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Moderne tschechische Cembalokonzerte mit Mahan Esfahani

Hyperion CDA68397; EAN: 0 34571 28397 5

Drei tschechische Cembalokonzerte des 20. Jahrhunderts präsentiert der aus Teheran stammende Meistercembalist Mahan Esfahani mit dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich auf dem Hyperion-Label: Bohuslav Martinůs „Konzert für Cembalo und kleines Orchester“ H 246, Hans Krásas „Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente“ sowie Viktor Kalabis‘ „Konzert für Cembalo & Streichorchester“.

Die drei Werke für Cembalo und Ensemble bzw. kleines Orchester, die Hyperion hier mit Mahan Esfahani und dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich vorgelegt hat, spiegeln in gewisser Weise die Vielfalt tschechischer Musik des 20. Jahrhunderts wider. Der aus Teheran stammende, in den USA aufgewachsene und zunächst dort ausgebildete Esfahani war der letzte Schüler der legendären Cembalistin Zuzana Růžičková (1927–2017) und lebt nun sogar in Prag. Neben seinen gefeierten Bach-Aufführungen und Einspielungen hat er sich schon immer gleichermaßen für zeitgenössische Literatur eingesetzt.

Abgesehen von der Musik des Barock, die – folgt man historischer Aufführungspraxis – selbstverständlich das Cembalo benötigt, war das Instrument durch die Fortschritte im Klavierbau als Soloinstrument mit Orchester lange obsolet geworden. Erst mit eben dem zunehmenden Interesse an historisch „korrekten“ Interpretationen Alter Musik sowie dem aufkommenden Neoklassizismus ab den 1920er Jahren, schrieben einige Komponisten dann auch wieder Cembalokonzerte. Die hier präsentierten Gattungsbeiträge waren schon Paradenummern von Růžičková und wurden von ihr ebenfalls eingespielt.

Bohuslav Martinůs (1890–1959) Konzert für Cembalo und kleines Orchester H 246 entstand 1935 für die französische Cembalistin Marcelle de Lacour, eine Schülerin der berühmten Wanda Landowska. Der Komponist traut allerdings insbesondere dem gegenüber tiefen Streichern mit Stahlsaiten eher schwachbrüstigen Bass nicht: So gibt es neben dem Cembalo noch ein obligates Klavier im kleinen Ensemble, das nicht nur den Bass unterstützt oder ganz übernimmt, sondern durchaus auch mal solistisch in den Vordergrund tritt und dem Cembalo zeitweise die Schau stiehlt. Andererseits ergeben sich dadurch feine, sehr interessante Klangkombinationen – das Zusammenspiel beider Instrumente haben später andere Komponisten, z. B. Elliott Carter oder Frank Martin, erneut aufgegriffen. Der Cembalosatz ist gegenüber dem nur oberflächlich an das Concerto Grosso erinnernden, recht brav agierenden Ensemble mit vielen Dissonanzen angereichert, ohne das Ganze zu dekonstruieren. Esfahani spielt mit Leidenschaft; Liebreich begleitet präzise, setzt aber kaum eigene Akzente. Zwar reicht Martinůs Stück nicht an die beiden folgenden Werke heran, man langweilt sich freilich keine Sekunde.

Hans Krása (1899–1944) wird heute gern zu den Theresienstädter Komponisten gezählt, obwohl natürlich die meisten seiner Werke vor der Internierung entstanden sind, darunter die wunderbare, zweisätzige Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente (1936). Krása entstammte einer deutschsprachigen, jüdischen Prager Familie, und in seiner Musik spielen ebenso deutsche Traditionen eine viel größere Rolle als etwa beim gleichaltrigen Pavel Haas – beide wurden am selben Tag in Auschwitz ermordet –, der mehr der Janáček-Nachfolge zuzurechnen ist. Esfahani steigt mutig in die hier vorherrschende, oft dichte Kontrapunktik ein – über Strecken nur die solistischen Bläser begleitend, in den eigenen Soli recht zerbrechlich wirkend, aber immer mit Charme. Das Stück ist mit seinen Anklängen sowohl an zeitgenössische Popularmusik (eigenes Liedzitat im 2. Satz, fast wie Kurt Weill) wie auch durch seinen klar kammermusikalischen Charakter vielschichtiger als Martinůs Konzert – wirklich großartige Musik.

Zuzana Růžičková dürfte Krása in Theresienstadt begegnet sein – später überlebte sie Auschwitz und Bergen-Belsen. Seit 1952 war sie mit dem Komponisten Viktor Kalabis (1923–2006) verheiratet, der ihr mehrere Werke gewidmet hat. Kalabis‘ Musik – u. a. fünf Symphonien – führt gerade in Deutschland noch immer ein Schattendasein: Dabei verbindet sie auf sehr persönliche Weise neoklassizistische Elemente mit avantgardistischeren Techniken bis hin zum Serialismus und ist quasi ein Musterbeispiel für die unterschiedlichen Tendenzen in der ehemaligen Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg. Trotz der Besetzung nur mit Streichern überzeugt sein Cembalokonzert von 1975 durch eine ungemeine Farbigkeit und Differenziertheit, die Liebreich wunderbar herüberbringt. Esfahani beherrscht die außerordentliche Virtuosität des Cembalosatzes souverän, kommt an seine Lehrerin durchaus heran. Dieses fast halbstündige Konzert ist ein Gipfelwerk der Gattung. Sowohl die Lyrik des Andantes als auch die atemberaubende Beweglichkeit des abschließenden Allegro vivos – hier alles sehr bewusst vorgetragen – versetzen den Zuhörer in Staunen. Jeder Cembalist sollte dieses Stück kennen!

Die Neuaufnahmen machen Růžičkovás Interpretationen keinesfalls überflüssig. Zumindest aufnahmetechnisch sind sie deren Einspielungen aus den 1980ern und 1990ern deutlich überlegen. Das Klangbild ist hier geradezu optimal – durchsichtig und hochdynamisch. Zudem sind die drei wertvollen Stücke so bislang nie auf einer CD zu hören gewesen, die schon deshalb eine klare Empfehlung verdient.

[Martin Blaumeiser, November 2023]

Besser spät als nie: Angela Hewitts sehr persönliche Auseinandersetzung mit Beethovens opp. 106 & 111

Hyperion CDA68374; EAN: 0 34571 28374 6

Auch die kanadische, insbesondere für ihr Bach-Spiel gerühmte Pianistin Angela Hewitt hat nun ihre Einspielung sämtlicher 32 Beethoven-Sonaten auf CD komplettiert: mit den beiden späten Sonaten Nr. 29 B-Dur op. 106, der Hammerklaviersonate, und der letzten Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111.

Wenn eine weltberühmte Pianistin ihren Zyklus aller Beethoven-Klaviersonaten mit der letzten – der c-Moll-Sonate op. 111 – und der gewaltigsten, der Hammerklaviersonate op. 106, abschließt, scheint das in gewisser Weise taktisch klug (das Beste kommt zum Schluss…), aber keineswegs ungewöhnlich. Hellhörig wird man allerdings, wenn man aus Angela Hewitts umfangreichem, eigenen Booklettext erfährt, dass sie genau diese beiden Stücke tatsächlich auch erst mit knapp über sechzig erstmals einstudiert hat. Barenboim soll ja einmal gesagt haben: „Die Hammerklaviersonate wird nicht leichter, wenn man sie nicht spielt.“ So werden natürlich die Erwartungen der Interpretin an sich selbst wie die der Zuhörerschaft besonders hoch.

