Am 20. März 2024 eröffnete die Österreichische Nationalbibliothek in Wien ihre Ausstellung Der fromme Revolutionär über Leben und Werk Anton Bruckners.
„Ich vermache die Originalmauscripte meiner nachbezeichneten Compositionen: der Symphonien, bisher acht an der Zahl – die 9te wird, so Gott will, bald vollendet werden, – der 3 großen Messen, des Quintettes, des Tedeum’s, des 150. Psalm’s und des Chorwerkes Helgoland – der kais. und kön. Hofbibliothek in Wien und ersuche die k. u. k. Direction der genannten Stelle, für die Aufbewahrung dieser Manuscripte gütigst Sorge zu tragen.“
Mit diesen Worten hatte Anton Bruckner in seinem Testament noch selbst den Grundstock zu einer Sammlung gelegt, die heute weltweit den größten Bestand an Dokumenten zu Leben und Schaffen des Komponisten darstellt und somit für die Bruckner-Forschung unerlässlich ist. Ursprünglich nur als Aufbewahrungsort der Autographen seiner Hauptwerke vorgesehen, vergrößerte die Österreichische Nationalbibliothek während der über zwölf Jahrzehnte nach Bruckners Tod ihre Sammlung um viele weitere Bruckneriana. Im Laufe der Zeit fanden so neben weiteren Kompositionshandschriften auch Briefe, Aufzeichnungen und andere persönliche Papiere Bruckners, Photographien, Konzertprogramme und künstlerische Rezeptionsdokumente (wie die bekannten Karikaturen Otto Böhlers) den Weg in die Nationalbibliothek.
Anlässlich der 200. Wiederkehr von Bruckners Geburtstag im Jahr 2024 kann seit dem 21. März noch bis zum 25. Januar 2025 im Prunksaal des Bibliotheksgebäudes am Josephsplatz die von Thomas Leibnitz, Präsident der Internationalen Bruckner-Gesellschaft, und Andrea Harrandt, Herausgeberin der Briefe Bruckners, kuratierte Ausstellung Der fromme Revolutionär besichtigt werden, die einen repräsentativen Überblick über die Bruckner-Sammlung der Nationalbibliothek verschafft, aber auch Gegenstände aus anderen Wiener Sammlungen sowie aus Privatbesitz zeigt. Erstmals finden sich dabei sämtliche Manuskripte der Symphonien Bruckners gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Die Partituren sind an charakteristischen Stellen aufgeschlagen, an denen Bruckners Arbeitsprozess deutlich wird. So zeigen Aufzeichnungen am Rande einer Seite aus der Achten Symphonie, wie der Komponist sich selbst Rechenschaft über jede einzelne Stimmführung eines bestimmten Taktes ablegt. Man sieht die Spuren des Abrasierens verworfener Noten und die Überklebungen von Stellen, an denen keine weiteren Rasuren möglich waren. Das Adagio der Siebten Symphonie ist an jener berühmten Stelle aufgeschlagen, an welcher Bruckner auf Anraten Arthur Nikischs und der Brüder Schalk Stimmen für Becken, Triangel und Pauken einklebte, um den Höhepunkt des Satzes zu markieren. Die mit Bleistift nachträglich auf dem Papierstreifen angebrachte Notiz „gilt nicht“ hat die Philologen bis heute nicht losgelassen. Ihr Urheber konnte nie bestimmt werden. Ja, es sieht sogar danach aus, dass die beiden Wörter von zwei unterschiedlichen Schreibern stammen. Eine für Bruckners Entwicklung zum unabhängigen Künstler besonders wichtige Notenhandschrift wird in dieser Ausstellung zum ersten Mal überhaupt öffentlich gezeigt: das sogenannte Kitzler-Studienbuch, das den Unterricht in freier Komposition dokumentiert, den Bruckner von dem Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler zwischen 1861 und 1863 erhielt. Es enthält u. a. die vollständige Partitur des Streichquartetts in c-Moll. Bei der Auflösung von Bruckners Wohnung in die Hände Joseph Schalks gelangt, befand es sich lange Zeit im Besitz von dessen Nachkommen und wurde 2013 von der Nationalbibliothek erworben.
Aber nicht nur die Partituren Bruckners sind sehenswert. Auch an interessanten Zeugnissen seines Lebens fehlt es nicht. So finden wir etwa seinen Taufschein, sein Ehrendoktordiplom und die Verleihungsurkunde des Franz-Joseph-Ordens, einen Taschenkalender mit Bruckners täglichen Gebetsnotizen, Bruckners Reisepass, ausgestellt anlässlich seiner Urlaubsreise in die Schweiz („Besondere Kennzeichen: an der linken Seite des Halses eine Narbe“), Blätter, die Bruckner am Grabe Richard Wagners in Bayreuth aufgelesen hat, ein Passphoto von 1880, das der Komponist anscheinend besonders schätzte, da er es nachweislich zahlreichen Briefen an von ihm verehrte junge Frauen beilegte, und einen Brief Bruckners an Hans von Wolzogen aus dem Jahre 1885, durch welchen die Forschung definitiv belegen konnte, dass die Uraufführung der Siebten Symphonie in Leipzig ein großer Erfolg gewesen ist.
Was die Hörbeispiele anbetrifft, haben die Veranstalter der Ausstellung eine vorzügliche Wahl getroffen und zu Rémy Ballots bei Gramola erschienenem Symphonien-Zyklus gegriffen, der im letzten Jahr durch die Aufnahme der annullierten d-Moll-Symphonie (fälschlich „Nullte“ genannt) im Rahmen der St. Florianer Bruckner-Tage (zur Rezension siehe hier) abgeschlossen wurde.
