Musica Viva: Herkulessaal, München; Helmut Lachenmann; Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Peter Eötvös (Leitung), Pierre-Laurent Aimard (Klavier)
Helmut Lachenmann und Peter Eötvös (Foto von: Astrid Ackermann)
Auch Anfang Juni 2018 bietet die musica viva wieder drei Konzerte. Heute (9.6.) noch das Stifterkonzert mit dem Chamber Orchestra of Europe, gestern und vorgestern zweimal – was ziemlich ungewöhnlich ist – ein ausschließlich Werken Helmut Lachenmanns (* 1935) gewidmetes Programm im Herkulessaal, darunter die Uraufführung der 36-minütigen Musik für acht Hörner und Orchester „My Melodies“. Letztere wurde zu einem Triumph für den Komponisten. Ich besuchte die zweite Aufführung am Freitag, dem 8.6.2018.
Helmut Lachenmann galt ja über Jahrzehnte als ein Komponist, der völlig non-konformistisch für eine Ästhetik der Verweigerung stand. Nicht nur erwartete er von seinem Publikum ein offenes Ohr für gänzlich neuartige Klänge – an sich noch kein Alleinstellungsmerkmal. Vielmehr liefen auch derart viele sichtbare Aktionen der ausführenden Musiker hörbar gewissermaßen „ins Leere“, was schon ungemein provozieren konnte, aber den Blick des Hörers auf sich selbst als oft nur Konsumierenden frei legte.
Das Orchesterkonzert im Herkulessaal beginnt mit einem Werk für Klavier solo, der halbstündigen Serynade von 1997/98, Lachenmanns Frau Yukiko Sugawara gewidmet. Pierre-Laurent Aimard spielt auf seinem eigens mitgebrachten Flügel mit bewundernswerter Genauigkeit und Hingabe dieses Kaleidoskop ausgefeiltester (Nach-)klänge. Denn nicht die zahlreichen, oft großflächigen Cluster spielen hier die Hauptrolle, vielmehr die – mit meist vorher stumm niedergedrückten Tonkombinationen initiierten – durch präziseste Pedalisierung erzwungenen Resonanzen, die dann, quasi im Raum schwebend, übrig bleiben. Man hatte sich mit Einverständnis des Komponisten für eine für mein Empfinden etwas zu offensichtliche Verstärkung entschieden, um dies alles in dem großen Saal hörbar zu machen. Faszinierend, welch unerwartete Welten sich hier trotz weitestgehend ‚konventioneller‘ Bedienung des Instruments (ja, es gibt ein paar einzelne, präparierte Töne) sich hier auftun. Das Stück zerfällt allerdings im Verlauf zunehmend in Einzelereignisse.
Danach kommt ein recht kurzes, dafür umso kurzweiligeres und bissiges Stück, Marche fatale in der Fassung für großes Orchester. Der erste Höreindruck, es handele sich um eine allzu effektvolle, geradezu vordergründige Marschadaption mit einigen bekannten Zitaten, täuscht. Diese Collage stellt vielmehr den Marsch an sich als eine irgendwie faschistoide „Handlung“ dar. Mit Verfremdungen innerhalb der erwartbaren periodischen Struktur, einer lustvoll überzeichneten Instrumentation (Celesta!) mit Betonung bestimmter Formanten und einer Augmentation ins Riesenhafte, die im Halse stecken bleibt, wird der Marsch als selbstbetrügerische Huldigung an jedwedes Herrschaftssystem derart lächerlich gemacht, dass sich der Rezipient ernsthaft die Frage stellen muss, was das in einem Konzertrahmen überhaupt zu suchen hat. Dass dies ohne erhobenen Zeigefinger mit rein musikalischen Mitteln geschieht, ist wieder typisch für Lachenmanns Kunst der Nicht-Musik.
Nach der Pause dann das lang erwartete Stück für acht Solohörner und Orchester. Tatsächlich ist My Melodies ein Konzertstück, indem die acht wunderbaren Solisten des BR-Symphonieorchesters inklusive einer Stipendiatin – kurzfristig bestens von Hildegard Schön einstudiert – zwar zwischendurch immer mal für etliche Takte pausieren, aber als Ensemble wie ein Apparat (Lachenmann) sprechen und alles auszukosten scheinen, was überhaupt auf dem Horn möglich ist. Auch das übrige, großbesetzte Orchester (allein 8 Schlagzeuger) nutzt ein gigantisches Spektrum klanglicher Möglichkeiten. Und das einzige Moment an Verweigerungshaltung besteht hier wohl in Lachenmanns Anspruch, sich nicht auf seinem reichen Erfahrungsschatz auszuruhen, sondern offenkundig ständig Neues, Ungewohntes zu erfinden und das Publikum unentwegt wach zu halten. Hier gibt es Witziges, Skurriles, einen „großen Atem“ (ganz wörtlich zu nehmen), Tänzerisches, aber auch tiefenpsychologisch großartige Ausdeutungen und blendend orchestral umgesetzte Gesten – so etwa der für meine Ohren dann trotz aller Opulenz im Hornensemble „verängstigte“ Schluss. Höchstes Lob natürlich auch an den wie immer souverän und entspannt agierenden Dirigenten Peter Eötvös, unter dessen Händen sich die Musiker so sicher wie in Abrahams Schoß fühlen dürfen. Die 36 Minuten vergehen wie im Fluge, Publikum wie Darbietende geben sich gerne Lachenmanns versprochenem Wechselbad hin, Langeweile existiert für keine Sekunde. My Melodies ist schlicht großartig und wird ja auch von anderen bedeutenden Klangkörpern gespielt werden. Man sollte dem Komponisten hier nicht vorschnell eine gewisse Altersmilde unterstellen: Da ist noch so viel Biss drin! Rührend, wie Lachenmann am Schluss am liebsten das gesamte Orchester in den Arm nehmen möchte, echte Begeisterung beim Publikum.
Kammerphilharmonie Da Capo: Alberto Ferro, Klavier; Franz Schottky, Dirigent
Kann es etwas Schöneres geben als einen sonnigen Sonntag-Vormittag und eine Matinée im Münchner Herkulessaal mit Musik von Mozart und Haydn?
Das Publikum wusste die Antwort, es strömte in hellen Scharen herbei. Nachdem die Musikerinnen und Musiker Platz genommen hatten, begrüßte Dirigent Franz Schottky auf seine ganz persönliche Weise die Hörer und sprach einige Worte zum folgenden Stück von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), der Haffner-Symphonie. Sie entstand in einer äußerst arbeitsreichen Phase –Mozart arbeite unter anderem gerade an der „Entführung aus dem Serail“, lehnte aber dabei den Auftrag für die Adelerhebung der befreundeten Familie Haffner nicht ab. Beim Überarbeiten ein Jahr später stellte er selbst fest, was ihm da für ein Meisterwerk gelungen war.
