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Wie es sein sollte

Evidence Classics, EVCD059; EAN: 5 051083 143462

Nach seinem Debut-Album mit russischer Klaviermusik widmet sich der junge Pianist Jean-Paul Gasparian nun Frédéric Chopin. Er spielt die vier Balladen, darüber hinaus je zwei Nocturnes (opp. 48/1 und 27/2), zwei Walzer (E-Moll op. Post.; op. 34/3) und zwei Polonaisen, die ‚heroische‘ op. 53 und die Polonaise-Fantasie op. 61.

Bereits mit seiner ersten CD erweckte der französische Pianist Jean-Paul Gasparian meine Aufmerksamkeit; seine neue Chopin-Aufnahmen überzeugen mich nun vollkommen. Der Musik Chopins kann man sich nicht durch rein intellektuelles Verständnis nähern, auch nicht durch rein mechanisch-technische Fähigkeiten, sondern nur über Gespür, wendigen Geist und erst dann über Reflektion. Ein Mangel nur eines dieser drei Aspekte wirkt sich verheerend auf die gesamte Struktur aus. Die Balladen insbesondere bergen einen derart reichen Fundus an Details und spiegeln jede für sich derart viel Individualität, dass wohl jeder andere Vorstellungen von ihnen erhält und sie anders umsetzt – was eine große Bandbreite an verschiedenen Darbietungen mit sich bringt: aber für den Hörer mit seinen eigenen Vorstellungen von den Werken auch nie eine Aufnahme genau treffen lässt. Die Balladen Chopins gehören (neben der Ballade von Grieg) zu den ganz wenigen Werken, die nie vollkommen meinen Vorstellungen entsprechen, wenn ich sie höre; immer stören mich Kleinigkeiten, die ich anders umzusetzen wünsche oder sie vernachlässigt fühle.

Die hier zu hörenden Aufnahmen von Jean-Paul Gasparian treffen meine Vorstellungen zu den Balladen bislang am besten. All das bringt Gasparian hervor, was andere Darbietungen vermissen lassen: Dies beginnt schon in der improvisatorischen Einleitung der g-Moll-Ballade und der unverschleierten Dissonanz in Takt 7, setzt sich fort in der Hervorhebung wichtiger Bassstimmen (z.B. T. 22f und 35 mit Rückbezug auf T.7) – so zieht sich das durch alle vier Gattungsbeiträge. Dabei spielt Gasparian sinnlich und lyrisch, bleibt auch ohne übermäßige Rubati frei in seiner Agogik und spürt die Gesanglichkeit der Linien auf. In der zweiten Ballade hütet er sich davor, die Tempo-Kontraste überzustrapazieren und nimmt das Andantino recht zügig, in der dritten hält er auch den vertrackten cis-Moll-Abschnitt unter seiner Kontrolle, ohne das Tempo aufzugeben, in der vierten behält er den Blick auch auf den kleinen gegenläufigen Stimmen. In den virtuosen Passagen mit thematischem Material in der Unterstimme, in der meist nur die Läufe zu hören sind, dreht Gasparian den Spieß um und präsentiert fast ausschließlich die Unterstimme, worüber hinweg die Läufe beinahe verschwinden. Vielleicht übertreibt er dies ein wenig – wobei das das einzige Detail ist, welches mich stört.

Die enorm hohe Qualität hält der französische Pianist auch in den restlichen Stücken der CD. Die beiden ausgesuchten Walzer gehören zu den spielfreudigen und geben den beiden schwermütigen Nocturnes eine lichte Unterbrechung – programmatisch gut verteilt. Zum Abschluss die auftrumphende As-Dur-Polonaise op. 53, die Gasparians brillante Akkordabstimmung ins Licht rückt, und die gegensätzliche As-Dur-Polonaise op. 61 (gleiche Tonart, diametrale Wirkung!), in welche er seine lyrische Seite zum Vorschein bringt, ganz unverträumt, nüchtern, aber doch involviert. Jean-Paul Gasparian zählt zweifelsohne zu den größten Entdeckungen der letzten Zeit.