Da hier nicht der Raum ist, die beiden 47 bzw. 31 Minuten langen Darbietungen bis ins Detail zu verfolgen, seien nur ein paar Beobachtungen wiedergegeben, und dabei Hewitts Ergebnisse auf dem – neuen – Fazioli-Flügel mit ihren geistreichen Anmerkungen zu den Stücken verglichen. Hewitt wählt bei Opus 106 durchgehend sehr schlüssige Tempi, überhastet weder die ersten beiden Sätze noch die Fuge. Letztere beginnt sie mit Viertel = ca. 128: Ein Tempo, das sich in vielen guten Aufnahmen wiederfindet (Richter, Pollini usw.) und für moderne Flügel vielleicht ideal ist. Ebenso gilt Halbe = ca. 108 für den Kopfsatz als bewährtes Grundtempo, auch wenn es noch weit unter den gedruckten 138 liegt. Im Adagio vertraut Hewitt hingegen auf Beethovens Tempovorgabe (Achtel = 92), was sich über weite Strecken als Glücksfall erweist. Insgesamt gestaltet Hewitt das Tempo jedoch äußerst flexibel, gibt ihren Vorstellungen von Klangqualität und Ausdrucksnuancen klar den Vorrang vor metronomischer Konstanz. Dem kann man nur zustimmen, trotzdem hören wir bisweilen recht komische Ausdeutungen. Das beginnt bereits beim Kopfthema, dessen durch den punktierten Achtelauftakt so rigorosen Charakter sie durch die Verbreiterung fast zu einer Viertel aufweicht; man könnte das Kontra-B auch mit der rechten Hand nehmen. Eigentlich gelingen Hewitt im Kopfsatz viele Stellen sehr schön, sie beachtet genau die Sforzati und was sie im jeweiligen Kontext bewirken sollen – etwa in den Takten 17 ff. auf der „Zwei“. Darüber hinaus kann sie durchaus den großen, symphonischen Zusammenhalt vermitteln.

Im Scherzo ist Hewitt recht flott, die oft etwas zu undeutlich vorgetragene Zweistimmigkeit im Trio ist absolut vorbildlich. Das Prestissimo wird nicht zur Raserei: Sie betrachtet es als „ungarischen“ Exkurs. Der Beginn des Adagios ist enorm ausdrucksstark, trotz des eher flüssigen Tempos. Da, wo die Zweiunddreißigstel zu dominieren beginnen (nach T. 87), muss Hewitt ihren offenkundigen Drang nach vorne künstlich zurücknehmen, die Agogik erscheint nicht immer natürlich. Und wo sich dann – in anderer Tonart – quasi reprisenartig ein längerer Abschnitt wiederholt, verliert sie schließlich derart den Fokus, dass der più forte Ausbruch über dem verminderten Septakkord (T. 165) tatsächlich nur wie „ein Moment der Krise“ (Hewitt) und nicht wie ein letzter, verzweifelter Aufschrei wirkt, bevor bei ihr der Satz nebulös ins Nichts dahindämmert.

Die Fuge packt die bewunderte Bach-Spielerin wirklich souverän, begreift die einzelnen Durchführungen so, wie es z. B. Charles Rosen in Der klassische Stil beschrieben hat: als eine Folge von – bei Hewitt in der Tat enorm abwechslungsreichen – Charaktervariationen. Wenn jedoch nach der Trillerorgie zur Dominante A (T. 243 ff.) „ein drittes Thema“ erscheint – nach Meinung des Rezensenten der bewusste Rückzug von der Monsterfuge zu einer kleinen D-Dur-Fughetta – verbreitert sie das Tempo viel zu stark, so dass der Wiederaufbau des „alten“ Fugenwahnsinns seiner sich schnell erneut verdichtenden Struktur etwas hinterherhinkt. Der Schluss hat dennoch Größe – so wie die gesamte Darbietung, wenn hier auch keine Glanzleistung à la Murray Perahia vollbracht wird – der sich übrigens ebenfalls erst sehr spät an diesen Klavier-Himalaya wagte.

Noch interessanter und konsequenter erscheint dem Rezensenten op. 111. Hewitt lässt sich Zeit, schon bei der Einleitung: Dramatik ohne jede Spur von Hektik; wie jemand, der in fortgeschrittenem Alter so viel Resilienz entwickelt hat, dass er die Fügungen des Schicksals genauestens und bewusst reflektiert, jedoch auszuhalten vermag. Der ganze Satz bleibt dabei hochenergetisch. Die Arietta spielt Hewitt vielleicht eine Spur zu langsam. Das geht bei den ersten Variationen noch gut: Klar, dass sie die (virtuelle) Beschleunigung nicht als Boogie-Woogie verfremdet, sondern ganz in barocker Tradition exerziert. Ab der vierten Variation (T. 65) verliert sich die Pianistin leider. Was sie als „eine Art jenseitige Musik, die in ihrer Zartheit geradezu ätherisch ist“ beschreibt, gerät mit seiner potenziert ternären Struktur dann zur indifferenten Suppe. Erst in der langen Coda agiert Hewitt wieder gestalterisch überzeugend. Trotzdem ist diese Aufnahme von op. 111 ausgereift und hebt sich aus einer Masse von Einspielungen hervor, die dem Geheimnis dieses legendären Werkes weit weniger abgewinnen können. Aufnahmetechnisch ausgezeichnet und mit einem sehr persönlichen Booklettext, legt Angela Hewitt hier eine in vielerlei Hinsicht besondere Beethoven-Auseinandersetzung vor.

Vergleichsaufnahme: [op. 106] Murray Perahia (DG 00289 479 8353, 2016)

[Martin Blaumeiser, Oktober 2022]

Eleganz und Tiefgang bei C. P. E. Bachs Klaviermusik

Hyperion CDA68381/2; EAN: 0 34571 28381 4

Neben Repertoire, an das sich eigentlich nur Supervirtuosen trauen (dürfen), überzeugt der in den USA lebende Frankokanadier Marc-André Hamelin immer auch mit Werken der Wiener Klassik. Nach drei vielbeachteten Doppel-CDs mit Klaviermusik von Joseph Haydn hat er auf Hyperion nun 2 CDs mit – überwiegend – Sonaten & Rondos von Carl Philipp Emanuel Bach eingespielt. Die komplette Tracklist der intelligenten Auswahl ist hier zu finden.

Die ungeheure Bedeutung Carl Philipp Emanuel Bachs (1714–1788) für die Entwicklung der Klaviermusik – sowohl der solistischen als auch des Klavierkonzerts, das fast als seine Erfindung gelten darf – wird heute eher unterschätzt. Junge Klavierschüler wagen sich schnell an Haydn- und Beethoven-Sonaten, und der enorm umfangreiche und vielschichtige Kosmos C. P. E. Bachs wird quasi ignoriert. Seine Sonaten sind noch nicht richtig klassisch (was durchaus sein Gutes hat), und die inspirierte Virtuosität fällt nicht sofort ins Auge. Und was soll uns heute der vorgeblich galante Stil noch sagen?

Wer sich auch nur ein wenig mit C. P. E. Bachs Klavierwerken beschäftigt hat, und sei es nur das kleine, geniale Solfeggio c-moll (H 220), das Marc-André Hamelin hier ebenfalls spielt (CD 1, Track 27), wird sich zumindest deren Charme nicht entziehen können. Wie sich die unmittelbare Emotionalität als Galanterie begreifen lässt und eine zu starke Ausrichtung der Darbietung hin auf Erfahrungswerte der Wiener Klassik als unzureichend erweist, kann man schön anhand der Sonate D-Dur (H 286) sehen: Wenn Ana-Marija Markovina in ihrer Gesamtaufnahme generell darauf setzt, immer schön die typischen Taktgruppierungen, wie sie Haydn, Mozart und Beethoven dann als essentiell formbildend verwenden (meist Vierer- bzw. Achterperioden), als in sich abgerundete Einheiten darzustellen und entsprechend zu phrasieren, geht die unmittelbare Ausdruckskraft kleinerer Details melodisch-figurativer oder harmonischer Natur verloren, die beim Bach-Sohn einfach mehr Aufmerksamkeit verdient, ja unbedingt benötigt. Die delikaten, asymmetrischen Akzente im 1. Satz (Allegro di molto – Hamelin: CD 2, Track 6) wirken bei ihr völlig willkürlich, gar deplatziert, somit gänzlich unverständlich: Sie schafft zwar irgendwie die „Quadratur“ der Taktgruppen gemäß dem klassischen Schema; sinnstiftend wirkt das hier jedoch gerade nicht. Vielmehr glaubt der Hörer, die Akzente seien nicht ganz „nüchtern“ zustande gekommen.

