Zum nunmehr achten Mal wagt sich Jonathan Powell öffentlich an eines der gewaltigsten Werke der Klavierliteratur, das Opus Clavicembalisticum des parsistämmigen britischen Komponisten Kaikhosru Shapurji Sorabji. Am 1. Oktober 2017 spielt er das gesamte etwa viereinhalbstündige Mammutwerk im Musentempel Karlsruhe.
Dieses Werk wirft Fragen auf, gibt keine Antwort: bezugsreiche Komplexität oder willkürliches Tonsetzen, funktionierende Formverläufe oder überstrapaziertes Material, Genie oder Wahnsinn? Das Opus Clavicembalisticum ist ein Werk der Polyvalenz, unmöglich zu erfassen und doch unfassbar anregend. Es vermittelt dem Hörer den Schein, einen guten Teil davon zu verstehen, und geht doch weit über alle Grenzen menschlichen Fassungsvermögens hinaus. So entsteht ein Sog, ein Verlangen, mehr verstehen zu wollen, als es gerade geschieht, selbst wenn dies unsere Kapazität übersteigt – ein klangliches Transzendenzerlebnis ist die Folge.
Wenn selbst der Hörer so überwältigt ist von all den zeitgleich auftretenden Phänomenen, so muss zwangsläufig der ausführende Musiker noch involvierter sein in diese Welt der Extreme. 252 Partiturseiten durchmisst das Opus Clavicembalisticum, jede einzelne gespickt mit enormen Anforderungen für Finger und Geist. Zwölf Sätze in drei Abschnitten umschließt das Opus, fünf sind von der Dauer recht überschaubar, zwei sind groß dimensionierte Interludien (Primum: Thema cum XLIV variationibus; Alterum: Toccata, Adagio, Passacaglia cum LXXXI variationibus) mit Längen von circa 45 beziehungsweise 60 Minuten, und vier sind aufeinander aufbauende Fugen, wobei die letzte eine direkt anschließende Coda-Stretta aufweist, welche den finalen „Satz“ darstellt. Die erste Fuge führt ein Thema durch, die zweite entsprechend zwei und so weiter. Gerade diese Fugen sind es, die den Kern des Opus Clavicembalisticum und den Gipfel seiner Komplexität bilden. Jede einzelne Stimme agiert für sich und sollte eben auch als solche zu erkennen sein, wobei der melodische Fluss oft äußerst kompetitiv ist und jede Stimme für sich bereits virtuose Höchstleistungen beansprucht. Und dies alles eingedenk dessen, dass alleine die letzte Fuge circa 50 Minuten dauert.
Nur ein Jahr nach Daan Vandewalles Aufführung des Werkes in Berlin [siehe hier die Rezension dazu] ist das Opus Clavicembalisticum nun ein weiteres Mal in Deutschland zu hören gewesen, am 1. Oktober 2017 in Karlsruhe durch Jonathan Powell. Der Pianist setzte nicht nur auf mechanische Durchdringung des Giganten, sondern vor allem auf melodiöse und kontrapunktische Gestaltung. Powell erfüllt das Werk durch und durch mit Musikalität, wobei er weniger der Reiz des klingenden Moments als vielmehr das Entstehen von größeren Zusammenhängen im Vordergrund steht. Besonders luzide erklingen gerade die Fugen, deren Themeneinsätze deutlich und deren Gegenstimmigkeit eindeutig wird. Beeindruckend ist die Kontinuität der musikalischen Intensität, die Powell gelingt: Nur sehr selten hat der Hörer den Eindruck von übermäßiger Länge, und die viereinhalb Stunden vergehen wie im Flug.
[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]