Die Kammerphilharmonie Da Capo mit dazugekommenen Bläsern ließ unter der Stabführung von Franz Schottky auch gleich vernehmen, was für ein immer wieder staunenmachender „Komponierer“ dieser „Donnerblitzbub“ Mozart doch gewesen ist. Das Allegro con spirito erklang in all seiner Größe und seinem Wohlklang vom ersten Ton an. Besonders schön gelang der zweite Satz, das Andante. Dass sich Bläser und Streicher natürlich die Bälle zuspielten, zu einem wunderbaren Gesamtklang – im piano wie im forte – zusammenfanden, ist klar. Natürlich kennt „man“ diese Musik, aber sie live in statu nascendi zu erleben, ist dann doch etwas ganz anderes als daheim auf einer noch so guten HiFi-Anlage. Der zweite wie auch der dritte Satz im Dreier-Takt machten den ganzen Zauber dieser Musik hörbar, ebenso der schnellere Presto-Satz, der aber nie oberflächlich dahin huschte, es wurde genau so intensiv musiziert wie alle anderen drei Sätze dieser herrlichen Meistersymphonie auch. Eine wahre Sonntags-Musik! Den entsprechend wichtigen Bläsern wurde ganz spezieller Beifall zuteil, wie natürlich auch dem gesamten Orchester.
Nach einer kurzen Umbau-Pause kam zum zweiten Stück, dem 11. Klavierkonzert D-Dur von Joseph Haydn, der junge italienische Pianist Alberto Ferro auf die Bühne. Haydns Klavierkonzerte stehen etwas im Schatten seiner Symphonien oder seiner Streichquartette wie auch Oratorien, was aber ein Irrtum ist, wie uns in diesem Konzert gezeigt und vorgeführt wurde. Nach einer kurzen Orchester-Einleitung beginnt der Solist sehr lebhaft. Und Haydns Musik entfaltet melodiös aber auch rhythmisch prägnant alles, was dem Komponisten an Witz, Humor und Einfall zu Gebote stand. Ein Furioso an bewegendsten Klängen, Harmonien, Melodien und Ideen, beim langsamen Andante-Satz ebenso wie beim schnellen Rondo all’ Ungarese, in dem der Pianist all seine Spielfreude in den Dienst dieser großartigen Musik stellte. Das Orchester begleitete bravourös, ließ dem Solisten immer den Raum und auch die Zeit, damit sich Haydns wahre Größe adäquat zeigen konnte. Die Bravos im Schlussapplaus ließen Alberto Ferro ein kleines, überaus sprudelndes und vergnügliches Stück von Gioacchino Rossini als Zugabe spielen.
Nach der Pause stellte Franz Schottky die beiden anderen Stücke von Mozart vor: Adagio und Fuge in c-Moll KV 546, die Mozart im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit der Musik von Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach komponierte, im strengen Fugenstil, und zum Abschluss ds Konzertes die berühmte g-Moll-Symphonie KV 550. Nur das Streichorchester spielte KV 546 mit einer langsamen Adagio-Einleitung, die doch sehr an die barocken Vorbilder erinnert, was allerdings die anschließende Fuge mit ihrem Thema – zuerst von den Celli und Kontrabässen vorgetragen dann durch alle Instrumental-Gruppen wandernd – nicht mehr tat. Was Mozart da an musikalischer und kompositorischer Raffinesse aus dieser strengen Form herausholt, verblüfft auch heute noch, mehr als zweihundert Jahre später. Natürlich war die Kammerphilharmonie in ihrem Element. Der Streicherklang ist „deutsch“, voll und doch durchsichtig und sehr klar die Stimmen aufeinander bezogen.
Zum letzten Stück, der g-Moll Symphonie, kamen noch einmal die benötigten Bläser hinzu. Auch hier wieder: Diese Symphonie ist zwar wohlbekannt, wenn man sie aber im Augenblick des Entstehens hört, ist es doch etwas ganz anderes und berührt auf völlig andere Weise. Die Trias der drei späten Symphonien könnte man durchaus als Mozarts symphonisches Vermächtnis beschreiben, wobei diese melancholischste in g-moll am meisten in die Tiefe des Erlebens geht. Franz Schottky und die Musikerinnen und Musiker der Kammerphilharmonie Da Capo überzeugten mit ihrer Darbietung und ließen uns alle beglückt diese „Ungeheuerlichkeit“ erleben. Vom eröffnenden Molto allegro über das Andante und Menuetto Allegretto bis zum vierten Satz, dem Allegro assai, war die seit ihrer Entstehung so bewegende Symphonie hier wieder einmal in all ihrer Einzigartigkeit und Größe zu erleben. Begeisterter Beifall im sonntäglichen Herkulessaal und Danke für diese musikalische Sternstunde!
Zum musica viva Wochenende im März gab es drei Konzerte. Das Orchesterkonzert am 16.3. im Herkulessaal und die Matinee am 18.3. im Funkhaus widmeten sich je ausschließlich einem Hauptwerk des französischen Spektralisten Gérard Grisey (1946-1998) und bewiesen, dass auch Neue Musik durchaus repertoirefähig ist und echte Meisterwerke nach einiger Zeit zu bejubelten Klassikern werden können.
(c) Astrid Ackermann
Gérard Grisey gehörte zur ersten Generation der sogenannten französischen Spektralisten (mit H. Dufourt, T. Murail und M. Levinas), die sich eine genaueste Erforschung und – immer mikrotonale – Synthese von Klangfarbe auf ihre Fahne geschrieben hatte. Die Entstehung des aus sechs Sätzen bestehenden Zyklus Les Espaces Acoustiques, deren Besetzung sich stetig von einer Solo-Bratsche bis zum großen 85-Spieler-Orchester plus vier Solo-Hörnern steigert, entstand im langen Zeitraum von 1974-1985. Auch bei dieser Aufführung im voll besetzten Herkulessaal schlug das gut 100-minütige Werk – es gab die übliche Pause nach dem dritten Satz Partiels – die Zuhörer in jeder Sekunde in seinen Bann.
Der britische Dirigent Stefan Asbury hat dieses Schlüsselwerk des Spektralismus schon vor zehn Jahren am gleichen Ort mit dem Symphonieorchester des BR dargeboten, und das war bereits exzellent. Durfte man also eine weitere Steigerung erwarten? Ganz klar: Ja – und das erfüllte sich von Beginn an. Schon das einleitende Solo (Viola: Benedict Hames) gerät faszinierend – man hätte bei den leisen Stellen und den Momenten der Stille eine Stecknadel fallen hören können. Beim 2. Satz (der attacca anschließt) gesellt sich die Bratsche dann zu sechs weiteren Spielern und der Dirigent tritt hinzu; Asbury dirigiert vor der Pause ohne, danach bei den größeren Besetzungen mit Taktstock. Sein Dirigat wirkt schon äußerlich noch zwingender als 2008 – geradezu magisch, wie er die Musiker mit der Linken vor allem dynamisch quasi direkt „an die Hand nimmt“. Das sieht nicht nur schön rund aus, sondern klingt auch fantastisch – ein ganz und gar organisches Musizieren. Asbury hatte in der Einführung betont, dass es bei Grisey immer gravity gebe – also etwas, dass der Musik Bodenhaftung verleiht, ähnlich der verlorenen Funktionsharmonik. Das gelingt Grisey natürlich völlig anders, aber gerade die Momente überzeugen, wo sich der Klang nach extremer Verdichtung wieder konzentriert zurückzieht – das kann in einen simplen Septnonakkord münden oder auch einfach in: Stille. Hatte sich 2008 im 3. Satz das Septett des zweiten auf 18 Spieler erweitert, sitzt dafür diesmal ein komplett eigenes, neues Ensemble auf der Bühne. Wenn das intensivere Probenmöglichkeiten in der Vorbereitung bot, so hat es sich jedenfalls bezahlt gemacht; alles wirkt perfekt abgestimmt.