Wie etlichen Interpreten auf zeitgenössischen Instrumenten – auf die ich hier nicht eingehen möchte – gelingt es Hamelin oder Mikhail Pletnev schon durch leicht inegales Spiel, das kokette Insistieren auf dieser zweiten rhythmischen Ebene zu verdeutlichen, sie aber vor allem überhaupt erst klar hörbar zu machen. Das klingt bei Hamelin dann in der Tat galant – und immer noch elegant! Pletnev gerät dieser Satz überraschenderweise geradezu jazzig. Auch in den anderen Sätzen der beiden Sonaten H 286 und e-Moll H 281 – neben dem Rondo c-Moll H 283 die einzigen Überschneidungen von deren Alben – übertrifft Pletnevs Entdeckerlust und sein offenes Ohr für Feinheiten Hamelin. Im Tempo ist man sich übrigens auffallend einig. Trotzdem ist Hamelins Doppelalbum überragend: Weniger die im Detail durchgehend gebotene, höchste Präzision und sichere Technik (Triller, rasantes Laufwerk etc. – z. B. Sonate a-Moll H 247, CD 1, Track 3), als vielmehr seine Fähigkeit, größere Verläufe im Auge zu behalten, dabei gleichzeitig die Schönheiten des Augenblicks auszukosten, führen zu diesem Urteil. Selbstverständlich wird überwiegend non legato gespielt, melodische Verbindungen werden geschickt übers Pedal imaginiert, ohne dass das Klangbild jemals schwammig wird. Alles erscheint so ungemein gesanglich – lange eine Grundforderung Bachs an die Pianisten – und Hamelin vermeidet zum Glück, historische Cembali oder Hammerflügel zu imitieren; schon gar nicht beim Abschied von meinem Silbermannischen Claviere H 272.

Die Auswahl von 140 Minuten Musik kann zwar unmöglich einen vollständigen Querschnitt von C. P. E. Bachs Klaviermusik abbilden. Immerhin umfasst sie eine Zeitspanne von über 60 Jahren: vom frühen G-Dur-Marsch (vor 1725) aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach über die Sonate e-Moll H 66 (1751) – noch eine 5-sätzige barocke Suite – bis zur besagten D-Dur-Sonate (1785/86) und der zukunftsweisenden Freien Fantasie fis-Moll H 300 von 1787 mit ihrem atemberaubenden Tiefgang – der Höhepunkt der Veröffentlichung. Da ist die Tür für Beethoven bereits ganz weit offen. Wer nicht kategorisch auf historischen Instrumenten besteht, kommt an diesen erstklassigen Interpretationen kaum vorbei. Die perfekte Aufnahmetechnik und der gute, nicht überladene Booklettext von keinem Geringeren als Mahan Esfahani runden den äußerst positiven Eindruck ab.

Vergleichsaufnahmen:

  • Ana-Marija Markovina (Hänssler Classic 98.003, 2005-2013, 26 CD)
  • [Sonaten H 281 u. H 286, Rondo H 283:] Mikhail Pletnev (DG 459 614-2, 1998)

[Martin Blaumeiser, August 2022]

Ein Quartett für den Frieden: Robert Simpsons Streichquartett Nr. 10

CD: Hyperion CDA66225; EAN: 0 34571 16225

Noten: Roberton Publications 95448

Robert Simpson war Symphoniker durch und durch. Wie nur wenige andere Komponisten seiner Zeit beherrschte der 1921 geborene Brite die Kunst des Spannungsaufbaus über lange Strecken hinweg. Motivisch dicht gearbeitet, meist nur wenige motivische Zellen fortwährend variierend, dabei von einer nirgends nachlassenden Bewegungsenergie getragen, sind seine rund 60 Kompositionen durchweg Meisterleistungen in der Gestaltung großer Zusammenhänge. In einigen seiner Werke finden sich Abschnitte, die zum Eruptivsten gehören, was im 20. Jahrhundert geschrieben worden ist. So entfalten beispielsweise die Ecksätze der Fünften Symphonie eine geradezu manische Aktivität; zwei Blechbläserstücke werden durch ihre Titel Volcano und Vortex hinreichend charakterisiert; und der Schlussteil der Siebten Symphonie dürfte wohl der mächtigste Eissturm sein, den je ein Komponist durch den Konzertsaal hat tosen lassen.

Simpson komponierte nicht aus der abgesicherten Position akademisch kodifizierter Regeln heraus. Seine Motivtransformationen, seine Stimmführung, seine Harmonik wirken im besten Sinne abenteuerlich. Die Form eines Stückes war für ihn nichts, das sich im Vorhinein festlegen ließe, sondern ergab sich immer aus dem jeweiligen Kompositionsprozess, der durchaus auch für den Komponisten selbst Überraschungen bereit halten konnte. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung während des Schaffens umschrieb er einmal dergestalt, dass er sich daran erfreue, ein wildes Tier („beast“) loszulassen und es dann zu reiten.

Die Ausbrüche und großen Steigerungen der Simpsonschen Musik stehen freilich stets in einem Kontext, der auch Momente der Ruhe und Einkehr umfasst. Die beiden erwähnten Symphonien enden leise und enthalten ausgedehnte langsame Abschnitte, die sich kaum übers piano erheben. Auch große Teile der raschen Sätze Simpsons spielen sich im piano-Bereich ab. Der häufige Gebrauch von Vortragsbezeichnungen wie tranquillo, dolce und cantabile sollte zudem eine Warnung davor sein, den Komponisten auf die schroffen und kantigen Charakteristika seines Schaffens zu reduzieren.

Die Weltanschauung dieses Mannes, der fähig war Musik von äußerster Heftigkeit zu schreiben, war zutiefst pazifistisch. Er wuchs in einer Familie auf, deren sämtliche Mitglieder in der Heilsarmee aktiv waren. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er als Neunjähriger zum entschiedenen Gegner aller kriegerischer Handlungen, nachdem er auf einer Heilsarmee-Veranstaltung die Rede eines ehemaligen Soldaten über dessen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gehört hatte. Beeindruckt vom Wirken Albert Schweitzers schwankte Simpson als junger Mann eine Zeit lang, ob er Musiker oder Mediziner werden sollte. Als er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Kriegsdienst eingezogen wurde, verweigerte er den Dienst an der Waffe und verbrachte den Rest des Krieges als Mitglied einer mobilen Sanitätseinheit. In der Nachkriegszeit verfolgte er das atomare Wettrüsten der beiden Machtblöcke mit großer Sorge. Zunehmend abgestoßen von dem aufrüstungsfreudigen Kurs der Regierung Thatcher verließ er Großbritannien 1986 und zog nach Irland.

Ein schwerer Schlaganfall riss Simpson 1991 aus der produktivsten Phase seines Lebens. Hatte er in den vorangegangenen zehn Jahren rund die Hälfte seines Lebenswerks geschaffen, so gelang es ihm bis zu seinem Tode 1997 nur noch, ein bereits begonnenes Streichquintett fertigzustellen. Zu den Projekten, die Simpson nicht mehr realisieren konnte, gehört seine Zwölfte Symphonie, die als Chorsymphonie gedacht war. Es hat sich allerdings ein Programm erhalten, demzufolge das Werk die Evolution des Lebens zum Thema haben und auf eine pazifistische Botschaft hinauslaufen sollte:

„I. The formation of the sun and solar systems in a gas cloud.

