Capriccio, C8060; EAN: 8 45221 08060 4
In historischen Aufnahmen dirigiert Alexander Vladigerov (1933-1999) das Symphonieorchester des Bulgarischen Nationalradios mit den fünf Klavierkonzerten seines Vaters Pancho Vladigerov (1899-1978). Solist des Konzerts Nr. 1 a-Moll op. 6 ist Teodor Moussev (geb. 1948), Krassimir Gatev (1944-2008) übernimmt den Solopart des Zweiten Konzerts c-Moll op. 22 (und spielt quasi als „Zugabe“ noch die Fünf Silhouetten für Klavier solo op. 66). Die Klavierkonzerte Nr. 3 b-Moll op. 31 und Nr. 4 G-Dur op. 48 werden von Ivan Drenikov (geb. 1945) dargeboten und beim Konzert Nr. 5 in D-Dur sitzt der Komponist selbst an den Tasten.
Nach und nach dringt der einstige Ruhm Pancho Vladigerovs wieder zu uns nach Zentraleuropa. In seinem Heimatland Bulgarien zählt er klar als legendärer Komponist, wobei es bezeichnend ist, dass er sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg dort durchschlagende Erfolge feiern durfte. Gelitten hat durch den Krieg allerdings seine Bekanntheit außerhalb Bulgariens; er zog sich bereits 1932 gänzlich aus Deutschland zurück und verlor so eine vorrangige Stellung, geriet in Vergessenheit. Stilistisch zeichnet sich die Musik Vladigerovs durch eine kontinuierliche Verwurzelung in der Tonalität aus, die bereichert wird durch nationales Kolorit und wirkungsstarke Akkorderweiterungen. Er entwickelte früh eine eigene Handschrift, die sich zwar vor allem an slawischen Idiomen orientiert, sich jedoch durch ihren oft überschwänglich tänzerischen Gestus und die sanftere Art ihrer Lyrik von ihnen abhebt. Während bei den Slawen eine Art des entpersonalisierten Weltschmerzes durchdringt, bezieht Vladigerov das Schmerzende seiner Musik auf das menschliche Individuum direkt, verleiht den Tönen so eine packend persönliche Note.
Es verwundert nicht, dass Vladigerov dem Klavier gleich fünf ausladende Konzerte widmete, war er schließlich selbst ein gefragter Virtuose: Er selbst hob alle seine Konzerte aus der Taufe. Geboren wurde er in Zürich, wuchs aber in Bulgarien auf; später siedelte er nach Berlin, wo er sich seit 1912 als Stipendiat aufhielt und eine glänzende Ausbildung unter anderem durch Paul Juon, später Friedrich Gernsheim und Georg Schumann genoss. Dort komponierte er 1917/1918 auch sein Erstes Klavierkonzert op. 6 in a-Moll, das ihm bei der Uraufführung in Sofia den Durchbruch bescherte. Seine Landsleute bejubelten die spürbar bulgarische Note in den Tönen, die in ein gewaltig dimensioniertes Werk eingebunden war. In diesen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war das Publikum schlicht bereit für diese Musik, die traditionsverbunden und doch modern tönte, die Altes mit Neuem verband und dazu orchestrale Mächte entfesselte, die an Leid und Schmerz des Krieges gemahnten. Der Erfolg dieses monumentalen Erstlings bleibt nachvollziehbar; im Bezug auf Vladigerovs spätere Konzerte fällt rückblickend jedoch auf, dass sich hier noch keine eindeutige Handschrift abzeichnete. Vladigerov hält sich an seine Idole, übernimmt viel von Rachmaninoff und Medtner, bedient sich im Finale deutlich bei den Konzerten und dem Totentanz von Franz Liszt. Klanglich überfrachtet er das Werk teils haltlos, erschlägt den Hörer mit Wucht und Brutalität. Dies wird gerade in der vorliegenden Aufnahme deutlich, in der Teodor Moussev am Klavier die Gewalt noch unterstreicht und besonders wild in die Tasten greift. Durch sparsamere Krafteinteilung hätte man dem Konzert sicherlich mehr entlocken und auch das ethnologische Element besser vermitteln können.
In den folgenden Jahren untermauerte sich Vladigerovs Ruf als Tonsetzer wie als Pianist, seit 1922 betreute ihn die Universal Edition und die Wiener Philharmoniker führten einige seiner Orchesterwerke auf. 1930 kehrte Vladigerov zum Klavierkonzert zurück, schrieb sein Zweites in c-Moll mit der Opuszahl 22. Der kompositorische Fortschritt bleibt unübersehbar: Stringenter konzipiert, einheitlicher ausgearbeitet und formal geschlossener als der Erstling belegt es ein gesteigertes Bewusstsein für Wirkung und Ökonomie, ohne dabei seinen mit dem a-Moll-Konzert betretenen Pfad zu verlassen. In Krassimir Gratev fand man einen geeigneten Pianisten für die Aufnahme, der eine enorme Anschlagsvielfalt präsentiert, den Kern der Musik erfasst sowie dem Hörer vermittelt. Er bringt subtile Sinnlichkeit in seinen Part hinein, die nicht nur im Mittelsatz entscheidenden Gewinn bringt.