Nach der Pause wird es nach und nach auch mal so richtig laut. Im sechsten Satz, der mit einer Reminiszenz an das anfängliche Bratschensolo beginnt, greifen die 4 Solohörner beherzt ein und zerstören lustvoll alles, was sich ihnen noch in den Weg zu stellen wagt – und das macht offensichtlich nicht nur allen beteiligten Musikern, sondern auch dem Publikum Spaß! Ein wirklich grandioser Abend, der einmal mehr die Ausnahmestellung von Griseys Musik unter Beweis stellt.
Am Sonntag dann im Funkhaus ein spätes Meisterwerk: Vortex Temporum für Klavier, Streichtrio, Flöte und Klarinette. Wie der Titel schon vermuten lässt, setzt sich Grisey hier in knapp 40 Minuten äußerst subtil mit dem menschlichen Zeitempfinden auseinander. Wiedererkennbare Figurationen und rhythmisch stabil ablaufende Anschnitte wechseln mit fast stehenden Klangmonolithen ab – die einzelnen Klangereignisse sind da oft an der Grenze des überhaupt noch Wahrnehmbaren. Erstaunlicherweise ist das Zeitempfinden aber wohl genau umgekehrt als erwartet: Die Blöcke mit quasi gebundenem Rhythmus können sich verlieren, so dass fast der Eindruck von Unendlichkeit entsteht – wie gerade auch beim Schluss. Die eher flächigen Klangereignisse halten dagegen „wach“ und die Spannung aufrecht: Dass hier im Detail in der Tat mehr passiert, zeigt sich in der Partitur, aber auch daran, wie sich hier die Spieler untereinander dirigieren müssen. Das hätte mit dem bei diesem Stück eigentlich üblichen Dirigenten womöglich noch präziser geklappt, wobei solches Gezappel dann aber bestimmt das Ohr auf die fein austarierten Klänge, die da zu hören sind, abgelenkt hätte. Auch an diesem Vormittag saßen die geschätzt 120 Zuhörer die ganze Zeit gewissermaßen auf der Stuhlkante. Insgesamt muss man den sechs Solisten des BR-Symphonieorchesters, denen man ihre empathische Identifikation mit dieser so ganz andersartigen Musik deutlich anmerken konnte, eine absolut hochklassige Leistung bescheinigen. Lange anhaltender Applaus für ein Kammermusikwerk, das tief ergriffen machte.
Matinee am 5.11. 2017 im Herkulessaal München
Kammerphilharmonie DACAPO München; Pavel Kaspar, Klavier; Thomas Albertus Irnberger, Violine; Dirigent: Franz Schottky
Nach „Air And Dance“ für Streichorchester von Frederick Delius (1862-1934) aus dem Jahr 1915 – das Stück beginnt mit einem berückenden Violinsolo der Konzertmeisterin und endet in einem rhythmischen Tanz, der in die Beine fährt – kam das erste Schwergewicht dieser Sonntagsmatinée: Felix Mendelssohn Bartholdys Konzert für Violine, Klavier und Streichorchester. Er schrieb es 1823 als Vierzehnjähriger für die Sonntags-Matineen im elterlichen Wohnhaus in Berlin und saß selber am Klavier. Natürlich ist es ein Jugendwerk, aber was für eins! Den beiden Solisten wird alles abverlangt, was Finger und musikalische Fertigkeit hergeben. Im ersten Satz – Allegro – wie auch in den anderen Sätzen ist das Orchester zumeist in diskret begleitender Rolle aktiv, was die DACAPO Kammerphilharmonie unter ihrem Dirigenten Franz Schottky – Schüler von Sergiu Celibidache und Begründer der Kammerphilharmonie im Jahr 2000 – auch besonders im Andante des zweiten Satzes hervorragend erfüllte. Die beiden Solisten überboten sich an melodiösem Zusammenspiel und ließen diesen zweiten Satz zu einem Höhepunkt werden. Der abschließende dritte schnelle Satz ist zwar rhythmisch raffiniert, kam aber für meine Begriffe ein wenig überhastest und kaum phrasiert, wenngleich sehr virtuos daher. Ein wenig Entdeckung der Langsamkeit hätte das Vergnügen gesteigert, aber vermutlich wollte der jugendliche Komponist einfach alles zeigen, was er schon damals „drauf“ hatte. Als Zugabe spielten die beiden Solisten nach rauschendem Beifall noch eines der Lieder ohne Worte in einem Duo-Arrangement. (Vielleicht könnte man das Publikum für die Zukunft noch sanft darauf hinweisen, dass in einem Konzert zwischen den Sätzen – aller Begeisterung eingedenk – nicht geklatscht wird, weil es den Zusammenhang doch allzu rüde unterbricht!)
Nach der Pause dann das Hauptstück des Konzerts: Anton Bruckners (1824-1896) Streichquintett von 1878/79 in einer Fassung für Streichorchester. Ist schon das Original in der Besetzung mit zwei Bratschen Bruckners einziges reifes Kammermusikwerk, so wird es in der Fassung für Streichorchester fast schon zu einer Symphonie. Nicht nur die bloße Länge der vier Sätze, auch die verwendeten musikalischen Themen und Harmonien, die Rhythmen und gewaltigen Übergänge weisen es als eines der Hauptwerke des Komponisten aus. Die Kammerphilharmonie DaCapo war dafür mit ihrem Dirigenten Franz Schottky sicher ein denkbar guter und kompetenter Sachwalter. Natürlich ist der Klang in allen Streichergruppen exzellent, die dynamischen Abstufungen sind in allen Dimensionen überzeugend vorhanden, die ganze „utopische“ Klanglichkeit des Bruckner’schen Kosmos entsteht vor uns. Die Orchesterfassung – besonders auch durch die Grundierung mit den Kontrabässen – ist dazu angetan, dieser Musik eine noch größere Überzeugung zuzuweisen. Jedenfalls war die Begegnung mit Bruckners Streichquintett am Sonntagvormittag ein besonderer Höhepunkt im Münchner Konzertleben. Begeisterter Beifall, den Franz Schottky selbstverständlich mit seinen Musiker-Kollegen gerne und liebevoll teilte. Man kann der neuen Konzert-Reihe nur an allen Sonntagen einen so fast vollständig gefüllten Herkulessaal wünschen und ein immer so aufmerksames Publikum.
Gleich in dreifacher Funktion kam beim Orchesterkonzert des musica viva Wochenendes am 29.9.2017 der Münchner Jörg Widmann zum Einsatz: als Klarinettist, Komponist und Dirigent. Die ursprünglich als Hommage zum 90. Geburtstag Wilhelm Killmayers geplante Aufführung von dessen 3. Symphonie geriet nach seinem Tod fünf Wochen zuvor zur Gedenkveranstaltung.