II. The appearance of the most primitive form of live.

III. Division into plant and animal kingdoms.

IV. The active, aggressive animal – the growth of intelligence.

V. Violence. The aggressive stimulus to inventiveness.

VI. Wisdom. At all times it has existed, but has never been able to prevent the pervasive violence.

VII. The species has hitherto been able to survive its own violence, but no longer. Now it can destroy itself.

VIII. Non-violence or non-existence (Martin Luther King). The laws of chance provide for no other solution.“

Ein ausdrücklich dem Thema „Frieden“ gewidmetes Werk existiert jedoch aus Simpsons Feder: das Streichquartett Nr. 10, dem er den Titel For peace gab. Es entstand 1983 im Auftrag des dem Schaffen des Komponisten besonders verbundenen Coull Quartet, das am 23. Juni 1984 in der University of Warwick die Uraufführung spielte. Im Vorwort zur Partitur schrieb Simpson, diese Musik sei „kein Ausdruck quälender Angst“, sondern „versuche den Zustand des Friedens zu definieren“. Wie das Programm zur Zwölften Symphonie verrät, sieht Simpson den Frieden als Entschluss der Menschen gegen die Entfesselung der zerstörerischen (und selbstzerstörerischen) Kräfte, die ihnen durch die Evolution zuteil geworden sind. Es geht um den bewussten Umgang mit etwas, das in der Welt ist und weder ungeschehen gemacht, noch geleugnet werden kann. Frieden zu halten ist mithin ein Akt der Entscheidung und des Handelns.

Wie schlägt sich das in der Musik nieder? Simpson hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts davon hielt, die auf Quintverwandtschaften aufgebaute Tonalität durch präfixierte Systeme wie die Zwölftontechnik zu ersetzen. Er arbeitet immer mit tonalen Bezügen. Allerdings vermeidet er weitgehend den Einsatz klassischer Dominantharmonien und hält stattdessen die Musik nahezu durchgehend in einem harmonischen Schwebezustand. Bereits die Themen selbst durchschreiten in der Regel mehrere tonale Zentren. Simpson denkt polyphon und bildet durch Stimmführung eine Vielzahl Vorhaltsdissonanzen unterschiedlicher Spannungsgrade, die er oft nicht auflöst. Daraus ergibt sich, dass in seiner Musik über lange Strecken Dissonanzen auf Dissonanzen folgen. Verwundert es angesichts dieser Stilmittel, dass er sein Komponieren als einen Ritt auf einem wilden Tier beschrieb? Eine latente Spannung ist also bei Simpson immer vorhanden, auch im Streichquartett „für den Frieden“. In diesem Werk enthält er sich nach eigenen Worten der „Agressionen, nicht aber der starken Gefühle“. Die Herausforderung bestand für den Komponisten offenbar darin, mit Stilmitteln, die zur Schärfung des Tons und zur Zuspitzung konflikthafter Situationen bestens geeignet sind, ein Werk friedlichen Grundcharakters zu schaffen.

Simpsons Zehntes Streichquartett ist dreisätzig und dauert ungefähr 27 Minuten. Einem Allegretto-Kopfsatz (3/4-Takt) folgt ein ganz kurzes, scherzoartiges Prestissimo (2/4-Takt). Das Finale ist ein langsamer Satz (Molto Adagio, 3/4-Takt, am Ende 9/8-Takt bei gleichem Tempo), der allein etwa zwei Drittel der Gesamtspielzeit einnimmt. Satzfolge und Proportionen des Werkes erinnern an Beethovens Klaviersonate op. 109, allerdings ist nicht bekannt, ob Simpson – immerhin einer der besten Beethoven-Kenner – eine Anspielung an dieses Stück beabsichtigt hat. Alle drei Sätze sind überwiegend leise gehalten, aber jeder von ihnen steigert sich gegen Ende zu einem Höhepunkt im fortissimo, bevor sich die Musik wieder beruhigt. Dass der Frieden durchaus gefährdet ist, macht vor allem der letzte Satz deutlich. Sein Hauptgedanke ist ein Doppelthema, dessen zwei Stimmen vorwiegend in konsonanten Zusammenklängen geführt werden, wobei sich keine eindeutige Tonika durchsetzt. Es gewinnt im Laufe des Satzes durch rhythmische Variation ein wenig an Lebhaftigkeit, ohne dadurch seine ruhige Grundstimmung einzubüßen. Auch verbleibt die Musik über weite Strecken in der Zweistimmigkeit. Umso mehr überrascht das Fugato im letzten Satzdrittel. Mit der Ruhe ist es hier schlagartig vorbei: Alle vier Instrumente spielen durchweg fortissimo, immer kleinere Notenwerte dominieren das Geschehen und scheinen das Adagio in ein entfesseltes Allegro verwandeln zu wollen. Da besinnt sich die Musik plötzlich eines anderen und sinkt ins pianissimo zurück. Die erste Violine spielt eine graziöse Melodie, ein letztes Mal erscheint das Hauptthema in seiner Anfangsgestalt, und das Werk verklingt in einem ganz leisen Quartsextakkord.

Im Rahmen dieser kurzen Vorstellung ist es unmöglich, auf die ganzen Feinheiten ausführlich einzugehen, die dieses Quartett (wie auch die übrigen Streichquartette Simpsons) bietet. Wer hören will, wie Robert Simpson sich die musikalische Umsetzung des Friedens dachte, greife zu der Einspielung, die das Coull Quartett 1986 für Hyperion gemacht hat. Die Partitur ist 1990 bei Roberton Publications erschienen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Sehr und weniger Entdeckenswertes

Hyperion, CDA68268; EAN: 0 34571 28268 8

Linus Roth spielt die Violinkonzerte D-Dur op. 87 von Eduard Lassen, G-Dur op. 95 von Philipp Scharwenka sowie das Konzert BVN289 aus der Feder Rued Langgaards. Begleitet wird er durch das BBC Scottish Symphony Orchestra unter Stabführung von Antony Hermus.

In der Reihe „The Romantic Violin Concerto“ von Hyperion entdecken Künstler zu wenig beachtete Konzerte der romantischen und postromantischen Epoche. Auch im nunmehr 22. Teil der Serie werden wieder Schätze gehoben, die man nur selten aufgenommen findet.

Besonders hervorzuheben ist hierbei die Aufnahme von Philipp Scharwenkas Violinkonzert G-Dur op. 95, das vom ersten Ton an fesselt und die Spannung das gesamte Werk über aufrecht hält. Den Namen Scharwenka verbindet man heute in erster Linie mit Philipps jüngerem Bruder Xaver, einem der gefragtesten Klaviervirtuosen seiner Zeit, und dem von den beiden Geschwistern in Berlin gegründeten Musikinstitut. Außer Acht gelassen wird dabei meist die Tatsache, dass beide Brüder zu den substanziellsten Komponisten ihrer Epoche gehören. Das hier zu hörende Violinkonzert besticht durch große Bögen, orchestrale Vielfalt, ansprechenden Kontrapunkt und herrliche Melodien. Die rhythmisch mannigfaltigen Randsätze reißen mit, der Mittelsatz bannt den Hörer mit innigster Lyrik. Gerade im Vergleich weniger überzeugend erscheint das D-Dur-Konzert Eduard Lassens: die Läufe des Solisten brechen immer wieder ab, die virtuosen Passagen wirken holprig und gewollt, teils gar unpassend. Zudem langweilt der Orchesterpart durch rhythmische Eintönigkeit und mangelnde Stimmvielfalt, die im Kopfsatz in blanke Nacktheit umschlägt. Das Finale gelang am ehesten. Gewiss gibt es manch interessante Effekte wie eine stets mit der gleichen Note gedoppelte Passage und auch die Themen sind durchaus attraktiv, hingegen die Umsetzung in die große Form mit den Möglichkeiten eines Orchesterapparats scheiterte. Langgaard gehört dagegen wieder zu den Komponisten, die mehr beachtet werden sollten, aber noch zu Lebzeiten (schon nach der Uraufführung der ersten seiner sechzehn Symphonien) in Vergessenheit gerieten. Das einsätzige Violinkonzert wirkt konfrontiert mit anderen Gattungsbeiträgen der Zeit schlicht und unprätentiös, dafür umso intensiver, gespickt mit Finessen und inspirierten Details.