[Oliver Fraenzke, Juni 2019]

Russische Klaviermusik

Evidence classics, EVCD048; EAN: 5 051083 124379

Der 1995 in Paris geborene Pianist Jean-Paul Gasparian präsentiert auf seiner zweiten CD Werke russischer Komponisten. Er spielt die Études-Tableaux op. 39 von Sergei Rachmaninoff, die zweite Klaviersonate op. 19 sowie Trois Études op. 65 von Alexander Scriabin und Sergei Prokofieffs zweite Klaviersonate d-Moll op. 14.

Zwar unterscheidet sich die Musik von Rachmaninoff, Scriabin und Prokofiev grundsätzlich in ihrer Intention und ihrer Wirkung, doch sie warten mit ähnlichen Gefahren für den ausführenden Musiker auf. Alle drei Komponisten sind recht dankbar für den Pianisten, was bedeutet, dass sie bei der Darbietung kaum so sehr verstümmelt werden können, dass ihre überbordende Wirkung komplett verloren ginge. Doch eben dadurch geben sie sich dem Pianisten gegenüber auch undankbar, denn genau auf dem schmalen Grad zwischen Effekt und tatsächlichem musikalischen Inhalt trennen sich die rein technikaffinen Musiker von denen, die weiter- und der Musik auf den Grund gehen.

Gasparians Spiel zeichnet sich durch eine Frische und Lebendigkeit aus, die vielen älteren Kollegen fehlen oder die ihnen verlorenging. Obgleich er sich gerne auf gewisse Grundstimmungen verlässt, geht er auch mit der Musik mit und erkundet sich auftuende Änderungen der Atmosphäre; mit diesen platzt er nicht sogleich heraus, sondern bringt sie dem Hörer allmählich und mitvollziehbar näher.

Rachmaninoff verleiht er eine angenehme Süßlichkeit, die dem persönlichen Weltschmerz des Komponisten schmeichelt, ohne ihn überzustrapazieren. Gasparian gelingt es, flächige Passagen oder Stücke in der schwebenden Spannung zu halten, so wie die zweite Rachmaninoff-Etüde, bei welcher der Pianist den Reiz aus der verschobenen Rhythmik zieht. Manche der heute so oft anzutreffenden „Pianistin-Krankheiten“ in Form von Manierismen zeigen sich bei Jean-Paul Gasparian nur in den kargeren Strukturen wie der 7. Und 9. Etüde aus dem Opus 39: Hier bemerkt der Hörer schnell, dass die Rubati stets mechanisiert gleich an den selben Stellen und Motiven auftauchen, und, dass das Tempo ohne erkennbaren Grund deutlich schwankt – selbiges im ersten Satz der Scriabin-Sonate, in welcher sich das Tempo zwischenzeitlich sogar in etwa verdoppelt! Abgesehen davon hält Gasparian die Sonate allerdings gut zusammen und trägt den Hörer auch über die schwierig zu realisierenden Generalpausen des Anfangs und die über lange Konturlosigkeit des zweiten Satzes hinweg. Scriabins drei Etüden op. 65 erforschen je ein bestimmtes Intervall: Die große Non, die große Sept und die reine Quint. Die dadurch entstehenden eigenwilligen Harmonien hebt Jean-Paul Gasparian hervor, wodurch es ihm sogar gelingt, in einer Art „Gewöhnungseffekt“ die Dissonanzen beinahe zu Konsonanzen werden zu lassen. (Gleiches versuchte Scriabin mit der kleinen Sept bereits in seinem frühen Präludium op. 11/2.) Besonders gelungen hören wir auf dieser Aufnahme die zweite Prokofiev-Sonate: Gasparian entsagt jeder Art von brachialen Akkordentladungen, gedroschenen Läufen oder Effekthascherei, er bleibt weich, durchlässig und verleiht auch diesem Komponisten eine angenehme dolce-Note – eine erfrischende Gegendarstellung zu den meisten Darbietungen des Werks, in der wir auch einmal eine ganz andere Seite von Prokofiev wahrnehmen, welche so oft verborgen bleibt.

[Oliver Fraenzke, April 2019]