Nur einen Tag vor seinem 90. Geburtstag verstarb am 20.8.2017 der Münchner Komponist Wilhelm Killmayer. Seine Musik ist das Zeugnis eines Individualisten, der schon früh sämtlichen dogmatischen Strömungen der Nachkriegsmusik, insbesondere dem Serialismus der Darmstädter Schule, den Rücken gekehrt hatte – lange bevor die Vokabel Postmoderne die Runde machte. Trotzdem ist Killmayer alles andere als ein verkappter Spätromantiker gewesen. Seine einsätzige 3. Symphonie „Menschen-Los“ entstand bereits 1972/73, die Revision von 1988 erklang damals erstmalig bei der musica viva. Trotz der relativen Kürze wartet das Stück mit geradezu Mahlerischer Orchestrierung auf. Widmanns Zeichengebung – ohne Taktstock – ist an sich nicht unklar; dennoch gibt es einige Wackler, etwa in den Trompeten, und ohne das großartige Engagement des bei musica viva immer noch unverzichtbaren Konzertmeisters Florian Sonnleitner wäre der Streicherklang sicher inhomogener gewesen. Vielmehr begreift Widmann die zum Teil recht unerwarteten Wendungen, die Killmayers Symphonie nimmt, – gerade bei weitgehend vorherrschender Tonalität mögen diese selbst 1988 noch provozierend gewirkt haben – lediglich wie einen Gang durchs Panoptikum. Der gezielte, geradezu Schumannesque Humor bleibt leider unvermittelt, auch weil das Dirigat zu pauschal ist, der Klang zu dick und undifferenziert. Da wäre durchaus noch Luft nach oben gewesen.
Punkten kann Jörg Widmann dann als Solist auf seinem ureigenen Instrument, der Klarinette. In Gerhard E. Winklers (*1959) Black Mirrors III entsteht ein wunderbar erfrischender, interaktiver Dialog zwischen dem Solisten und der auch vom anwesenden Komponisten gesteuerten Live-Elektronik. Das ist nicht nur instrumental brillant, sondern überzeugt durch äußerst intelligent „gesteuerte“ Unvorhersehbarkeit; die geforderte spontane Reaktionsfähigkeit korrespondiert erfreulich mit dem auf sechs Pulten verteilten, genauen Notentext. So entsteht bei jeder Aufführung ein einmaliges Stück. Aber was hat das in einem Symphoniekonzert zu suchen?
Nach der Pause dann – leider – das schwächste Stück des Abends: Widmanns eigene Orchesterkomposition Drittes Labyrinth von 2014. Widmann thematisiert mit seinen drei Labyrinth-Stücken die Entscheidungsprozesse beim Komponieren, zahlreiche, oft minimale Perspektivwechsel – auch zeitliche – inbegriffen. Insofern ist sein Vergleich mit dem Film Lola rennt schon zutreffend. Das Problem hier ist allerdings, dass trotz großer Besetzung und hochdifferenzierter Vortragsangaben, die aber alle das Geräuschhafte über Gebühr betonen, vor allem das klangliche Ergebnis unbefriedigend bleibt. Man erkennt durchaus Stationen, die Bezugspunkte im Labyrinth bilden, Wiedererkennbarkeit liefern. Das Stück muss jedoch mit seiner Überlänge von bald 60 Minuten, die angesichts der mageren musikalischen Substanz völlig unangemessen erscheint, sehr schnell ermüden. Daran ändern auch die spärlichen und recht banalen Einwürfe der durch den ganzen Herkulessaal inklusive Rang irrenden Sopranistin (Sarah Wegener) nichts. Die übrigens völlig lineare Partitur hat Widmann mit dem Orchester offensichtlich gut erarbeitet – sein Dirigat wirkt aber angestrengt und vermag auch hier nicht, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Man hat von Widmann schon bessere Musik gehört. So mischen sich unter den nur lauen Applaus auch einige Buhs.
Das Orchesterkonzert am 7. Juli 2017 im Rahmen des „musica viva“ Wochenendes überzeugte diesmal nicht nur durch eine Zusammenhang stiftende Programmkonzeption mit vier bereits in sich völlig schlüssigen Werken, sondern darüber hinaus mit einer in der Tat preiswürdigen Uraufführung. Der Abend wurde einmal mehr zum Triumph für den Dirigenten (und Komponisten) Matthias Pintscher und einem grandios aufgelegten BR-Symphonieorchester.
Der ja ursprünglich zunächst vor allem als äußerst vielversprechender, junger Komponist, der ab und zu auch eigene Werke dirigiert, in den Fokus der Öffentlichkeit getretene Matthias Pintscher entwickelt sich immer mehr zu einem ganz großen Dirigenten der Neuen Musik, wie zahlreiche maßstabsetzende Aufführungen von ‚Klassikern‘ (Boulez, Varèse, Stockhausen…) mit dem Ensemble intercontemporain, aber auch beim Lucerne Festival, belegen. Und bei den Orchesterkonzerten der Münchner musica viva konnte er ebenfalls bereits überzeugen. Dieser Abend wurde jedoch zu einem wahren Triumph des Dirigenten und einem geradezu unglaublich motivierten BR-Symphonieorchester, das von Pintscher mit traumwandlerischer Sicherheit und sichtbarer Empathie für die dargebotene Musik durch vier wirklich herausfordernde Werke mit ganz unterschiedlicher Klangästhetik geführt wurde – nur zwei Wochen nach einem großartigen Messiaen unter Kent Nagano im Gasteig.
Pintscher eröffnete den Abend mit einer eigenen Komposition: with lilies white von 2001/02 – dem ältesten Werk dieses Konzerts. Die Orchesterfantasie mit Stimmen (3 Soprane und Knabensopran) verbindet Texte aus dem „Sterbeprotokoll“ des britischen Künstlers Derek Jarman mit einem Lamento William Byrds, welches deutlich, aber in geschickter Verfremdung zitiert wird. Tod und das Jenseitige bilden dann auch die verbindende Klammer für alle vier Werke des Abends, sozusagen den gemeinsamen transzendentalen Hintergrund bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Werkkonzeptionen. Das Riesenorchester (inkl. im Raum verteilter Schlagzeuger) ist ein Beispiel für Pintschers klangliche Opulenz gerade um die Jahrtausendwende, die aber nie nur zum äußeren Zweck, sondern für eine hochdifferenzierte Dynamik und Farbigkeit zum Einsatz kommt. Damit steht der Komponist in einer Tradition überzeugender Orchestrierungskunst, wie sie etwa durch Hans Werner Henze repräsentiert wurde. Mit präziser Zeichengebung und immer sichtbarer Emotionalität brachte Pintscher sein Stück in jedem Detail zur Geltung. Der erst 13-jährige Augsburger Domsingknabe Vinzenz Löffel beherrschte seine Gesangs- und Sprechpartie bombensicher und stahl damit den drei mehr als Ensemble formierten, aber qualitativ natürlich ebenbürtigen Sopranistinnen Sarah Aristidou, Anna-Maria Palii und Sheva Tehoval etwas die Schau, durchaus zur Freude des Saals.