Der Solist Linus Roth stellt sich ausdauernd allen drei hoch anspruchsvollen Werken. Selbst durch den langatmigen Lassen kämpft er sich wacker und versucht, das Beste aus den verqueren Laufpassagen zu ziehen, oftmals eben dadurch, das Fragmentarische zu betonen und daraus eine Ästhetik werden zu lassen. Den knappen Orchesterstimmen versucht er eine volle Solopartie anbeizustellen, um den Gesamteindruck klanglich aufzufüllen. Bei Scharwenka vereinen sich Solist und das BBC Scottish Symphony Orchestra unter Antony Hermus klanglich wie musikalisch – dieses Meisterwerk kann nur in enger Absprache und perfekter Symbiose bewältigt werden. Auch die Aufnahmetechnik spielt glücklicherweise mit und wir erleben die volle Vielseitigkeit und Fülle von Scharwenkas Musik. Auch bei Langgaard hält dies an; die Musiker präsentieren dieses traditionelle, aber doch mit Eigenheiten gewürzte Konzert in aller Frische und Lebendigkeit.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Drei Russen und das Cello

Hyperion, CDA68239; EAN: 0 34571 28239 8

Steven Isserlis und Olli Mustonen spielen Cellowerke von Dmitri Schostakowitsch, Sergei Prokofieff und Dmitri Kabalewski. Von Schostakowitsch hören wir die Cellosonate d-Moll op. 40 sowie das Moderato für Cello und Klavier, aus der Feder Prokofieffs erklingt die Ballade C-Dur op. 15 und sein Arrangement des Adagios „Cinderella und der Prinz“ op. 97bis, von Kabalewski spielen die Musiker die Cellosonate B-Dur op. 71 und das Rondo in Gedenken an Prokofieff op. 79.

Die drei Komponisten Dmitri Schostakowitsch, Sergei Prokofieff und Dmitri Kabalewski waren nicht bloß Zeitgenossen, es herrschte reger Austausch zwischen ihnen – eine Zeit lang wohnten sie gemeinsam mit anderen Tonsetzern im gleichen Haus. Sie alle durchlebten unter Stalins Herrschaft den selben Schrecken und alle drei wurden des Formalismus‘ angeklagt, was sie über Nacht zu personae non gratae machte. Ihr Empfinden jedoch drückten die drei je gänzlich verschieden aus, schrieben je in ganz unterschiedlichen und eigenen Stilen, ohne dass ein Einfluss der jeweils anderen spürbar wäre (vielleicht abgesehen von Kabalewskis Rondo in Gedenken an Prokofieff, doch selbst in diesem wirkt der Widmungsträger lediglich als Randerscheinung).

Von den aufgenommenen Werken setzte sich vor allem die groß angelegte Cellosonate Schostakowitschs durch, die durch den erzählerischen Gestus und die geschickte Handhabung der Form den Hörer gleich in ihren Bann zieht. Anders erging es der frühen C-Dur-Ballade Prokofieffs, von der der Komponist nicht ganz zu Unrecht sagte, das Publikum würde sie beim erstmaligen Hören nicht verstehen. Selbst war Prokofieff allerdings überzeugt von dem Werk (dessen Hauptthema er einem Kindheitswerk entlieh, welches er mit 11 skizzierte) und setzte sie regelmäßig auf seine Programme. Ebenso im Schatten weilt Kabalewskis Cellosonate, was nicht auf das Werk zurückgeführt werden kann, sondern eher auf die politische Unbeliebtheit des Komponisten, der sich zunächst dem Regime beugte und so die Kritik seiner Kollegen auf sich zog, und später nach den Formalismusvorwürfen gegen ihn doch seine Kollegen verteidigte, was wiederum vom Regime verspottet wurde. Heute kennt man Kabalewski vor allem als Komponist kleiner Kinderstücke voller Lebendigkeit, Witz und kecken Ideen vor allem harmonischer Art. Seine symphonischen Werke (unter anderem 4 Symphonien und 7 Solokonzerte!) sowie seine größer angelegte Musik wird beinahe überhaupt nicht aufgeführt. Die reife Cellosonate hebt sich von den anderen Titeln dieser CD wie allgemein aus dem Cellorepertoire ab durch ihre großartige und vor allem genuine Behandlung des Cellos, dessen Stärken ausgekostet werden; die Musik schmeichelt dem Klang des Cellos und vermeidet bewusst solche Passagen, die auf dem Instrument kratzig oder quietschig klingen, wie sie die meisten Komponisten unbeirrt einsetzten. Abgerundet wird das Programm laut Steven Isserlis mit drei „Hobelspänen“ aus der Werkstatt der Meister, von denen besonders Prokofieffs Eigenarrangement des Adagios aus Cinderella hinreißenden Charme besitzt.

Musikalisch divergieren Steven Isserlis und Olli Mustonen deutlich: Isserlis nimmt seine Cellopartien hochexpressiv und dramatisch, während Mustonen vorwiegend nüchtern bleibt, seinen Anschlag prägnant hält. Beide Musiker brillieren durch Präzision und technische Meisterschaft, wirkliche Durchdringung des musikalischen Inhalts spüre ich jedoch keine, weshalb gerade die längeren Sätze schnell bröckeln und den Hörer auf der Strecke lassen. Überzeugen können entsprechend die raschen, technisch anspruchsvollen Sätze bei Schostakowitsch und Kabalewski, die auch ohne tieferes Verständnis ihre Wirkung nicht verfehlen; weniger begeistert dafür die Prokofieff-Ballade und der Kopfsatz von Schostakowitschs Sonate. Klangmagie entfalten die Musiker im Adagio aus Cinderella und auch das Moderato für Cello und Klavier von Schostakowitsch lockt durch ansprechende Schlichtheit.

[Oliver Fraenzke, April 2019]

Schuberts Vollendung

Hyperion, CDA68213; EAN: 0 34571 28213 8

Franz Schubert: Sonate B-Dur D960, Vier Impromptus D935; Marc-André Hamelin (Klavier)

Späte Klavierwerke von Franz Schubert hören wir auf der neuesten CD von Marc-André Hamelin. Knappe 82 Minuten dauert das Programm mit der letzten Klaviersonate in B-Dur D960 und den vier Impromptus D935.

Oft werden die letzten drei Sonaten Franz Schuberts mit denen Ludwig van Beethovens verglichen: Nicht nur, dass Schubert seinen Wiener Kollegen zeitlebens zutiefst bewunderte, nein, sondern wie auch dieser schrieb er drei umfangreiche Klaviersonaten, die in einen Band zusammengehörten. Die Vermutung liegt nahe, Schubert sei sich seines baldigen Todes bewusst gewesen und wolle aktiv den Bezug zu Beethoven suchen. Dagegen spricht, dass sich gerade die letzte der Sonaten Schuberts, B-Dur D960, sichtlich von seinem Idol distanziert, sie beschreitet harmonisch wie auch strukturell ganz eigene Wege. Tatsächlich entstehen kann jedoch der Eindruck eines Epitaphs für sich selbst; die Musik wirkt derartig abgeklärt und vollkommen, dass ihr nichts mehr hinzuzufügen wäre – Schubert hat mit gerade einmal 31 Jahren alles gesagt, was einem Menschen möglich ist, auszudrücken.

Den Begriff Impromptu prägte der tschechische Komponist Jan Voříšek, der ihn für relativ kurze und auch für Liebhaber realisierbare Klavierstücke verwendete. Schuberts zwei Bände mit jeweils vier Impromptus greifen die formale Geschlossenheit auf, doch gerade der zweite Band erschließt pianistisch neue Wege.