Thomas Leibnitz merkte anlässlich der Eröffnung an, dass das Motto der Ausstellung die Gegensätze in Bruckners Wesen betont: Bruckner sei beides, sowohl ein frommer Mann, als auch ein Revolutionär gewesen. War er von den Zeitgenossen vor allem als radikal moderner Künstler wahrgenommen worden, so habe das Bruckner-Bild in der Zeit seit seinem Tode sich mehrfach gewandelt, wobei der Fromme und der Revolutionär als Pole erkennbar blieben. Im frühen 20. Jahrhundert wurde Bruckner zu einer Gallionsfigur konservativer politischer Kräfte, in der Zeit des Nationalsozialismus als deutsches Originalgenie gepriesen, das frühe Nachkriegsösterreich sah in ihm vor allem einen katholischen Künstler, wohingegen in den 1970er Jahren die neurotischen Züge seiner Persönlichkeit betont wurden. Die Ausstellung Der fromme Revolutionär strebe nicht danach, so Leibnitz, die Reihe dieser Bruckner-Bilder um ein weiteres zu erweitern, sondern Bruckner in der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Person auf Grundlage des heutigen Forschungsstandes vorzustellen.
Nach Mitteilung von Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Nationalbibliothek, und Andrea Harrandt werden gemäß geltenden Regeln die Manuskripte nach der Ausstellungseröffnung noch drei Monate lang im Original zu sehen sei. Bei mehrbändigen Werken (wie den meisten Symphonie-Handschriften) werden die Bände ausgewechselt, ansonsten wird man sich mit Faksimiles behelfen.
Die feierliche Eröffnungsveranstaltung am Abend des 20. März 2024 bot den anwesenden Gästen Großartiges in Ton und Wort. Clemens Hellsberg, Primgeiger im Orchester der Wiener Staatsoper und ehemaliger Vorstand der Wiener Philharmoniker, hielt einen Vortrag, in welchem er, angelehnt an Klaus Heinrich Kohrs‘ Buch Anton Bruckner. Angst vor der Unermesslichkeit, den Komponisten als einen krisenhaften Künstler schilderte, hin- und hergerissen zwischen seinem beständigen Drang zur grenzüberschreitenden Ausformulierung des Unermesslichen in Tönen und dem immer stärker hervortretenden Gedanken an den Tod – Grundgegensätze seines Denkens, die in der Neunten Symphonie in schärfster Konfrontation aufeinandertreffen und, da das Werk unvollendet blieb, letztlich zu keiner Lösung finden. Hellsberg nutzte im Laufe seiner Rede die Gelegenheit, mit diversen Legenden über Bruckner aufzuräumen. So wies er ausdrücklich Hans von Bülows Bezeichnung Bruckners als „halb ein Gott, halb ein Trottel“, die im Original „Halbgenie + Halbtrottel“ lautet, zurück, indem er Bruckners vorzügliche Leistungen in seinem Bildungsgang als Lehrer betonte. Aber auch einer Verklärung der weniger sympathischen Eigenschaften Bruckners trat er entgegen, war der Komponist doch, wie seine Briefe zeigen, mitunter durchaus zu störrischem Verhalten und ungerechten Äußerungen fähig (etwa gegen das Stift St. Florian und die Stadt Linz). Als besonders wichtig darf die Aufklärung über ein häufig angeführtes, Bruckner aber fälschlicherweise zugeschriebenes Zitat bezeichnet werden: „Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik“, soll Bruckner einmal gesagt haben. Tatsächlich handelt es sich um eine Äußerung Adalbert Stifters, die dieser am 17. Dezember 1860 in einem Brief an Gustav Heckenast niederschrieb und die eigentlich lautet: „Weil die gegenwärtige Weltlage Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und dichte starke Menschen und dies stärkt mich selber.“ Ein Schriftsteller hat dieses Zitat später auf Bruckner umgedichtet, unachtsame Autoren griffen es auf und gaben es als originalen Bruckner wieder.
Bruckner kam an diesem Abend selbst zu Wort in Form des langsamen Satzes aus dem Streichquartett c-Moll und des Scherzos aus dem Streichquintett F-Dur, gespielt vom Ballot-Quintett (Rémy Ballot und Iris Ballot, Violinen, Stefanie Kropfreiter und Nataliia Kuleba, Bratschen, und Marta Sudraba-Gürtler, Violoncello). Hinsichtlich der Feinabstufungen in Dynamik und Tempo, der Interaktion der einzelnen Stimmen miteinander, der Phrasierung und der schlüssigen Darstellung des musikalischen Verlaufs leistete das Ensemble, welches beide Werke bereits in veritablen Referenzeinspielungen vorgelegt hat, Hervorragendes und trug dadurch wesentlich zum Gelingen des Abends bei.
Im Rahmen der Brucknertage dirigierte Rémy Ballot in der Basilika des Stiftes St. Florian das Altomonte-Orchester und die St. Florianer Chorakademie in Aufführungen des 146. Psalms und der Symphonie d-Moll, der „Annullierten“. Das Ballot-Quartett und Martin Nöbauer, Klavier, spielten auf Schloss Tillysburg Bruckners Streichquartett, das Streichquartett Nr. 3 von Augustinus Franz Kropfreiter und das Klavierquintett von César Franck. Die Aufführung der Ersten Symphonie Bruckners von den Brucknertagen 2022 ist bei Gramola auf CD erschienen.
Viel Gutes gibt es aus St. Florian von den diesjährigen Brucknertagen zu berichten. Da wäre zunächst die Meldung, dass eine weitere Folge von Rémy Ballots Bruckner-Zyklus auf CD herausgekommen ist: Mit der Aufführung der Ersten Symphonie durch das Altomonte-Orchester St. Florian, von der auf diesen Seiten vor einem Jahr berichtet wurde, liegen nun bei Gramola alle nummerierten Symphonien Bruckners unter Ballots Leitung vor. Zwar gibt Gramola als offizielles Veröffentlichungsdatum den 13. Oktober 2023 an, doch kann man die Neuerscheinung bereits im St. Florianer Stiftsladen erwerben:
Gramola 99283; EAN: 9 003643
Meinen Kommentar von 2022 zusammenfassend, möchte ich an dieser Stelle nur betonen, dass diese Aufnahme der Wiener Fassung Maßstäbe hinsichtlich der Darstellung des organischen Zusammenhangs setzt und sie deshalb jedem empfehlen, der sich für Bruckners Erste interessiert.