Ich stand bisher den meisten Kompositionen Mark Andres einigermaßen skeptisch gegenüber. Auch die bereits bei der musica viva zu Gehör gebrachten Werke „auf I“ und „…hij 1…“ ließen mich ziemlich kalt und ich fragte mich lange, inwieweit in Andres Schaffen eine eigene Stimme zu finden sei, die über bloßes Epigonentum – bezogen auf die Verweigerungsästhetik seines Lehrers Helmut Lachenmann – hinausginge. Doch mit seiner Uraufführungskomposition „woher…wohin“ konnte mich der frischgebackene, diesjährige Happy New Ears Preisträger diesmal wirklich überzeugen. Dem eigentlich aus sieben Miniaturen bestehenden Werk ist quasi als Motto Vers 3,8 aus dem Johannes-Evangelium vorangestellt: „Der Wind bläst, wo er will…“. Tatsächlich gelingt es Mark Andre verblüffend realistisch, mit einer höchst ausgeklügelten Instrumentation verschiedenste Windgeräusche umzusetzen; eine kleine Gehörbildung basierend auf Hörerfahrungen während eines Istanbul-Aufenthalts, wie er in der Konzerteinführung verriet. Das ist jedoch nur eine äußere Schicht der Komposition. Klar wird bereits beim ersten Hören, dass in den sieben Stücken, oder auch nur längeren Passagen daraus, der Klang jeweils aus einheitlichen Materialitäten gewonnen wird (etwa ‚mit Bögen gestrichen‘), hiermit an Werke wie Xenakis‘ Pléïades anknüpfend. Dabei gibt es Momente von äußerster Intensität, die schon körperlich unmittelbar berühren (krachende, kollektive Bartók-Pizzicati mit entsprechender Unterstützung von Blech und Schlagwerk), aber letztlich wie durch ein astronomisches Wurmloch immer metaphysisch auf das Entschwinden (gemeint ist hier das des auferstandenen Jesus in der Emmaus-Episode) hinweisen. Ob im dritten Abschnitt absichtsvoll eine Allusion zum vierten der 6 Orchesterstücke op. 6 (Marcia funebre) Anton Weberns hergestellt wird, sei dahingestellt. Die sieben Abschnitte folgen zudem einer nachvollziehbaren Dramaturgie mit einer gewaltigen Steigerung des siebten Abschnitts vor dem letzten Aushauchen. Das ist alles wohldosiert und gekonnt, zeugt von einer echten Reife des Komponisten und wurde sogleich mit entsprechendem Beifall gewürdigt.
György Kurtàgs „Geburtstagsständchen“ zu Pierre Boulez‘ Neunzigstem gehört mit knapp sieben Minuten eigentlich bereits zu den längeren Werken des Miniaturisten. Mit erheblich kleinerer Besetzung, durchaus klangsinnlich und persönlich (Cimbalom!), gelang hier dennoch eine ergreifende Hommage an den fast gleichaltrigen Kollegen, wobei naturgemäß der Tod irgendwo nicht mehr wegzudiskutieren ist, was durch verschiedene musikhistorische Anspielungen allzu deutlich wird. Leider wurde dieses wertvolle und sensibel gespielte Werk hier durch die umgebenden Stücke fast etwas erdrückt.
Am Schluss im Verhältnis geradezu ätherische Klänge: „…towards a pure Land“ des in Deutschland immer noch viel zu wenig beachteten, großartigen britischen Komponisten Jonathan Harvey (1939-2012). Ein Blick auf eine utopische, eigentlich bereits jenseitige, nach buddhistischer Prägung idealisierte Lebensvision von klanglich üppiger Schönheit, die aber nie überbordet, geschweige denn in Kitsch umschlägt. Auch hier agierte das Orchester unter dem inspirierenden Matthias Pintscher (jetzt mit Taktstock) mitreißend und setzte diese phantastische Klangwelt kongenial um. Das Stück ist ein wirklich großer Wurf, das Publikum war aber dann nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit dabei. Auf Harvey auch in den musica viva Orchesterkonzerten nochmals zurückzukommen, fände ich sehr lohnenswert. Insgesamt war dieses Konzert auf jeden Fall der absolute Höhepunkt der diesjährigen Saison. Die Mitglieder des BR-Symphonieorchesters mögen ähnlich empfunden haben und dankten dies dem Dirigenten mit großer Geste.
Beim Orchesterkonzert der musica viva am 2. Juni 2017 im Münchner Herkulessaal stellte ein spätes Hauptwerk des französischen Spektralisten Gérard Grisey (1946-1998) zwei neue Auftragskompositionen von Oscar Bianchi bzw. Hans Thomalla derart in den Schatten, dass diese fast nur wie ein „Vorprogramm“ wirken konnten. Sämtlichen beteiligten Musikern auf dem Podium durfte man nichtsdestotrotz allerhöchstes Lob zollen.
Photo (c) by Dirk Mann
Winrich Hopp hat eigentlich als künstlerischer Leiter der Münchner musica viva bisher bei der Vergabe von Auftragskompositionen ein erstaunlich „gutes Händchen“. Diese haben – schon rein spieldauermäßig – einen so bedeutenden Anteil an den Konzerten, wie dies zuvor längst nicht immer der Fall war. Und auch qualitativ gab und gibt es viel Hochwertiges, das nicht nur aktuelle Tendenzen aufzeigt, sondern meist auch wirklich den hohen Ansprüchen des Publikums wie des Orchesters gerecht wird. Da ist es nur verzeihlich (und wohl auch unvermeidlich), dass hin und wieder mal schwächere Stücke dabei sind. Dennoch, so viel sei hier bereits vorweggenommen: Allein schon der grandiose Grisey nach der Pause machte den Besuch dieses Konzertes zu einem Ereignis.
Das Programm wird mit Inventio von Oscar Bianchi (Jahrgang 1975) eröffnet. Von „gewohnter“ Spielweise bis zur systematischen Erschließung des Geräuschhaften beim traditionellen Instrumentarium (unter Verwendung diverser Hilfsmittel) einerseits bis hin zu einer fast grotesk erweiterten und äußerst differenziert zu handhabenden Schlagwerkbesetzung konfrontiert der Komponist den Hörer mit einer kaum fassbaren Klangvielfalt. Anders als bei Lachenmann wird damit aber gerade nicht eine Ästhetik der Verweigerung demonstriert, sondern Bianchi will weg von vorgefasster Konnotation bestimmter Klänge hin zum unmittelbaren Klangereignis selbst als Träger des Affekts. Ein vielleicht zu hoch gestecktes Ziel, wie man sich anhand eines exotischen Instruments klarmachen kann: dem Waldteufel. Die über dem Kopf zu schwenkende Reibetrommel, der kleine, aggressivere Bruder des „Löwengebrülls“ (etwa in Varèses „Amériques“) verwendet Hans Werner Henze vor der Katharsis der beiden Aktschlüsse des „Verratenen Meers“ jeweils als klanglichen Höhepunkt, dem unmittelbar die sichtbare Tötung einer Katze bzw. später die Ermordung des Hauptprotagonisten folgt. Diese wird jedoch nicht mehr gezeigt, sondern die Oper endet im Blackout. Der Hörer „weiß“ durch den Waldteufel, was geschehen wird. Bei Bianchi würde dieses Instrument ohne dessen visuelle Präsenz in seiner großen Klangorgie fast untergehen, erhält aber so eher humoristische Züge. Wieviel mehr mögen deutlich vertrautere Klänge beim Publikum fest assoziiert sein und welcher Mittel bedürfe es dann, um dem entgegenzuwirken? Für mich schüttet Bianchi hier das Kind mit dem Bade aus und überfordert mit einem Übermaß an Klängen, das jeden musikalischen Aufbau – einmal unterstellt, es gäbe einen solchen – völlig übertüncht und fast wie eine beliebig austauschbare, kaleidoskopartige Abfolge von, freilich streng kontrollierter, musique concrète wirkt. Too much wird so leider ganz schnell schlicht langweilig.