Das Spiel Marc-André Hamelins verströmt Tiefe und Innerlichkeit. Die Dramatik besonders in den ersten beiden Sätzen der Sonate verlagert er in die menschliche Innenwelt, trumpft nicht durch äußerliche Effekte auf. Allgemein wendet Hamelin seine Mittel ökonomisch an, verteilt sie auf die gesamte Form und schafft so eine miterlebbare Zusammengehörigkeit. Einzig unverständlich bleibt mir die Wiederholung im Kopfsatz der Sonate: Die Musik ist so weit fortgeschritten und hat sich weit vom Ausgangspunkt entfernt, der Sprung zurück unterminiert den gesamten energetischen Ablauf. Bei den Impromptus hingegen verzichtet Hamelin auf einige der längeren und gegenstandslosen Wiederholungen. Selbst in den rhythmisch treibenden Impromptus, vor allem im letzten, behält Hamelin die Kontrolle über jede einzelne Note und lässt sich zu keiner Zeit von der enormen Gefühlswelt übermannen. Fein abgestimmt sind die kleinen Tempowechsel, die Hamelin besonders in der Sonate gebraucht, um sie formal zu gliedern.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

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Drei Epochen eines Meisters

Hyperion, CDA68211; EAN: 0 34571 28211 4


Dussek Piano Concertos E flat major Op. 3, F major Op. 14, G minor op. 49; Ulster Orchestra, Howard Shelley (Klavier und Leitung) – Ther classical piano concerto

Drei Klavierkonzerte des aus Böhmen stammenden Komponisten Jan Ladislav Dussek (auch Dusík) bilden das Programm der vorliegenden CD. Zunächst hören wir das frühe Es-Dur-Konzert op. 3, dann das reifere F-Dur-Konzert op. 14 und zuletzt das Konzert g-Moll op. 49 (oder 50). Es spielt Howard Shelley, der zugleich auch das Ulster Orchestra leitet.

Der Pianist und Komponist Jan Ladislav Dussek steht am Rande der heutigen Wahrnehmung: Weder ist er völlig unbekannt, noch gehören seine Werke zum Kanon der regelmäßig gespielten und aufgenommenen Musik. Hin und wieder können seine Klavier- oder Violinsonaten gehört werden und mit Glück auch andere Kammermusikwerke – seine wenigen Orchesterwerke (Dussek schrieb ausschließlich Klavier- und Harfenkonzerte, keine reine Orchestermusik) hingegen blieben größtenteils auf der Strecke.

Mit der vorliegenden CD können wir nachvollziehen, wie sich Dussek als Konzert-Komponist entwickelte und wie er seine eigene Ausdruckswelt erschloss. Das Es-Dur-Konzert op. 3 hängt noch stark an den Vorbildern Haydn und Mozart, versucht sich an den Formmodellen und Charakteren der Wiener Meister. Heraus kommt ein solides Konzert, das zwar noch im Schatten der Idole steht, aber doch aufhorchen lässt. Eigenständiger gestaltet sich bereits das F-Dur-Konzert op. 14, das am Übergang steht zwischen einem Stil der Wiener Klassik und einer langsam aufkeimenden eigenen Kompositionssprache. Das op. 14 ist das letzte Konzert mit einer Solokadenz, in allen nachfolgenden Werken gab er diese Art der Zurschaustellung des Solisten auf. Den Höhepunkt bildet das Konzert op. 49 in g-Moll, das beinahe die doppelte Länge besitzt wie das op. 3 und sowohl formal als auch inhaltlich vollkommen neue Wege beschreitet. Das Konzert reißt tiefe Abgründe auf und schafft extreme Kontraste, reißt dem Hörer in manchen donnernden Passagen des Kopfsatzes regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Kein anderes Klavierkonzert von Dussek steht in einer Molltonart, dafür schöpft er die Dramatik der Tonart voll aus.

Die formale Konzeption der späteren Klavierkonzerte weicht bereits deutlich vom klassischen Formmodell ab, immer wieder nimmt die Musik unkonventionelle Pfade und geht eigenwillige Richtungen. Auch die Themen Dusseks fallen auf: Sie sind prägnant, einprägsam und haben doch immer eine eigene Note oder eine unerwartete Wendung. Musik von Dussek kann nach wenigen Takten schon alleine durch die Themen wiedererkannt und ihm zugeschrieben werden.

Schade, dass solch eigenständigen und meisterlichen Konzerten keine ebenbürtige Einspielung zuteil wird. Das Spiel von Howard Shelley zeichnet sich durch perfekte Fingerfertigkeit und glänzende Mühelosigkeit aus – was allein durch die unüberschaubare Vielzahl seiner Aufnahmen und die enorme Größe seines Repertoires beinahe eine Selbstverständlichkeit ist. Doch darüber hinaus besitzt seine Darbietung keine Aussage, was einmal wieder zeigt, dass Quantität nicht für Qualität stehen muss. Leichtfüßig bezwingt Shelley die technischen Herausforderungen der drei Konzerte, wirkt dabei allerdings eher, als würde er eine Schreibmasche bedienen, und kein Klavier. Auch wäre es besser gewesen, dem Ulster Orchestra einen Dirigenten voranzustellen und diese Aufgabe nicht dem Pianisten zu überlassen. Natürlich war es um 1800 üblich, dass der Solist das Orchester leitet, aber mit einem eigenen Dirigenten ließen sich doch wesentlich mehr Details herausarbeiten. Das Ulster Orchestra wirkt in dieser Aufnahme starr und unflexibel, stellenweise gar gleichgültig. Es wird rein der Musik überlassen, den Hörer anzusprechen, die Musiker erfüllen ihren Teil dessen nicht.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Verschmelzende Gegensätze

Hyperion, CDA68189; EAN: 0 34571 28189 6

Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes spielen Musik von Igor Strawinsky für zwei Klaviere. Auf dem Programm stehen die Bearbeitung des Sacre du Printemps, das Konzert für zwei Klaviere, Madrid, Tango und die Circus Polka.

Unterschiedlicher könnten die Partner für das vorliegende Programm kaum sein: Leif Ove Andsnes, der sein Spiel bewusst zügelt, zurückgenommen und zart musiziert, trifft auf Marc-André Hamelin, der gerne die Virtuosität triumphieren lässt und dessen Repertoire gefühlt alles umfasst, was im Volksmund als „unspielbar“ gilt. Ein Meister der Beethoven-Konzerte trifft auf einen Alkan-, Busoni- und Godowsky-Kenner. Was die beiden Pianisten eint, ist ihre spürbare Liebe zum Detail, ihr fanatischer Fokus auf das Innermusikalische. Keiner der beiden würde jemals ein Werk lieblos vortragen, nur um sein Können zu präsentieren; trotz allen Erfolgs handelt es sich in keiner Weise um Showmen, sondern um ernstzunehmende und wahrhafte Musiker.

Und das Aufeinandertreffen funktioniert: Die beiden so grundverschiedenen Spielweisen harmonieren und vereinen sich zu einem tief ergründeten Kunstwerk. Die vierhändige Fassung des Sacre du Printemps ist berüchtigt für ihre horrenden Anforderungen technischer Natur, entsprechend üblich sind da virtuos-halsbrecherische Darbietungen, die ausschließlich der Selbstdarstellung und nicht der Musik dienen. Wie viel Farbe doch in dem Auszug steckt, beweisen Andsnes und Hamelin auf eindrucksvolle Weise: Selbst wenn die originale Orchesterversion nicht bekannt wäre, würde man orchestrale Färbungen im Spiel der beiden Pianisten ausmachen. Beide setzen die spezifischen Charakteristika der Orchesterinstrumente auf dem Klavier um, transzendieren entsprechend den Klang über den eines reines Tasteninstruments hinaus. Der vollstimmige Satz bleibt transparent, die einzelnen Stimmen heben sich klar voneinander ab. Zu keiner Zeit wird die Musik geräuschhaft, sie bleibt durchweg menschlich und natürlich, selbst in ihren archaischsten Momenten. Die anderen Stücke der Aufnahme sind auf dem selben überragenden Level vorgetragen: Das sperrige Konzert für zwei Klaviere nimmt klare Konturen an, erscheint – was wirklich selten ist – auf Anhieb verständlich, und die drei kleinen Piècen Madrid, Tango und Circus Polka geben sich als echte Perlen mit Charakter und Substanz zu erkennen.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Zurück in den Kontext

Hyperion, CDA68209; EAN: 0 34571 28209 1

Kirchenmusik von Gabriel Fauré vereint die neueste CD von David Hill und der Yale Schola Cantorum mit dem Organisten Robert Bennesh. Neben dem Requiem op. 48, in einem Arrangement des Dirigenten für Chor, Orgel, Violine, Cello und Harfe, hören wir Messe basse, Maria mater gratiae op. 47/2, Ave Maria op. 67/2, Ave verum op. 65/1, Fuge a-Moll und e-Moll op. 84/3 und 5, Ave Maria op. post, Tantum ergo op. 65/2 und op. 55 sowie Cantique de Jean Racine op. 11.

