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Kullervo ohne Zauber

Ondine, ODE 1338-5; EAN: 0 761195 133859

Hannu Lintu dirigiert das Finnish Radio Symphony Orchestra, den Estonian National Male Choir und den Polytech Choir mit Kullervo op. 7 des finnischen Komponisten Jean Sibelius. Die Solisten sind Johanna Rusanen und Ville Rusanen.

Die gut 70-minütige Symphonie ‚Kullervo‘ mit Männerchor und zwei Solisten gehört zu den Meilensteinen der finnischen Musik. Zwar beruft sich der Komponist Jean Sibelius dabei auf Anton Bruckner, was die Themen nicht leugnen, doch greift er in noch größerem Maße zurück auf den Stil finnischer Runensänger, deren Metrik er aufgreift, und entnimmt sein Sujet dem Volksepos Kalevala: Kullervo ist die wohl tragischste Figur daraus.

Lange Zeit wurde geglaubt, Sibelius habe sein Werk trotz des überwältigenden Erfolgs der Premiere (faszinierend besonders, da diese fast ausschließlich von Laien dargeboten wurde) und der darauffolgenden Welle an Aufführungen zurückgezogen. Mittlerweile stellte sich allerdings heraus, dass das Aufführungsmaterial schlicht im Schrank des Dirigenten Robert Kajanus landete und dort vergessen wurde – Kullervo wurde erst nach dem Tod von Sibelius wiederentdeckt und erneut aufgeführt.

Das formale Konzept ist einmalig: auf zwei rein orchestrale Sätze (Introduktion und Kullervos Jugend) folgt ein beinahe opernhafter Satz, „Kullervo und seine Schwester“ mit Männerchor und zwei Solisten, welche die Titelpersonen darstellen. Hiernach ertönt ein weiterer rein orchestraler Satz, in dem der Kriegszug Kullervos gegen seine Verwandtschaft beschrieben wird, bevor Chor und Orchester ohne die Solisten den Suizid des Protagonisten schildern.

Die packende Wucht dieses jugendlichen, aber keineswegs überschwänglichen Werks überwältigt von den ersten Tönen an und hält den Hörer bis zum dramatischen Finale gefangen. Besonders interessant gestaltet sich die Metrik: oft herrschen ungerade Takte wie eine 5/4-Struktur vor. Und die farbenreiche Orchestrierung des (wohlgemerkt) Erstlingswerks von Sibelius auf dem symphonischen Gebiet besticht durch Ihre Vielseitigkeit. Wenn der Chor einsetzt, zieht es einem förmlich den Boden unter den Füßen weg, was das Orchester unterstreicht.

Von all dem hören wir bedauernswerterweise wenig in der Darbietung mit Hannu Lintu. Sein Dirigat gibt sich mechanisch präzise, ohne dabei auf den Ausdruck der Musik einzugehen. Er bändigt das Orchester derart stark, dass keine Luft bleibt, jegliche Art von Wirkung entfalten zu lassen. So wird die Musik oft zu materiell und real, all der Zauber der Subtilität, des Schwebenden und des Überirdischen kommt gar nicht erst auf. Formal fehlen die Bezüge, die das Werk zusammenhalten, die Musik zerfasert in einzelne Momente. Packende Wirkungen entfalten ausschließlich einige Einsätze des großen Männerchors, die eine kernige Substanz besitzen, jedoch schnell in Gleichförmigkeit verschwimmen.

[Oliver Fraenzke, November 2019]