Viel fasslicher kommt danach Hans Thomallas Ballade für Klavier & Orchester daher. Von ihm äußerst zutreffend als Übermalung des drei Jahre alten Klavierstücks „Ballade. Rauschen“ charakterisiert, dient das Orchester hier fast ausschließlich als Erweiterung des Klangraums, indem etwa Einzeltöne des Klaviers von Orchesterinstrumenten (gegebenenfalls oktavversetzt) verdoppelt und so gewissermaßen in es hinausgetragen werden. Umgekehrt saugt der Steinway den Orchesterklang geradezu auf, wenn der clusterreiche Klaviersatz ungedämpft den ganzen Flügel zum Resonanzkörper des ihn umgebenden Orchesters werden lässt. Ein Dialog findet allerdings zu keinem Zeitpunkt statt, so dass dieses Stück eher wie ein Kammermusikwerk (etwa eines für Klavier & Live-Elektronik) wirken muss und daher dem Rahmen des großen Sinfoniekonzertes nicht gerecht werden kann. Wie immer in den letzten Jahren bewundernswert, wie sich Nicolas Hodges mit größter Sorgfalt und echter Hingabe der nicht immer dankbaren Aufgabe als Solist annimmt; neben dem später am Abend mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrten Pierre-Laurent Aimard längst einer der ganz Großen für die zeitgenössische Klaviermusik. Die beiden Veranstaltungen unmittelbar hintereinander zu legen ist dennoch nicht wirklich ein Akt großer Weisheit…
Nach der Pause dann endlich Griseys Spätwerk L’Icône paradoxale. Zum Zeitpunkt der Entstehung (1994) kaum älter als die beiden UA-Komponisten, verfügt Grisey hier schon über die Summe seiner Erfahrungen in Akustik und dem Umgang mit der von ihm mitentwickelten spektralen Kompositionsweise. Hier spürt man nichts mehr vom Zwang, sich konzeptionell ständig neu erfinden zu müssen. Als Hommage an Piero della Francescas Madonna del Parto gedacht, überträgt der Komponist Symmetrien des Freskos auf zeitliche Dimensionen. Ein zweigeteiltes Orchester und zwei Gesangssolistinnen lassen den Herkulessaal in teilweise fast nostalgisch wirkende, aber tiefempfundene Schönheit eintauchen. Großartig, wie perfekt sich an diesem Abend Donatienne Michel-Dansac und eine Anja Petersen in absoluter Höchstform (als sei das Werk ihr auf den Leib geschrieben!) klanglich mischen und ergänzen. Und wer so etwas wie diesen langsam verebbenden Schluss schreiben kann, den das BR-Symphonieorchester unter einem höchst aufmerksam und sensibel agierendem Johannes Kalitzke kongenial umsetzt, dem darf zu Recht solch hohes Maß an Verehrung wie derzeit entgegengebracht werden. Ein Abend mit qualitativem Ungleichgewicht, der aber am Schluss mehrheitlich zufriedene Gesichter hinterlässt. Das Publikum dankt den Interpreten in seltenem Einklang mit langanhaltendem Applaus, obwohl viele Besucher danach gleich ins Prinzregententheater weiterziehen müssen.
Das Eröffnungskonzert der neuen musica viva Saison am 07.10.2016 (20 Uhr) widmete sich diesmal ausschließlich der Musik des Komponisten Hans Zender, der über viele Jahre die Reihe – gerade auch als Dirigent – eindrucksvoll mitgestaltet hat und nächsten Monat seinen 80. Geburtstag feiert. Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter einem subtil und präzise agierendem Emilio Pomàrico zeigten mit vereinten Kräften einmal mehr ihre eindrucksvolle Kompetenz in Sachen Neuer Musik – auch wenn die dargebotenen Werke durchaus Fragen aufwerfen.
Hans Zenders Verdienste als Dirigent – nicht nur zeitgenössischen Repertoires sondern auch aller Stilrichtungen spätestens ab der (Wiener) Klassik – sind unbestritten; und auch die musica viva hat davon über die Jahre hinweg profitiert: Ich erinnere mich etwa gerne an das großartige Konzert von 2006 mit Scelsi und Zenders Bardo. Zender (Jahrgang 1936) wurde genau in die Generation junger Komponisten hineingeboren, die von Beginn an zur Auseinandersetzung mit den Konflikten zwischen den sich nach dem Zweiten Weltkrieg bildenden Lagern der „Neuen Musik“ gezwungen war, wo dann schließlich jeder seine eigene künstlerische Position innerhalb einer nunmehr existierenden „geistigen Situation ‘Postmoderne’“ (Zender) finden musste. Vereinfacht ausgedrückt: Irgendwo zwischen den „Darmstädtern“, die die Fackel eines recht dogmatisch geprägten Fortschrittsbegriffs als die ihrige beanspruchten (Zender benennt dies in seinem Buch Happy New Ears als „Avantgarde“), und den zu ihnen sich geradezu „kompensatorisch“ verhaltenden Strömungen, die um eine „Integration alter kultureller Inhalte ins moderne Bewusstsein“ bemüht waren („Manierismus“) schien sich ein junger Komponist entscheiden zu müssen. Diese beiden ästhetischen Pole vergleicht Zender nun mit Heraklit als gegenstrebige Fügung. Zender nennt aber als gewissermaßen dritten Weg aus diesem Dilemma die Tendenz zur Grenzüberschreitung, und innerhalb derer als besonderes Phänomen das der Stille. Diesem begegnet man auf verschiedene Weise etwa bei den Vertretern der New York School oder aber als eine bewusste Art der Verweigerung bei Helmut Lachenmann. Bei Zender kommt allerdings noch als bedeutender Faktor seine intensive Beschäftigung mit der asiatischen Kultur („Zen“) ab ca. 1972 hinzu, die das strikt lineare, westliche Zeitbewusstsein ganz wesentlich öffnet. Ich frage mich allerdings, inwieweit von ihm als Komponist hier durch „intertextuelle“ Verknüpfungen tatsächlich eine Art Synthese zwischen westlichem und östlichen Denken angestrebt wurde, und ob diese während einer Aufführung dann auch auf einer sinnlichen Ebene hörbar wird.
Die drei dargebotenen Werke aus den letzten knapp 20 Jahren nutzen sämtlich schon Zenders System von Zwölfteltönen („gegenstrebige Harmonik“ mit Aufteilung der Oktave in 72 Tonstufen), das eine sehr differenzierte Entfaltung von Obertonspektren sowie zumindest annähernd auch die „reinen“ Intervalle, die seit der wohltemperierten Stimmung westlichen Ohren weitgehend abhanden gekommen sind, realisieren kann. Wenn Zender darin „ein großes Stück Zukunft“ für die Musik sieht, liegt er meines Erachtens goldrichtig. Sowohl den älteren mikrotonalen Experimenten Alois Hábas, gerade aber auch dessen Harmonielehre, die lediglich vorgibt, eine solche zu sein, wie zwangsläufig dem Serialismus ab und in Nachfolge der Zweiten Wiener Schule fehlt ja jegliche harmonische Basis. Allerdings – so viel sei vorweggenommen – scheinen mir einige jüngere Komponisten hier bereits weiter fortgeschritten zu sein, möglicherweise aber trotz vergleichbarer Tonsysteme und spektraler Techniken mit recht unterschiedlicher Intention: Ich nenne stellvertretend nur Enno Poppes „Ich kann mich an nichts erinnern“ (musica viva 2015) oder Georg Friedrich Haas‘ „limited approximations“ für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere und Orchester (2010), das in München beim räsonanz-Stifterkonzert 2016 zu hören war. Beides begeisterte – für mich durchaus überraschend – einen Großteil des Publikums. Natürlich kann man derartigen Aufwand aus ökonomischen wie auch allein schon räumlichen Gründen kaum bei jedem Orchesterstück betreiben. Aber sollten etwa die Stellen mit zwei im Vierteltonabstand gestimmten Klavieren sowohl in den Logos-Fragmenten beim besprochenen Konzert wie z.B. auch in Bardo nicht ausdrücklich als den Hörer in ein starres Netz zurückwerfende Momente innerhalb der jeweiligen Werke gemeint sein, so wirkte Zender hier merkwürdig kontraproduktiv – als ob er sein eigenes System, das tatsächlich die Ohren unmittelbar empfindlich schärft, in Frage stellen würde.