Berühmt geworden ist das Requiem von Gabriel Fauré in seiner Fassung für großes Orchester und Chor. Erst seit den Editionen der 1980er Jahre kam uns ins Bewusstsein, dass dieses Stück ursprünglich klein besetzt war. Dem kammermusikalischen Gestus wird David Hill in seinem Arrangement gerecht, das neben der unverzichtbaren Orgel zwei Streicher verlangt und die Harfe hinzufügt. Die Streicher mischen sich mit dem flächigen und fließenden Klang der Sänger, während die Harfe sich in ihren feinen Figurationen abhebt und den Klang bereichert.

Die vorliegende Vokalmusik erfreut durch beinahe klassische Einfachheit des Ausdrucks und ihren versöhnlichen Gestus. Sie erhebt nicht den Anspruch, zu erneuern, wie es Faurés jüngerer Kollege Claude Debussy zur gleichen Zeit tat und wie es Faurés Schüler Ravel, Enescu oder Koechlin jeder auf seine Weise fortsetzen sollten. Faurés Prägung rührte eher von Camille Saint-Saëns her, seinem verehrten Lehrer aus Jugendtagen, mit dem er lebenslang befreundet war, oder von Jules Massenet, dessen Nachfolge er am Pariser Konservatorium antrat. Es ist sinnliche Musik, melancholisch geprägt und von innigstem Feingefühl.

Die Darbietungen durch David Hill und der Yales School Cantorum zeichnen sich durch ihre Zurückgenommenheit aus. Nach auftrumpfenden Höhepunkten suchen die Musiker nicht, ebenso schmettern und dröhnen sie nicht, an Stelle dessen tritt ein gebändigter Ausdruck, der milde versöhnt. Dies unterstreicht die Wirkung von Faurés Musik, der nicht umsonst die aufbrausenden Passagen des Requiems nur abgedämpft vertonte, sich statt dessen auf die lichteren Aspekte stützte. Die Sänger betören mit klarer Linienführung und dynamischer Fülle, subtil untermalt die Orgel. Fauré schrieb eine Musik, die den Glauben bestärkt und mit Hoffnung unterfüttert; unweigerlich wird man als Hörer hineingezogen in den transzendierenden Fluss der Töne.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Ein Pazifist gegen den Strom

Hyperion, CDA68203; EAN: 0 34571 28203 9

Die ersten beiden der insgesamt vier Symphonien des in London geborenen Komponisten Michael Tippett sind auf vorliegender CD von Hyperion in einer Aufnahme mit Martyn Brabbins und dem BBC Scottish Symphony Orchestra zu hören.

Die frühen Jahre des britischen Komponisten Sir Michael Tippett waren in vielerlei Hinsicht traumatisch: Er erlebte als Kind den ersten Weltkrieg, bekam den finanziellen Ruin seiner Familie unmittelbar mit, wurde missbraucht, und seine frühen „Kompositionen“ wurden als wildes „Klimpern“ abgetan. Es dauerte einige Zeit, bis Tippett seinen Vater überreden konnte, ihn Musik studieren zu lassen – und er schaffte schließlich seinen Bachelor im zweiten Anlauf, kehrte aber, unzufrieden mit seinen bisherigen Werken, ans College zurück und arbeitete vor allem an seiner kontrapunktischen Ausbildung. Alle früher entstandenen Werke zog er zurück. Der Bookletautor Oliver Soden schreibt, Tippetts Wahl, Musik zu studieren, sei nicht einer genuinen Begabung entsprungen, sondern dem Wunsch, als Pazifist, Linker und Homosexueller gegen das herrschende politische Klima anzutreten. Erste Erfolge stellten sich dann schnell ein, mit A Child of Our Time gelang ihm 1944 der Durchbruch, ein Jahr später beendete er seine erste gezählte Symphonie.

Gegen den Strom wirkt auch diese Musik, trotzige Eigenwilligkeit durchzieht sie. Die volle Orchestergewalt nutzt der Komponist effektiv aus, überrollt den Hörer in manchen Passagen geradezu mit mächtigen Tutti-Walzen. In den beiden viersätzigen Werken schimmern noch klassische Ideale durch, jedoch sind Form und Inhalt demgegenüber weit expandiert. Bildhaft gestaltet sich das Finale der 1945 beendeten Ersten Symphonie, die Melodie entschwindet in immer höhere und fernere Regionen, während sich wuchtige Paukenschläge in den Vordergrund drängen. Musikalische Reflexion des Krieges? Tippett hatte Schlimmes erlebt bei den Bombardierungen, wodurch diese Frage berechtigt erscheint. Die Zweite Symphonie weist elaborierteren Stil und abgeklärtere Kontinuität auf, profiliert sich allgemein schärfer und kantiger als ihr Vorgängerwerk. Am meisten bezaubert hier der zweite Satz, pure und aufwallende Emotionen ergeben ein Bild unverfälschter Zärtlichkeit – natürlich, wie meist bei Tippett, immer wieder unterminiert durch subtile Skurrilitäten.

Die Musiker des BBC Scottish Symphony Orchestras unter Martyn Brabbins spielen auf technisch hohem Niveau. Freude ziehen sie vor allem aus den Klängen der Zweiten Symphonie, die Erste wird eher stoisch exekutiert. Dabei legen sie ihr Augenmerk auf Fülle und Wucht des Klangs, musikalisch hat Brabbyns nur bedingt gearbeitet mit dem vorrangigem Ziel, den Anforderungen einer Aufnahme bezüglich instrumentaler Perfektionierung zu entsprechen.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Kühne Harmonien und brachiale Wucht

Hyperion, CDA68205; EAN: 0 34571 29205 3

Das Klavierkonzert (1932-1936) sowie die zweite Ballade für konzertantes Klavier und Orchester (1943) des bulgarischen Komponisten Dimitar Nenov sind – jeweils in Weltersteinspielung – auf der neuesten CD von Ivo Varbanov und dem Royal Scottish National Orchestra unter Emil Tabakov für Hyperion zu hören.

Es ist bereits einige Jahre her, als ein guter Freund und Kollege mir ein Notenheft eines bulgarischen Komponisten brachte, welches mich sogleich durch seine Prägnanz, markerschütternde Gewalt und halsbrecherische Virtuosität in seinen Bann zog. Es war Klaviermusik von Dimitar Nenov, welche mich seit dem nicht mehr los und meine Umgebung zugleich scheinbar kalt ließ. Dies könnte sich vielleicht nun ändern, wo seine Musik in die kundigen Hände von Emil Tabakov fiel, einem Landsmann Nenovs und selbst substanziellen Komponisten, der auch durch sein herausragendes Dirigat aus der Masse hervorsticht. Angestoßen wurde das Projekt durch den Pianisten Ivo Barbanov, der seit 2012 nach einer mehrjährigen krankheitsbedingten Pause wieder mit ungebrochenem Eifer tätig ist.