Auf dem Programm der beiden diesjährigen Symphoniekonzerte am 18. und 19. August standen die annullierte d-Moll-Symphonie von 1869 (fälschlich „Nullte“ genannt) und der 146. Psalm für Soloquartett, Chor und Orchester, ein bislang viel zu wenig beachtetes Meisterstück aus Bruckners „vorsymphonischer“ Zeit, das entweder am Ende der St. Florianer oder zu Beginn der Linzer Jahre, höchstwahrscheinlich vor 1858 entstanden ist. Erneut dirigierte Rémy Ballot das Altomonte-Orchester St. Florian. Als Chor stand diesmal die St. Florianer Chorakademie zur Verfügung (Einstudierung durch Edgar Wolf und Martin Zeller). Die Soli sangen, wie bereits 2022, Regina Riel (Sopran), Gerda Lischka (Alt), Markus Miesenberger (Tenor) und Michael Wagner (Bass).
Die Aufführung der Symphonie war eine Premiere, denn zum ersten Mal wurde aus der kritischen Neuausgabe des Werkes gespielt, die der amerikanische Musikwissenschaftler und Kontrabassist David Chapman im Rahmen der Neuen Anton Bruckner Gesamtausgabe vorgelegt hat. Chapman selbst hielt im Rahmen eines Symposiums einen Einführungsvortrag zur Quellenlage des Werkes und ging, wie auch Christa Brüstle und Markus Neuwirth in ihren Beiträgen, der Frage nach der korrekten chronologischen Einordnung in Bruckners Schaffen nach. Bekanntlich halten sich bis in die heutige Zeit Gerüchte, die auf falschen Annahmen aus der Frühzeit der Bruckner-Forschung beruhen, nach denen das Werk vor der Ersten Symphonie entstanden und 1869 lediglich einer Revision unterzogen worden sei. Die Referenten widerlegten diese Annahme schlüssig und zeigten, dass Bruckner die Symphonie wenige Jahre lang als seine Nr. 2 betrachtete, sie aber spätestens zurückzog, als er die heute als Zweite gezählte Symphonie vollendet hatte.
(Auf dem Symposium fiel übrigens einmal wieder das von Carl Dahlhaus in einer höchst unglücklichen Stunde geprägte Wort von der „toten Zeit der Symphonie“, die sich zwischen Schumanns Dritter [1850] und Brahmsens Erster [1876] erstreckt habe, mithin also auch alle Symphonien Bruckners bis einschließlich der Fünften umfasse. Zwar distanzierten sich die Symposiumsteilnehmer von diesem Begriff, doch feierte er im Programmheft der Symphoniekonzerte nicht nur fröhliche Urständ, die angebliche „tote Zeit“ wurde gar noch ausgedehnt. Man las dort nämlich: „Bekanntlich ist die Kompositionsgattung der Symphonie nach dem ‚Koloss‘ der IX. Beethoven in den Hintergrund verdrängt. Lediglich Brahms [dessen Erste Symphonie ein Jahr nach Bruckners Fünfter fertig wurde], Schuman [sic!, gemeint ist natürlich nicht William] und Mendelssohn widmen sich ihr.“ Was hätte Dahlhaus angesichts einer solch lustigen Zusammenfassung seiner Idee wohl gesagt?)
Natürlich hat die Streichung aus dem offiziellen Werkbestand der Rezeption der d-Moll-Symphonie nicht gut getan. Zwar wurde sie seit ihrer Uraufführung unter Franz Moißl 1924 in Klosterneuburg und der Erstveröffentlichung der Partitur durch Joseph Venantius von Wöss regelmäßig gespielt und seit den 50er Jahren dann auch für die Platte aufgenommen, die Literatur neigt jedoch dazu, in dem Werk Fehler und Schwächen zu finden. Das fing bei Rudolf Louis und Alfred Orel an, die die „Annullierte“ für ganz misslungen hielten und ihr gar Bruckners Studiensymphonie in f-Moll vorzogen. Auch die Fürsprecher der d-Moll-Symphonie schränken ihr Lob oft ein, sind sich aber untereinander nicht einig, welche Sätze sie besser, welche schlechter finden sollen. So ließ Moißl einige Monate vor der eigentlichen Premiere bereits das Scherzo und das Finale öffentlich spielen, weil er meinte, diese seien den ersten beiden Sätzen deutlich überlegen und würden für einen besseren ersten Eindruck sorgen. Robert Haas, der Leiter der ersten Gesamtausgabe meinte dagegen, dass es womöglich die Unausgegorenheit des letzten Satzes gewesen sei, die Bruckner davon habe absehen lassen, mit dem Werk an die Öffentlichkeit zu gehen. Robert Simpson, der große Symphoniker, dem wir das wertvolle Buch The Essence of Bruckner verdanken, hebt in ebendiesem Buch den ersten Satz als meisterliches Stück ohne Fehl und Tadel hervor und nennt die übrigen Sätze weniger bedeutend, aber hörenswert. Er hat dann an zahlreichen Einfällen auch aus diesen Sätzen sichtlich seine Freude. Für den ihn wenig überzeugenden Mittelteil des Andantes macht er Bruckners Freund Moritz von Mayfeld verantwortlich, dessen Ratschlag sich der Komponist hier angeblich gebeugt habe. Als Beispiel für eine besonders positive Sicht auf die d-Moll-Symphonie sei der schlesische Fugenmeister Gerhard Strecke genannt, welcher in seiner Autobiographie (in dem bei Laumann erschienenen Band Zeitgenössische Schlesische Komponisten) schreibt, Bruckner wäre vielleicht noch bedeutender, hätte er „die kontrapunktische Linie aus der Nullten, der I. und der V. Sinfonie konsequent verfolgt“ – das mit Fugati reichlich gespickte Finale der „Annullierten“ dürfte die Hauptursache dieses Lobes sein.