Der Dirigent des Abends, Emilio Pomàrico, hat sich bereits in einigen Konzerten der musica viva als kongenialer Gestalter äußerst komplexer Musik erwiesen (Symphonien von Stefan Wolpe und Elliott Carter!), der nicht nur als präziser Sachwalter mit allen nötigen (schlag)technischen Mitteln agiert, sondern tatsächlich auch emotional mitgeht und dies sowohl auf die Musiker wie auch das Publikum zu übertragen imstande ist. Auch den vielschichtigen Ansprüchen, die Zenders Partituren an die Interpreten stellen, steht er souverän und mit sichtlicher Empathie gegenüber – eine wirklich beeindruckende Leistung. In seinen Händen lag bereits die Uraufführung der gesamten Logos-Fragmente.
Kalligraphie IV (1997/98) benutzt als Material das Offertorium der gregorianischen Pfingstliturgie, das aber trotz dessen Steuerung der linearen Abläufe als solches für den Hörer unidentifizierbar bleibt. Man folgt lediglich einer mehr oder weniger emotional aufgeladenen Welle aus hochdifferenzierten Klängen, deren Klimax dann etwas unmotiviert erscheint und damit das Stück als quasi „zu kurz“ beendet. Zenders Instrumentationskunst ganz abgesehen von den erweiterten Möglichkeiten seines Tonsystems ist bewundernswert; eine der differenzierten Harmonik innewohnende „Logik“ oder auch nur lokale „Zielstrebigkeit“ kann sich bei mir beim ersten Hören hingegen nicht wirklich erschließen. Das Publikum nimmt dieses Werk anscheinend auch nur dankbar als „Vorspeise“ auf.
Issei no kyō (Gesang vom einem Ton, 2008/09) gehört zu den „japanischen“ Stücken Zenders, denen ein Gedicht des Zenmeisters Ikkyū Sōjun aus dem 15. Jahrhundert zugrunde liegt, der allerdings in klassischem Chinesisch schrieb. Der Vierzeiler, in vier Sprachen – dem Original sowie auf deutsch, französisch und englisch – interpretiert, denen vier verschiedene Ausdruckscharaktere zugeordnet werden, zitiert den chinesischen Mönch Pu Hua (japanisch: Fuke), auf den sich später ein japanischer Bettelorden berief, deren Mitglieder u.a. mit dem Spiel der Shakuhachi übers Land zogen. So interagiert (als alter ego?) eine solistische, ihren Standort verändernde Piccoloflöte (vorzüglich: Nathalie Schwaabe) theatralisch mit der Sopranistin Donatienne Michel-Dansac. Diese verfügt stimmlich zwar über die nötige Modulationsfähigkeit bzw. Technik – die Gesangspartie verlangt neben dem reinen Singen alle Artikulationsmöglichkeiten bis hin zum Sprechen – und integriert sich mit großer Sicherheit ins instrumentale Geschehen, bleibt allerdings innerhalb der jeweiligen obigen Charaktere, die ständig neu gemischt werden, oft seltsam eindimensional. Leider kann hier der Dirigent stellenweise auch nicht verhindern, dass das Orchester die Solistin klanglich zudeckt. Dass Zender, wie im Programmheft zu lesen, „nie irgendwelche Chinoiserien im Sinn hatte“, kann ich bei diesem Stück nicht so ganz nachvollziehen. Sowohl die Imitation der Shakuhachi – gegenüber der das Piccolo leider zu grell wirken muss – als auch einige Stellen in den Becken, die sehr stark an aus der Peking-Oper bekannte Schlagzeugeffekte erinnern, beweisen eher das Gegenteil; allerdings sind diese Bezüge anscheinend auch augenzwinkernd gemeint. Insgesamt können die im Detail wiederum sehr schön ausgearbeiteten Kontrastierungen – etwa die Gegenüberstellung von Holz und Metall im Schlagwerk – doch nicht wirklich über 24 Minuten tragen. Manches wirkt hier bald ermüdend, wie andauernde schnelle Schnitte in einem zu lang geratenen Videoclip, und die formale Anlage bleibt letztlich verschleiert.
Nach der Pause folgt zum Glück ein Werk ganz anderen Kalibers: Fünf Stücke (Nr. II, IV, III, VIII und IX) aus den insgesamt neun Logos-Fragmenten (2006-2012), die nach dem Willen des Komponisten durchaus in unterschiedlicher Konstellation und Auswahl aufgeführt werden dürfen. Einheit soll hier nicht „durch das Subjekt geschaffen“ werden: Die einzelnen Teile des Zyklus sind absichtsvoll heterogen und vermeiden geradezu aufeinander beziehbares musikalisches Material – allein die Besetzung und die Textauswahl aus demselben historischen und kulturellen Umfeld (Johannes-Evangelium etc.) bleibt einheitlich. Tatsächlich gelingen Zender hier Momente von großer Ausdruckskraft und trotz ja stark wechselnder Kompositionstechniken, die die „äußere“ Struktur betreffen, geradezu ritueller Intensität. Hier greifen sowohl Zenders harmonisches System wie auch auf rhythmischer Ebene konsequente großräumige Überlagerungen, die man so noch am ehesten von Elliott Carter her kennt. Beim Chor stört übrigens die (nur) vierteltönige Intervallik nicht – wohl, weil sie eben nicht so gnadenlos präzise daherkommen kann wie bei den beiden Klavieren. Die Mitglieder des Chores des Bayerischen Rundfunks, eingebettet in ein in drei Gruppen aufgeteiltes Riesenorchester, agieren hier als 32 Solostimmen und belegen so auch ihre individuelle künstlerische Qualität. Besonders hervorzuheben – allein wegen ihrer umfangreicheren Soli – sind Masako Goda und Matthias Ettmayr. Das allgemein hohe Niveau bei solistischen Aufgaben zeigt sich dann auch in den schönen, gelenkt-aleatorischen Passagen im Logos-Fragment Nr. IV: Weinstock. Die Verteilung der Sänger über das gesamte Orchester konnte aufgrund der räumlichen Gegebenheiten des Herkulessaals nicht realisiert werden; die ungewohnte Positionierung vor dem Orchester erweist sich aber als bestmöglicher Kompromiss, der insbesondere eine erstaunliche Textverständlichkeit bewirkt. Kompositorisch haben mich zumindest die drei zuletzt dargebotenen Stücke vollends überzeugt und auf jeden Fall meine Neugier auf den Rest dieses Zyklus‘ geweckt – sicher eines der besten Werke Hans Zenders. Am Schluss gibt es zu Recht großen Applaus für alle Darbietenden, die dann dem mittlerweile leider etwas gebrechlich wirkenden Komponisten, der sich trotzdem nicht nehmen lässt, aufs Podium zu kommen, auch wirklich alle Ehre erweisen. Der große und sicher aufrichtige, gegenseitig gewachsene Respekt ist quasi hautnah zu spüren.