Dimitar Nenov war in seinen jungen Jahren gefeiert als Pianist und Komponist, doch war auch als Rundfunkproduzent und nicht zuletzt als Architekt tätig, eine Reihe wichtiger Gebäude und Bahnhöfe in Bulgarien gehen auf seine Planung zurück. Mit der Etablierung des Kommunismus in Bulgarien ab 1944 geriet er als Freigeist unter Generalverdacht und wurde mehrfach öffentlich diffamiert, seine Aufnahmen wurden vernichtet und einige Werke durch fremdes Zutun bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Auch wenn sich die Intensität dieser Anfeindungen bald abschwächte, blieben die Spuren dieser Erfahrungen im Schaffen Nenovs unverkennbar bestehen. Nach seinem Tod 1953 war er dann schnell vergessen.

Kühne Harmonien und brachiale Wucht zeichnen die Musik des Bulgaren aus, beinahe zwangsläufig schwingt ein gewisses Unbehagen mit. Selbst extravertiert ausgelassene Passagen weisen eine gewisse Doppelbödigkeit auf, eine unterschwellige Melancholie und Traurigkeit sind durchgehend bezeichnend für Nenovs Musik. Füllige Akkorde in groß besetztem Orchester geben den Werken Dichte und verleihen ihnen eine fast ausweglos scheinende, erdrückende Kraft. Gesangvolle Linien schlagen plötzlich in blanke Gewalt um, Schimmer der Hoffnung werden schnell hinweg gefegt. Diese Musik hat etwas Beängstigendes, aber in gleichzeitig Faszinierendes und Unergründliches.

Die formale Gestaltung des Klavierkonzerts umfasst riesige Dimensionen und überschreitet das beim ersten Hören Erfassbare. Das knapp 45 Minuten dauernde Werk umspannt zwar wie gewohnt drei Sätze, doch hängen diese thematisch zusammen und es entsteht die Wirkung eines einzigen, alles verbindenden Satzes. Martin Georgiev schreibt in seinem rundum informativen Booklettext, die Gesamtheit entspreche einer sehr umfassenden und weitausgreifenden Sonatenhauptsatzform, womit Nenov alles Dagewesene bis hin zu Bruckner und Mahler um Längen überbieten würde. In dieser Weise zeigt sich das Konzert natürlich beim bloßen Hören nicht erkennbar, das Konstrukt übersteigt das vom Menschen Korrelierbare um einiges. Ebenfalls groß dimensioniert ist die Ballade Nr. 2 für konzertantes Klavier und Orchester angelegt, die allgemein etwas zurückgehaltener erscheint als das bombastische Klavierkonzert und auch eine größere Ruhe ausstrahlt. Das Klavier integriert sich mehr in das Orchestergeflecht und steigt eher aus ihm empor, als einen eigenen, nur bedingt von seiner Umgebung abhängigen Part zu bilden.

Den an die Grenzen des anatomisch Bewältigbaren gehenden virtuosen Herausforderungen ist der Pianist Ivo Varbanov souverän gewachsen, auch ist ihm der trockene, nüchterne Ton zu eigen, der für solch eine Gewaltmusik notwendig ist. Nichts wird verschönert, die Musik wird mit all ihren Kanten und Unebenheiten wiedergegeben, die sie so charakteristisch machen und ihr den diabolischen Charme verleihen. Und doch wäre in manchen, gerade in den ruhigeren Passagen wünschenswert, in der Klangqualität des Klaviers doch auch über die simple Tastenebene hinauszuwachsen, Höhepunkte trompetenartig hervorzuschmettern, tiefe Passagen Fagott-artig zu behandeln und allgemein die Melodik gesanglich aufblühen zu lassen, den Tönen Leben zu verleihen, wo dies am Platze ist. Dies wird erst auffällig durch den Unterschied zum Dirigat Emil Tabakovs, der jede Stimme für sich leben lässt und selbst in den hämmerndsten Klangkaskaden den Sinn für eine subtileree Phrasierung behält. Tabakov holt alles an Musik heraus, was diese auf den ersten Blick oberflächlich-stumpf erscheinenden Klangorgien bieten – und definitiv mehr, als man erwarten dürfte.

[Oliver Fraenzke, August 2017]

Vom Unerhörten zum Unhörbaren

Hyperion CDA 68 108; EAN: 0 34571 28108 7

Steven Osborne spielt Stücke von Morton Feldman* und George Crumb**:
Intermission 5*,   Processional**,   Piano Piece 1952*,   Extensions 3*,   A Little Suite for Christmas A.D. 1979** ,  Palais de Mari*.

Als ich 1991 im Rahmen des Münchner Pfingstsymposiums zum ersten Mal ein Stück für Violine und Klavier von Morton Feldman hörte, war der Eindruck äußerst stark und nachhaltig. Seinen Band mit Essays musste ich deswegen sofort haben, allerdings lag er dann eben – wie das manchmal so geschieht – jahrelang unbeachtet herum. Die CD mit Klaviermusik von Feldman und Crumb holte dies Buch endlich ans Licht und es erwartete mich wiederum eine ganz besondere Überraschung: Nicht nur die Musik  von Morton Feldman fesselte mich wie eh und je, auch er als Schreiber und Denker, als Essayist ist ein überaus spannender und beeindruckender Kopf, der nicht nur mit unzähligen Malern und Musikern Kontakt hatte oder sogar befreundet war, es macht auch verständlich, wie er selbst seine Rolle als zeitgenössischer Komponist sah und gesehen haben wollte. Ein besonders lesenswertes Buch zur Musik des 20. Jahrhunderts, nicht nur der amerikanischen.

Die CD selbst „prunkt“  mit einem ausgezeichneten Booklet – dreisprachig natürlich –, in dem zu allen Stücken Verständliches gesagt wird. Selbstredend muss ein Pianist, der diese „utopische“ Musik realisieren möchte, nicht nur sein Handwerkszeug beherrschen, was klar ist, er muss die Utopie der Musik von Feldman und Crumb, die sich jenseits der ausgefallensten Klavierstile des 20. Jahrhunderts bewegt, zum Klingen bringen, besser gesagt, Klang werden lassen, denn das ist eine der Voraussetzungen für diese „Musik“, die ans „Unhörbare“ grenzt und grenzen will. Sie will den Rahmen des „normalen“ Komponierens oder auch „Aufführens“ sprengen und den Hörer mit „seinem“ Hören alleine lassen. Wie uns die moderne Malerei oftmals auch mit der Unendlichkeit einer einzigen Farbe in die Irritationen des Gegenständlich-Abstrakten stürzen möchte, wo es keine Erklärung oder keine hilfreichen Definitionen mehr geben kann.

Kein Wunder, dass in New York um 1950 – Morton Feldman und John Cage wohnten eine Weile im selben Hochhaus – alles in Bewegung war, im Aufruhr, denn man wollte endlich die eingefahrenen – sehr oft europäisch ererbten – Kriterien von Kunst und Können, bzw. Müssen, hinter sich lassen.

Alles wird relativiert und in Frage gestellt, Zeit und Ort der Aufführung, Dauer und Art – einige Stücke von Morton Feldman dauern über 4 Stunden – und der einzelne Ton, der einzelne Klang wird in seine ursprüngliche Unfassbarkeit und „Wunderlichkeit“ zurückgeführt.

Kein Wunder also, dass nach dem Anhören dieser Musik, dieser Klänge bis hin zum Unhörbaren eine neue Sensibilität für alle andern Arten sich einstellen kann und möchte. Die große Frage, die sich nach dem Anhören dieser „Musik“ stellt, ist die, ob Klänge oder Klangerlebnisse dieser Art überhaupt aufgeschrieben bzw. komponiert werden müssen, oder ob sich solches Erleben nicht viel besser und adäquater im Augenblick, das heißt, in der Improvisation gültig macht – Musik ist eine „Zeitkunst“, der hörbare (oder unhörbare) Moment ist das Wesen solcher Kunst!

Ob allerdings dieser Weg ein Echo findet in der heutigen – alles ist machbar, Herr Nachbar! – Welt, ist mehr als fraglich, doch umso begrüßenswerter ist diese CD.

(Allein die Gelassenheit und Zeit, die solche Stücke fordern, lässt das ganze Projekt sehr idealistisch und notwendig erscheinen!)

[Ulrich Hermann, Juli 2016]