Was tut man angesichts so vieler verschiedener Meinungen? Man hört ihnen zu, macht sich aber von der Sache ein eigenes Bild! Dazu boten die Konzerte in der Stiftsbasilika eine Gelegenheit, die man nicht anders denn als optimal bezeichnen kann. Den örtlichen Bedingungen wurde hier mit echter künstlerischer Umsicht Trotz geboten, denn ein idealer Raum für Orchesteraufführungen ist diese Kirchenhalle nicht. Gute Konzerte müssen ihr abgerungen werden. Man hat mit einem langen Nachhall zu rechnen, der beständig droht, die Konturen des Erklingenden zu verwischen; dabei füllt der Klang die Kirche kaum einmal recht aus und wirkt dadurch tendenziell mager. Wahrlich, dieser Raum fordert die Musiker und bestraft jeden Fehler! Anders gesagt: Er wirkt erzieherisch – man muss nur die Winke verstehen! Richtig genutzt, wird diese Kirche zu einer Brutstätte orchestraler Vortragskultur. Da der Hall jeder hastigen, gehetzten Aufführung sofort den Untergang bereitet, lernt man hier, sich Zeit zu lassen und dem Klang nachzuspüren. Dem Verschwimmen kann man nur durch klare Artikulation und sichere Phrasierung gegensteuern, wozu genaue Kenntnis der harmonischen Verhältnisse, der kontrapunktischen Strukturen und der Entwicklung des musikalischen Verlaufs nötig ist. Solche Deutlichkeit in der Darstellung wird dann auch helfen, die Musik durchs ganze Kirchenschiff zu den Hörern zu geleiten. Je polyphoner die Musik ist, desto kultivierter muss sie vorgetragen werden. Jede Leichtsinnigkeit rächt sich hier.
Es war nun interessant zu sehen, wie Rémy Ballot mit den klanglichen Gegebenheiten umging. Der Verfasser dieser Zeilen hatte zwei Tage vor dem ersten der beiden Symphoniekonzerte die Gelegenheit, einer Probe zuzuhören, bei der der Dirigent mit dem Orchester die Ecksätze der Symphonie durchging. Der Kopfsatz, der in der Aufführung später rund 18 Minuten dauerte, wurde zu Probenbeginn bis zum Repriseneintritt einmal durchgespielt, danach widmete man sich anderthalb Stunden lang jedem einzelnen Abschnitt des Satzes, um die Feinheiten abzustimmen. Ballot ließ dabei das Orchester gruppenweise Linie gegen Linie spielen und setzte den Gesamtklang aus den einzelnen Stimmen zusammen. So wurde das Gefühl der Musiker für die Rolle ihrer jeweiligen Stimme im Zusammenhang des Ganzen beständig gestärkt, namentlich wenn sich ein melodischer Faden von einer Stimme zur nächsten zieht. Die einzelnen Sektionen hörten schließlich aufeinander wie die Mitglieder eines Kammerensembles. Indem Ballot ihnen die Struktur des Tonsatzes verdeutlichte, schuf er einen Klang, der sich durch Achtsamkeit auszeichnet: Hauptstimmen treten deutlich als solche hervor, nehmen aber auf Nebenstimmen Rücksicht, sodass diese stets durchklingen, das Bassfundament ist als Stütze des Geschehens durchweg präsent. Beim Aufbau der großen Brucknerschen Steigerungen unterstützen sich die Klanggruppen gegenseitig, sie versuchen nicht, einander zu übertönen, es entsteht mithin auch in den stärksten Tutti-Momenten nie der Eindruck von Lärm. Der Kirchenraum wird durch plastisches Musizieren gefüllt, nicht durch brutale Lautstärke.
Hört man dann das Ergebnis dieser Probenarbeit im Zusammenhang, so fällt auf, wie sicher der Verlauf der Musik realisiert wird. Ballot weiß in jedem Augenblick, an welcher Stelle der Entwicklung er mit seinen Musikern gerade angelangt ist: wann lokale Höhepunkte anzusteuern, wann Ruhephasen geboten sind, schließlich wie die Hauptklimax eines Satzes als solche darzustellen ist. So erscheint im ersten Satz der d-Moll-Symphonie der choralartige Schlussteil der Exposition deutlich als das Ziel, auf das sich die gesamte vorherige Musik zubewegt hat. Die Durchführung wächst ohne Hast aus der Ruhe am Ende der Exposition heraus, und bei aller Kraft, die sich in den großen Crescendi sammelt, die folgen, so bleibt doch immer noch genügend Energie, in der Coda einen Sturm zusammenzubrauen, um ihn in den letzten Takten voll zu entfesseln. Durch solchen formbewussten Vortrag gewann besonders der langsame Satz, den die meisten Kommentatoren am wenigsten günstig beurteilen. Die heikelste Passage ist hier fraglos der Durchführungsteil, der lange an einem knappen rhythmischen Motiv vom Expositionsende festhält und dieses ausgiebig sequenziert. Das kann kurzatmig und mühsam wirken. Wenn aber die Harmoniefortschreitungen mit so viel Verständnis und solcher Liebe zum Detail dargestellt werden, wie hier unter Ballots Leitung geschehen, so weiß ich nicht, welche Schwäche man dem Satz noch nachsagen könnte. Er ist doch ein wunderbares, inspiriertes Stück Musik! Ausdrücklich danken muss man Ballot auch dafür, dass er die Achteltriolen der Einleitung des Finales im gleichen Tempo hat spielen lassen wie die 3/4-Takte des Scherzos – und damit einen satzübergreifenden Zusammenhang realisiert hat, der, wie der Großteil der Einspielungen dieser Symphonie beweist, den meisten Dirigenten entgeht. (Bruckner gibt durch das D-Dur zu Beginn des Finales, das wie ein Nachklang des Scherzo-Schlussakkords wirkt, einen weiteren Wink!) Das Finale wurde dann ein Fest für Kontrapunktfreunde, denn man konnte den vielen Engführungen, denen das Hauptthema unterworfen wird, perfekt folgen. Gegen Ende tat Ballot gut daran, die durchführungsartige Sektion in der Reprise des Seitensatzes nicht zu überhetzen, sodass die einzelnen Wendungen der rasanten Achtel- und Achteltriolenketten präzise ausmusiziert wurden und die Spannung über den ganzen chaotisch-cholerischen Abschnitt hinweg eher noch zunahm. Dies kam der etwas kurz geratenen D-Dur-Periode am Schluss zugute, die hier einmal nicht wie der angeklebte, konventionelle Jubel erschien, als der sie unter weniger begabten Händen herauszukommen pflegt, sondern wie der wirkungsvolle Zielpunkt einer symphonischen Entwicklung. Insgesamt betrachtet zeigte sich, dass die Symphonie einen heimlichen Helden hat: den Choral, der in diesem Werk zum ersten Mal im symphonischen Schaffen Bruckners unverhüllt das Wort ergreift und sich beinahe wie eine Berliozsche Idée fixe durch die Symphonie zieht. Den entsprechenden Stellen im ersten, zweiten und vierten Satz wurde mit viel Sinn für die vokale Herkunft dieser Musizierform Rechnung getragen. Das Orchester sang als instrumentaler Chor.