Man darf sich schon jetzt auf die Rundfunkübertragung freuen (Dienstag, 22. November 2016, 20.03 Uhr auf BR-Klassik).
Quer durch drei Jahrhunderte erstreckt sich das Programm der Württembergischen Philharmonie unter Leitung von Chefdirigent Ola Rudner am 24. April 2016 im Herkulessaal der Münchner Residenz: Von Haydns Trompetenkonzert Es-Dur Hob.VIIe:1 von 1796 und Beethovens F-Dur-Symphonie, der Pastorale, über Mahlers Symphonischen Satz C-Dur mit dem Titel „Blumine“ bis zu dem As-Dur-Trompetenkonzert von Alexander Arutjunian, geschrieben 1941. Solist ist der norwegische Trompetenvirtuose Ole Edvard Antonsen.
Wagnerisch wird es direkt zu Beginn des Abends mit der „Blumine“ von Gustav Mahler. Der Satz, welcher ursprünglich Teil der ersten Symphonie werden sollte, weist solch signifikanten Parallelen zum Komponisten des Ring-Zyklus auf, dass man stellenweise fast meinen möchte, im Programm stehe ein falscher Name. Es ist ein beschauliches Stimmungsgemälde, in aller intendierten Bedeutungslosigkeit unfassbar schön und träumerisch. Weitaus substantieller dann das Trompetenkonzert von Joseph Haydn in Es-Dur Hob. VIIe:1, welches nicht zu Unrecht das wohl meistgespielte Trompetenkonzert überhaupt ist (wenngleich sicher auch aufgrund des schmalen Repertoires). Dieses Konzert schmeichelt dem Solisten auf der Es-Trompete in den schönsten Tönen in seiner ihm ureigenen Tonart. Das Instrument erhält höchst sangliche Kantilenen, dankbar virtuose Läufe und rhythmisch prägnante Themen. Von äußerstem Gegensatz in der harmonischen Spannung ist dazu das in etwa gleichlange Trompetenkonzert des Armeniers Alexander Arutjunian, jenes Werk des damals erst 21-jährigen, welches ihm zu internationalem Durchbruch verhalf und bis heute eines der wenigen oft gespielten Stücke des Komponisten ist. Es ist geprägt von den unverkennbaren Einflüssen armenischer Volksmusik, von östlichen Tonskalen und sowjetisch bunt orchestrierter, orientalisch anmutender Harmonik sowie von problemloser Verständlichkeit und Unbeschwertheit für Spieler wie für Hörer. Das letzte Werk des Abends ist die Pastorale, die Symphonie Nr. 6 von Ludwig van Beethoven in der Tonart F-Dur. Das Schwesterwerk der Schicksalssymphonie besticht durch seine malerischen Naturbilder, durch endlose Motivrepetitionen im Kopfsatz, durch unendliche Melodien im folgenden Andante sowie die fast erzählerische Abfolge der kommenden drei Sätze, die unmittelbar miteinander verbunden sind. Eine besondere Schau ist natürlich der mitreißende Sturm-Satz mit ungebändigten Läufen, tiefem Grummeln in Streichern und Pauken sowie der stürmisch zischenden Piccoloflöte, die einen ihrer ersten solistischen und für das Werk substanziellen Einsätze in der Musikgeschichte erfährt.
Über die Darbietung lässt sich kurz und knapp sagen, sie war ausgesprochen gelungen und überzeugend. Vor allem bei Beethovens Pastoral-Symphonie war sie direkt frappierend gut. Diese Symphonie ist bekannt dafür, als endlos sich dahinziehender Einheitsbrei aus thematisch in sich kreisenden Motiven zu erscheinen, welcher banal und entwicklungslos vor sich hinplätschert, wie es sogar bei den Spitzenorchestern gerne der Fall ist. Es ließ also sehr aufhorchen, wenn an diesem Abend endlich einmal die großen Spannungsbögen entfaltet werden und die Musik die Kraft der befreiten Entwicklung erleben darf. Ola Rudner lässt die Musik aus ihrer Natürlichkeit und Schlichtheit entstehen, verleiht ihr nicht zu viel Härte – auch nicht im Sturm – und sorgt doch für einen ansteckenden Schwung und prächtige Ausdrucksvielfalt. Dass manch hörenswerte und thematisch bedeutsame Stimme dabei nicht ganz zum Vorschein kommt, ist wie stets hauptsächlich der teils etwas schwer zu strukturierenden Instrumentation des Werks geschuldet, welche die Hauptstimmen teils sehr effektiv überdeckt. Der schwedischstämmige Dirigent Ola Rudner zeigt hier eindrucksvoll, dass man mit tiefergehendem Verständnis für das Werk es schaffen kann, aus dem Trott der ewig gleichen Wiedergaben herauszukommen und der Symphonie wieder neues, frisches und unverbrauchtes Leben einzuflößen.
Auch in den anderen Programmpunkten überzeugen Orchester und Dirigent auf hohem Niveau, vermitteln Anmut und feinen Glanz in Mahlers Blumine und geben dem Solisten Ole Edvard Antonsen einen flexiblen Widerpart zu seinen Solostimmen. Außergewöhnlich anzusehen für so große Hallen sind die Gesten von Ola Rudner, die sehr innig, kompakt und komplett ohne Schielen auf außermusikalischen Effekt erscheinen, anstatt das von den meisten Dirigenten praktizierte publikumshascherischen Show-Gehabe zu präsentieren.
Einen wahren Star an der Trompete hat sich die Württembergische Philharmonie an das Solistenpult geholt, Ole Edvard Antonsen. In den zwei so verschiedenen Konzerten demonstriert er die verschiedenen Facetten seines Könnens und ist auch, wie seine pittoreske Zugabe „Fanfare“ zeigt, ebenso für zirkushaften Spaß und Hochseilartistik zu haben. Hervorzuheben ist sein unbeschreiblich ausgereiftes Spiel mit Distanzwechseln, sein Klang kann quasi direkt beim Hörer sein, aber auch in der Nähe vor der Bühne stehenbleiben oder gar wie hinter dem Podium befindlich erscheinen – zwischen diesen Ebenen kann er ohne Luft zu holen changieren. Im Haydn behält ein sanglicher und offener Ton in sprühender Farbigkeit und Lebendigkeit die Oberhand, bei Arutjunian differieren die diversen Tongebungen natürlich viel mehr und er stellt unter Beweis, auch zerbrechlich-zurückgezogen oder extrem auftrumpfend-anstachelnd spielen zu können. Mit technischer Makellosigkeit ausgestattet brilliert Antonsen in Lockerheit und bewusst gesetzter wie angenehmer Distanz zu den Stücken, die er zwar von seiner inneren Beteiligung her auskostet, aber emotional nicht in ihnen zu versinken droht.
Die Württembergische Philharmonie unter Ola Rudner zeigt sich herausragend auch als Begleiter, mit ausgereiftem musikalischen Verständnis – hieran sollte sich manch eines unserer A-Orchester ein Vorbild nehmen!