1932 ging Vladigerov zurück nach Bulgarien, wohl in erster Linie aufgrund der allmählichen Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland. Er verfeinerte seinen Stil und setzte gerade mit dem Dritten Klavierkonzert b-Moll op. 31 (1937) einen Meilenstein. Dieses ist das wohl leichtfüßigste, luzideste der Konzerte und gleichzeitig das kürzeste: Hier beschränkte sich Vladigerov auf ein Minimum, um doch die volle Wirkung zu entfalten. Als Höhepunkt beschließt das b-Moll-Konzert die Trias der drei Mollkonzerte. Im kommenden Jahr wurde Vladigerov als Professor in Sofia berufen, wo ihn entsprechende Pflichten in Schach hielten – der dadurch entstehende Einschnitt wurde verstärkt durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs.
Siebzehn Jahre vergingen bis zum Vierten Konzert in G-Dur op. 48, das er 1953 komponierte. Das Dur wird zwar gerade im Kopfsatz in Frage gestellt und durch wilde Figuren herausgefordert, dennoch bleibt es vorherrschend und schafft einen gänzlich anderen Charakter, als er in den ersten drei Konzerten dominierte. Man könnte es freilich so deuten, als dass dies ein kleines „Opfer“ gegenüber dem neu gegründeten kommunistischen Regime war, doch würde ich mich davor hüten: schließlich verschaffte ihm allein sein legendärer Status beinahe gänzliche Immunität vor den Restriktionen der Regierung – davon abgesehen, dass seine Musik wohl auch so gut angekommen wäre aufgrund der Tonalitätsbasis und des Einbezugs nationaler Elemente. Das Dritte wie das Vierte Konzert spielt Ivan Drenikov, klar in seinen formalen Vorstellungen und präzise im Anschlag, der vielgestaltig daherkommt und zu keiner Zeit unnötig brutal wäre. Drenikovs Spiel besitzt Volumen und ein Gespür für Kontraste, Verständnis für die melodiösen Linien.
Sein letztes Klavierkonzert komponierte Pancho Vladigerov 1963 in der Tonart D-Dur und gab ihm die Opuszahl 58. Es ist das Strahlendste und Freundlichste aus dem Zyklus, das Dur-Gemüt wird zelebriert. Im Umfang knüpft der Komponist nun wieder an seinen Erstling an, doch gerade im direkten Vergleich fällt auf, wie unbeschwert er nun die Form erfüllen kann und wie elegant er innerhalb dessen überleitet, moduliert und thematisch vernetzt – kurz, welch eine Entwicklung sein Talent über fünf Konzerte und 54 Jahre vollzog. Seine Grundideen, tief verwurzelt in den klassisch-romantischen Traditionslinien, behielt er bei: Im Kopfsatz dürfen sich Orchester wie Solist kraftvoll virtuos präsentieren, Kontraste werden ausgekostet und Extrema ausgelotet. Der Mittelsatz lindert durch pure Lyrik, zarte Melancholie und Sentiment – wenngleich auch er oft Austragungsort für Konflikte ist, die zu regelrechten Eruptionen führen. Der Schlusssatz trumpft in tänzerischem Gestus auf, gerade hier werden die bulgarischen Elemente deutlich, und führt das Konzert zu einem beschwingten, versöhnlichen Ende.
In der Aufnahme des 5. Klavierkonzerts hören wir den Komponisten Pancho Vladigerov selbst am Klavier. Welch ein Erlebnis! Hier bestätigt sich Vladigerovs Ruf als einer der ausgezeichnetsten Musiker seiner Generation, ausgestattet mit einmaligen musikalischen Qualitäten. Bezeichnend für Vladigerovs Spiel ist die Kompaktheit seiner Akkorde, von denen jeder Ton eigenen Stellenwert erhält und mit den anderen Tönen des Griffs präzise abgewogen wird. Vladigerov verzichtet vollkommen auf Härte, verleiht dafür den Tönen Volumen und „kreist“ im Spiel, anstatt anzu“schlagen“: Mit dieser Eigenschaft beschrieb Franz Liszt seinen Kollegen Frédéric Chopin als den vorzüglichsten Pianisten jener Zeit. In der Linie denkt Vladigerov orchestral, diversifiziert so die Tongebung.
[Oliver Fraenzke, November 2020]