Auch einen wirklichen Chor weiß Ballot zu starken Leistungen anzuspornen, wie die der Symphonie vorangehende Aufführung des 146. Psalms bewies. Die überwiegend aus Laien zusammengesetzte St. Florianer Chorakademie leistete sehr tüchtige Arbeit, namentlich in den als Doppelchor angelegten Abschnitten des Werkes, in welchen die Wechselgesänge plastisch herauskamen. Der Dirigent achtete sorgsam darauf, dass das Orchester den Chor nirgends übertönte, und versäumte doch nirgends, die Feinheiten der Instrumentation, die auch dieses vor allen selbstständigen Orchesterwerken Bruckners entstandene Stück bereits reichlich enthält, zur Geltung zu bringen. Ballots Fähigkeit, mit langem Atem musizieren zu lassen, kam insbesondere der Schlussfuge zugute, einem recht ausgedehnten Stück über ein liedhaft-eingängiges „Alleluja“-Thema, das kaum von Zwischenspielen unterbrochen und kontrapunktischen Kunststücken nur ansatzweise unterzogen wird. Die Solostimmen überzeugten wieder mit der vom letzten Jahr her bekannten Qualität. Hervorgehoben seien ein dreistimmiger Abschnitt, der Regina Riel (Sopran), Gerda Lischka (Alt) und Markus Miesenberger (Tenor) völlig ausgewogen gelang, sowie das kurze Bass-Solo, das Michael Wagner mit majestätischer Würde vortrug. Allgemein muss man für eine so schöne Aufführung dieser im Konzertleben sehr vernachlässigten, längsten Brucknerschen Psalmvertonung dankbar sein, denn das halbstündige Werk ist viel mehr als ein bloßes historisches Dokument aus Bruckners Frühzeit. Es ist eine Meisterleistung eigenen Rechts: Voller markanter Themen und abwechslungsreicher Harmoniefolgen, farbig instrumentiert, handwerklich souverän gearbeitet, enthält der Psalm im Keim bereits nahezu alles, was später auch für den Symphoniker Bruckner typisch wird. Die instrumentalen Eröffnungstakte des langsamen Anfangssatzes erscheinen aus der Rückschau wie Vorboten späterer Adagios. Der dunkle, wuchtige Klang, mit welchem der junge Komponist das erwähnte Bass-Solo untermalt, wird in zahlreichen blechbläserdominierten Stellen der Brucknerschen Symphonien seine Nachfolger finden. Hört man dieses Werk, so wird klar, dass Richard Wagner, dessen Werke er erst später kennen lernte, vor allem insofern für Bruckner ein Vorbild war, als dass er an seinem Beispiel lernen konnte, Mut zu sich selbst zu haben, zu den eigenen kühnen Einfällen zu stehen und sich nicht mit hergebrachten Regeln zu begnügen. Natürlich hat Bruckner sich dann von Wagners Kühnheiten auch zu eigenen inspirieren lassen, aber die Grundlage, auf der er unter Wagners Einfluss weiterarbeitete, hatte er selbst gelegt, und der 146. Psalm legt davon beredtes Zeugnis ab.
Zwei Tage vor dem ersten der chorsymphonischen Konzerte fand am 16. August auf Schloss Tillysburg, das St. Florian gegenüber auf der anderen Seite des Ipfbachtals liegt, ein Kammerkonzert statt, womit zum ersten Mal im Rahmen der Brucknertage außerhalb St. Florians musiziert wurde. Das Schloss war eine glückliche Wahl, denn es verfügt über einen geräumigen Konzertsaal mit guter Akustik. In diesem steht ein Flügel der Firma Heitzmann aus dem Jahr 1863, auf welchem mit großer Wahrscheinlichkeit bereits Anton Bruckner gespielt hat, der das Schloss regelmäßig aufsuchte, um dort Klavierunterricht zu erteilen. Dieser Flügel erklang nun in dem Klavierquintett von César Franck, dem Bruckner bekanntlich 1869 auf seiner Konzertreise nach Nancy und Paris begegnete, und der über Bruckners Fähigkeiten als Orgelimprovisator des Lobes voll war. Diesem Werk gingen zwei Streichquartette voran: das einzige Streichquartett Bruckners, das er 1862 komponierte und (viel zu bescheiden) nie anders denn als bloße Studienarbeit betrachtete, und das Dritte Streichquartett von Augustinus Franz Kropfreiter, dem langjährigen St. Florianer Organisten und Regens Chori, dessen 20. Todestag wir im September begehen und der nach Bruckner zweifellos die bedeutendste Persönlichkeit in der Musikgeschichte des Stiftes ist. Es spielte das Ballot Quartett, bestehend aus Rémy Ballot und seiner Ehefrau Iris an den Violinen, Stephanie Kropfreiter, der Großnichte des Komponisten, an der Viola, und Jörgen Fog am Violoncello. Am historischen