hier beispielsweise der trübe Klarinettengesang vor dem finalen Aufruhr in Šárka, bei welchem durch die tremolierenden Streicher eine derartig gewaltige Spannung aufgebaut wird, dass sich der Hörer kaum auf dem Stuhl halten kann. Der Orchesterklang ist dabei durchgehend sehr durchsichtig und klar, auch in polyphonen Passagen wie den die belebte Natur darstellenden Fugati und Fugenbruchstücken aus Z českých luhů a hájů bleibt jede Stimme deutlich und eigenständig. Das verleiht dem Musikerapparat etwas sehr Plastisches und Bewegliches, der Klang scheint alles andere als zweidimensional zu sein. Bělohlávek verzichtet trotz der Transparenz weder auf einen vollen Klang noch auf herbe Timbres, die auch das eine oder andere Mal dämonischer herüberklingen können. Der Klang wird freilich auch beeinflusst durch die interessante Aufstellung des Orchesters mit dem Schlagwerk von der Publikumsseite aus rechts vor den Posaunen und etwas seitlich der Trompeten sowie den sechs (!) Harfen hinten links neben den acht Kontrabässen, die hinter den Posaunen die letzte Reihe bilden. Somit erhalten die tiefen Instrumente von unten eine solide Klangbasis durch die Bässe, und den hohen Streicher wird der Rücken gestärkt durch die positionsbedingt gut hörbaren Harfen. Das Schlagwerk fällt von rechts überfallmäßig ein. Durch das visuelle Medium lässt sich bei dieser Aufnahme zudem etwas über das Dirigierverhalten von Jiří Bělohlávek sagen, was bei rein akustischer Dokumentation im Verborgenen bleiben würde. Die Bewegungen des Orchesterleiters sind größtenteils auf Brust- und Kopfhöhe, er vermeidet unnötig ausladende Gesten. Für die Musiker ist seine Führung sehr verständlich und offen, sie lädt zur aktiv kontrollierten Klanggestaltung ein und strukturiert die volle Bühne spielerisch.

Die DVD zeigt eine unglaubliche Vielfalt an Kameraperspektiven; Gesamt- und Teilaufnahmen der Musiker und des Dirigenten wechseln mit Kameraflügen über die Halle oder Ansichten von hinten oder gar von oben. Sogar die Triangel hat eine eigene Einstellung, wobei diese nicht so grell herausscheppert und das Klangbild dominiert wie in der mittlerweile wohl bekanntesten Aufnahme des ganzen Zyklus von Rafael Kubelik und den Wiener Philharmonikern aus dem Jahr 1959, wo dieses kleine Instrument durch die ungewohnte Präsenz eine außergewöhnliche und angenehme Klangfarbe beisteuern kann. Interessanterweise stören trotz so vieler Einstellungen zu keiner Zeit andere Kameras, die normalerweise in Filmproduktionen irgendwo klobig herumstehen oder durch den Raum geschoben werden. Meist sieht man nur bei ganz genauem Hinschauen die Videoaufnahmegeräte. Ruhig stehen die Kameras hier üblicherweise nicht, durch leichte Fahrten bleibt das Bild stetig im Fluss. Erstaunlich oft sind die Kamerafahrten und Schnitte sogar der Musik angepasst, an dramatischen Höhepunkten bewegen sich vielerorts die Kameras schneller und es werden außergewöhnlichere Positionen wie diejenige senkrecht von oben gewählt, außerdem gibt es dann mehr Schnitte. Auch die Audiowiedergabe ist auf einem durchwegs hohen Niveau und kann glaubhaft die Fülle an einzeln ausgearbeiteten Stimmen vermitteln.

Auch der äußere Eindruck der DVD ist sehr ansprechend mit dem stimmungsvollen Bild einer vernebelten Mooslandschaft und schlicht gehaltener Aufschrift. Das Booklet gibt auf Französisch, Deutsch und Englisch (nicht jedoch auf Tschechisch!) ausführlich Auskunft über Smetana, seinen Zyklus und die einzelnen Stücke, wodurch der Leser alles erfährt, um sich ein Bild zu machen über die Hintergründe der doch sehr programmgesteuerten Musik von Má Vlast. Über das Orchester lässt sich das Booklet allerdings nur auf Englisch aus, Informationen über den großartigen Dirigenten fehlen vollständig, was mehr als bedauerlich ist. Nichts desto Trotz liegt hier wohl eine der besten Musikfilmproduktionen dieses Jahres vor, die sowohl künstlerisch als auch akustisch und optisch wahrhaft hochkarätig ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]