Flügel war der junge Pianist Martin Nöbauer zu hören, der im April dieses Jahres den Internationalen Klavierwettbewerb Classic on Danube gewonnen hat. Die Aufführungen überzeugten durch die gleiche Sorgfalt, durch die sich auch die Orchesteraufführungen auszeichneten (Iris Ballot, Stephanie Kropfreiter und Jörgen Fog spielten unter Rémy Ballots Leitung im Altomonte-Orchester). Jedes Mitglied des Quartetts ist eine hochkultivierte Musikerpersönlichkeit, die auf ihre Mitspieler zu hören versteht und gleichermaßen vermag, die Führung zu übernehmen, zu begleiten und sich in einen Tutti-Klang einzuordnen. Man bekommt von diesem Ensemble keinen manierierten Einheitsklang geboten, wie man ihn von Formationen hört, die sich pauschal entweder auf einen quasi-orchestralen oder auf einen fein ziselierten Vortrag festlegen. Die Spielweise dieses Quartetts orientiert sich an den jeweiligen Gegebenheiten des Tonsatzes, der mit großem Einfühlungsvermögen dargestellt wird. Auch Martin Nöbauer erwies sich im Franck-Quintett als hervorragend begabter Kammermusikspieler, der sich nicht zu Ungunsten der Streicher in den Vordergrund spielt, sondern mit ihnen beständig interagiert, sodass Klavier und Streichquartett hier in schöner Einigkeit zueinander fanden. Was das Programm des Abends betrifft, so sah man natürlich der Aufführung des Kropfreiter-Quartetts mit der größten Neugier entgegen, denn dieses noch recht junge Werk (es entstand 2001 als eine der letzten Arbeiten des Komponisten) liegt bislang in keiner Aufnahme vor und hat noch keine weite Verbreitung gefunden. Verdient hätte es beides! Augustinus Franz Kropfreiter war zweifellos ein Künstler von ausgesprochener Eigenart. Er liebte starke Kontraste und kontrapunktische Strukturen, sodass es nicht Wunder nimmt, dass das Dritte Quartett allen vier Instrumenten lohnende Aufgaben bietet. Die Harmonik ist mit scharfen Dissonanzen reichlich gewürzt, dennoch steht alles auf solidem tonalem Fundament. Die vier Sätze sind knapp gefasst, das ganze Werk dauert nur ungefähr eine Viertelstunde. An der Spitze steht ein zwischen langsamen und raschen Tempi mehrfach wechselnder Satz, wobei die raschen Abschnitte fugiert gestaltet sind. Der langsame Satz beginnt mit einem Bratschensolo, findet dann zu dichter Polyphonie und endet mit einem Trio der drei Oberstimmen, dem sich erst im letzten Ton das Violoncello wieder hinzugesellt. Das Scherzo zeigt Kropfreiters humoristische Begabung: Im Verlauf des Satzes beschleicht den Hörer immer stärker das Gefühl, dass sich in dieser Musik ein bestimmtes Lied versteckt. Dann ist es soweit: Der „Liebe Augustin“ erscheint einen kurzen Moment lang nahezu notengetreu und verschwindet umgehend wieder in den raschen Figurationen. Kropfreiter hat sich, durch das Lied selbstironisch auf seinen eigenen Namen anspielend, oft Scherze dieser Art erlaubt. Das Quartett schließt mit einem lebhaften, ruppigen Finale. Das Ballot-Quartett wird bald ein weiteres Streichquartett Kropfreiters zur Aufführung bringen. Eine intensivere Pflege dieser Musik wäre in der Tat sehr zu wünschen.
Nur wenige Komponisten unserer Zeit können auf ein so umfangreiches Schaffen zurückblicken wie der 1949 im finnischen Forssa geborene Kalevi Aho, Autor von 17 Symphonien, mehr als doppelt so vielen Instrumentalkonzerten und gut sechs Dutzend Werken für kammermusikalische Besetzungen vom Solostück bis zum Sextett. Einige dieser Werke gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Kompositionen ihrer jeweiligen Gattungen. So erlebte beispielsweise das Schlagzeugkonzert Sieidi in den zehn Jahren seit seiner Premiere 2012 bereits über 120 Aufführungen. In seiner Heimat ist Aho längst eine etablierte Größe des Musiklebens, wie nicht zuletzt das seit 2016 in seiner Geburtsstadt veranstaltete Festival Musica Kalevi Aho verdeutlicht. Aber auch außerhalb Finnlands weiß man den Meister zu würdigen. In Wien nahmen Musiker und Musikwissenschaftler den 74. Geburtstag des Komponisten am 9. März 2023 zum Anlass, mit einem Kammerkonzert und einer Gesprächsrunde an den beiden vorangegangenen Tagen gleichsam in das Jubiläum hinein zu feiern. Kalevi Aho wirkte an beiden Veranstaltungen mit.
Im Konzert, das am 7. März im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins stattfand, spielten das Violinistenehepaar Rémy und Iris Ballot, auch bekannt als Dirigent und Konzertmeisterin des Wiener Klangkollektivs, und die Pianistin Anika Vavić. Zwei Kompositionen Kalevi Ahos bildeten den Rahmen des Programms. Dazwischen waren Werke verschiedener anderer Komponisten zu hören: von Ahos verehrtem Lehrer Einojuhani Rautavaara, vom Übervater der finnischen Musik Jean Sibelius und von den beiden russischen Meistern Sergej Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch – die meisten davon mit einem mehr oder weniger deutlichen Bezug zu Wien. Nur in den Fünf Stücken für zwei Violinen und Klavier, einem Arrangement verschiedener Nummern aus Ballettsuiten und Filmmusiken Schostakowitschs durch Lewon Atowmjan, fanden alle drei Instrumente zusammen. Das übrige Programm bestand aus Solo- und Duowerken. Man hätte den Abend schwerlich eindrucksvoller eröffnen können als mit Rémy Ballots Darbietung von In memoriam Pehr Henrik Nordgren, einem Solostück, das Kalevi Aho 2009 zu Ehren des im Jahr zuvor gestorbenen großen Komponistenkollegen geschrieben hat. Ballot ließ die Musik sich mit rhapsodischer Spontaneität entfalten, ohne darüber den strengen, konsequenten Aufbau des Werkes zu vergessen. Die melismatischen Abschnitte und die choralartigen Doppelgriffpassagen gingen auseinander hervor wie Vorgesang und Responsorien, es entstand die bezwingende Wirkung eines schamanischen Trauerrituals. Hervorgehoben verdient noch zu werden, mit welcher Sicherheit Ballot eine äußerst leise Passage in höchster Lage meisterte, in der die Musik sich kaum mehr hörbar vor dem rauschenden Hintergrund des Bogenstrichs abspielt. Anika Vavić, die Ballot in Prokofjews Fünf Melodien op. 35a eine einfühlsame Begleiterin war, zeigte in der Suggestion diabolique op. 4/4 des gleichen Komponisten ihre Virtuosität, bevor sie sich in Sibelius‘ Impromptu op. 5/6, dem Tempo di valzer aus Prokofjews Klaviersonate Nr. 6 und Schostakowitschs Lyrischem Walzer & Romanze aus den Puppentänzen op. 91b als Meisterin der Charakterisierungskunst erwies. Durch alle Stücke, die gewissermaßen die Ausstrahlung des Wiener Walzers in andere Musikkulturen verdeutlichen, pulste jener dezente Schwung, der den Walzer erst zum Walzer macht. Ausgezeichnet gelang der Pianistin die verschiedenen Lagen des Klaviers gegeneinander abzuheben, sodass die einzelnen Stimmen miteinander dialogisierten und sich zeigte, wie farbig die Komponisten auf dem Klavier „instrumentieren“ konnten. Dieses klangliche Feingefühl kam auch den zwei Stücken Der Tod der Gottesmutter und Zwei Dorfheilige aus Einojuhani Rautavaaras Klavierzyklus Ikonen sehr zugute. Vavićs sicheres rhythmisch-melodisches Gespür ließ zudem die volksmusikalischen Wurzeln der Musik deutlich werden. Als drittes Stück Rautavaaras war eine Erinnerung an dessen Wiener Studienjahre zu hören, die den dritten Satz seiner Suite Lost Landscapes für Violine und Klavier bildet und nach der damaligen Wohnadresse des Komponisten Rainergasse 11, Vienna heißt. In dieser tiefempfundenen Elegie fand Anika Vavić in Iris Ballot ihre Partnerin an der Violine, und die Aufführung zeigte, dass Frau Ballot ihrem Manne im feinfühligen Gestalten der Phrasen, in der Sorgfalt der Tongebung und im Erfassen der melodischen Bögen nicht nachsteht. Die bereits erwähnten Schostakowitsch-Bearbeitungen hätten sich auch als heiterer Kehraus geeignet, doch damit sollte das Konzert noch nicht zu Ende sein. Der Abschluss blieb einer Uraufführung vorbehalten. Kalevi Ahos Fragen für zwei Violinen entstanden 2022 als Auftragswerk anlässlich der Hochzeit von Iris und Rémy Ballot. Das gut zehnminütige Stück ist ein veritables Gespräch in Tönen. Ein Instrument „fragt“, das andere „antwortet“, die Motive wechseln zwischen ihnen hin und her, werden variiert und fortgesponnen, wie man im Gespräch von einem ins andere kommt. Im Laufe des Werkes tauschen die beiden Violinen wiederholt die Rollen. Auch gibt es Abschnitte, die weniger nach Frage und Antwort klingen als nach gemeinsamer Erörterung eines Sachverhalts. Aho ist hier ein höchst feinsinniges und abwechslungsreiches Duo gelungen, das zwei einander ebenbürtige, technisch starke Spieler, die zeigen wollen, wie gut sie aufeinander hören können, vor lohnende Aufgaben stellt. Die Ballots haben sich „ihr“ Werk ganz zu eigen gemacht und brachten es aufs erfreulichste zum Sprechen, wobei zwischen beiden eine bewundernswerte Ausgeglichenheit herrschte. Eine solch innige Verbindung mit- und ein solch behutsames Eingehen aufeinander dürfte dem Komponisten als Ideal wohl vorgeschwebt haben.
Das Konzert bestand nicht nur aus musikalischen Beiträgen. Durch den Abend führte Peter Kislinger, der wohl beste Kenner des Ahoschen Schaffens in Österreich, der einem größeren Publikum vor allem durch seine Beiträge im Österreichischen Rundfunk (Ö1) als Förderer zeitgenössischer und Entdecker wertvoller, in Vergessenheit geratener Musik der Vergangenheit bekannt ist. Seine lebendigen Einführungen in die jeweiligen Stücke gaben dem Konzert ebenso zusätzlichen Wert wie die wiederholten kurzen Gespräche mit dem Komponisten. Kalevi Aho sprach u. a. über seine Freundschaft mit Pehr Henrik Nordgren und über Einojuhani Rautavaara, der gerade deswegen ein sehr guter Lehrer war, weil er es verstand, sich in die Werke seiner Schüler hineinzuversetzen und sie zu ermutigen, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Auch über Ahos gegenwärtige Projekte konnten die Zuhörer etwas erfahren. Der Komponist hat gerade den Kopfsatz seiner Achtzehnten Symphonie vollendet, auch sei ein Orchesterwerk in Arbeit, das die Fragen aufgreift, aber anders weiterführt.
[Korrektur, 16. März 2023: Nach Mitteilung der Kalevi Aho Society wurde das Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester, welches am Anfang die Fragen zitiert, bereits am 18. Dezember 2022 vollendet.]
Am folgenden Tage leitete Dr. Andreas Holzer an der Universität für Musik und darstellende Künste eine Gesprächsrunde, an der neben Kalevi Aho auch Rémy Ballot, Peter Kislinger und die junge japanische Komponistin Reina Yoshioka teilnahmen. Angelpunkte des Gesprächs waren fünf Punkte, die Aho einst in einem Artikel als Aufgaben für die Komponisten unserer Zeit ausgemacht hatte:
1) Die Wiederentdeckung des Publikums 2) Die Suche nach einem Ausweg aus einer hermetischen Avantgarde samt Stärkung der Verbindung zur Vergangenheit 3) Die Stärkung der gesellschaftlichen Dimension von Musik 4) Die Entwicklung von Strategien, den Elfenbeinturm abzutragen 5) Der Komponist müsste fähig sein, der Musik tiefe emotionale Ausdrucksqualitäten zu verleihen
Aho berichtete aus dem finnischen Musikleben, wo zeitgenössische Musik ein fester Bestandteil regulärer Konzerte ist und nach wie vor zahlreiche neue Opern mit der Aussicht entstehen, in den namhaften Theatern des Landes zur Aufführung zu gelangen. Er selbst möchte Musik schreiben, die vom Publikum gern gehört und von Musikern gern gespielt wird. Sein erster Zuhörer ist er selbst: „Ich komponiere Musik, die ich selbst hören möchte.“ Als regelmäßig mit Aufträgen bedachter Komponist, trifft er sich sich vor der Arbeit an einem bestellten Werk mit den Musikern, für die es entstehen soll: „Zuerst kommen die Musiker zu mir und spielen mir vor. Dann denke ich an ihre Persönlichkeit und versuche so zu schreiben, dass das Werk für die Musiker sitzt. Wenn es für einen Musiker sitzt, dann wird es auch für andere Musiker annehmbar sein können.“ Aho gehört nicht zu denjenigen Komponisten, die um jeden Preis originell sein wollen: „Der Stil hängt davon ab, was man sagen möchte. Ich möchte nicht in einem Personalstil komponieren, denn dann verfällt man in Klischees. Ich mache mir klar, was ich sagen möchte. Der Stil kann sich von Werk zu Werk ändern, was sich nicht ändert, ist die Persönlichkeit des Komponisten.“ Dies ist einer der Gründe, warum der mitteleuropäische Modernismus, wie er sich letzten Endes in der Darmstädter Schule manifestierte, für ihn etwas Altmodisches ist. Großen Einfluss auf sein Schaffen hatte dagegen das Studium ursprünglicher musikalischer Phänomene außerhalb Europas: „Die Lösungen für Probleme fand ich nicht im mitteleuropäischen Modernismus, sondern ich habe mich mit Indischer und Arabischer Musik befasst. Ich habe seitdem oft arabische Instrumente verwendet und ein Buch über arabische Rhythmen geschrieben.“ Mit Jean Sibelius hat sich Aho viel beschäftigt. Er kennt sein Schaffen gut, sieht sich ihm durchaus innerlich verwandt, orientiert sich aber nicht bewusst an ihm. Auch denkt er beim Komponieren nie an etwas Finnisches. Seine Werke schreibt Aho seit langem sofort ins Reine, ohne Skizzen zu machen. „Ich fange an und mache weiter bis zum Schluss. Wenn ich beginne, weiß ich noch nicht, wie es sich entwickelt. Ich habe nur zweimal versucht, nach einem Plan zu schreiben. Habe ich etwa zwei Drittel des Stückes fertig, kann ich ungefähr sagen, wie es enden wird.“ Mitunter kristallisiert sich die jeweilige Gattung erst im Laufe des Kompositionsprozesses heraus. Interessanterweise entstand keine der ersten vier Symphonien des heute vor allem als Symphoniker bekannten Komponisten unter dem Vorsatz eine Symphonie zu schreiben. Zu seiner Ersten sagt Aho: „Ich wollte nur ein großes Werk für Orchester schreiben. Da sagte mein Lehrer Einojuhani Rautavaara: Das ist eine Symphonie.“ Auf die Frage, wie er den Begriff „Symphonie“ definiert, antwortet der Komponist: „Eine Symphonie ist ein großes Orchesterwerk, in dem der Komponist zeigt, was er kann, in dem er seine Gedanken kristallisiert.“ Kritik äußerte Aho an Konzertagenturen, die die von ihnen geförderten Musiker davon abhalten, sich mit zeitgenössischer Musik zu befassen. Er erzählte, wie ihn eine Geigerin um ein Violinkonzert bat, er sie jedoch aufgrund anderer Aufträge um zwei Jahre vertrösten musste. Nach der Fertigstellung des Werkes traf er die Geigerin wieder, doch sagte sie ihm diesmal, sie fühle sich noch nicht reif für moderne Musik. „Sie hatte eine andere Agentur.“
Vergnüglich waren Peter Kislingers Berichte über das Verhalten der Wiener Kritik im Laufe der Jahre gegenüber Werken zeitgenössischer finnischer Komponisten. Die von ihm zitierten Rezensionen boten wunderbares Anschauungsmaterial hinsichtlich des Umgangs der Kritiker mit dem Konzertpublikum. So erfuhr man vom einen Kritiker, dass das Wiener Publikum viel zu gebildet und anspruchsvoll sei, als dass solche Anbiederungsversuche, wie sie von Komponisten wie Rautavaara und Aho unternommen würden, Aussicht auf Erfolg hätten. Ein anderer Kritiker widersprach dem, denn die Musik habe dem Publikum gefallen – sie könne deshalb wenig taugen.
Rémy Ballot sprach aus eigener Praxis über das Erfassen des Zusammenhangs innerhalb einer Komposition – eine Sache, die ja nicht nur den Autor des Stückes und seinen Vermittler betrifft, sondern eminente Auswirkungen auch auf die Zuhörer hat. Denn wie kann ein Hörer ein Stück als ein Ganzes erleben, wenn es dem Musiker nicht gelingt, den Zusammenhang der Musik deutlich zu machen? „Der Klang ist nicht die Musik. Der Klang kann Musik werden. Er kommt von einem inneren Prozess her.“ Erst wenn es dem Musiker gelingt, Kontinuität in die Klänge zu bringen, das Hervorgehen eines klanglichen Phänomens aus dem anderen nachzuvollziehen, kommt eine lebendige Aufführung zustande. Wer unter den Zuhörern dieses Gesprächs das Konzert Tags zuvor miterlebt hatte, wusste nun, warum der Eindruck ein so vorteilhafter war!
Am 9. März, seinem 74. Geburtstag, reiste Kalevi Aho aus Wien ab. Und man hofft, dass die altehrwürdige Musikmetropole auch den 75. Geburtstag des Meisters angemessen zu würdigen versteht.