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Feminine Noten

In der kommenden Saison wird das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin in jedem Konzert das Stück einer Komponistin aufführen. Bahnbrechende Programmplanung oder Quotenregelung? Wer solch Regulativ kritisch sieht – wie die Pianistin Elena Bashkirova, die kürzlich in einem Interview mit der FAZ meinte, dass gute Musik gespielt werden soll, weil sie gut, nicht weil sie von Frauen ist – berücksichtigt nicht, dass diese nie die gleichen Chancen hatten. Der Weg zu einem Bewusstsein, dass Qualität nicht an das Geschlecht gebunden ist, ist noch nicht abgeschlossen, das Interesse an Komponistinnen aber merkbar gewachsen. Es schlägt sich auch auf dem CD- und Buchmarkt nieder. Die nachfolgende Auswahl gibt einen kleinen Einblick in die Flut von Veröffentlichungen der letzten Zeit.

Barbara Beuys: Emilie Mayer. Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche

Dittrich Verlag; ISBN: 978-3-947373-69-7

Beginnen wir bei Emilie Mayer. 1812 im mecklenburgischen Friedland geboren, geht sie nach dem Selbstmord des Vaters zu ihren Brüdern nach Stettin. Dort wird Carl Loewe, der heute für seine Balladen bekannte Musikdirektor, ihr Lehrer. Er erkennt ihr Talent und fördert sie, woraufhin sie sich über Konventionen und Vorurteile hinwegsetzt: sie wird Komponistin. Dabei beschränkt sie sich nicht auf kleine Formen, wie viele ihrer Kolleginnen, sondern kreiert neben Kammer- und Klaviermusik auch acht Sinfonien. In jeder Hinsicht selbstständig, publiziert sie ihre Werke auf eigene Kosten und organisiert Konzerte, das erste 1850 im Berliner Königlichen Schauspielhaus. „Ganz von weiblicher Hand ins Leben gerufen“, sei es „ein Unicum“, wie die Vossische Zeitung 1850 meldet. Es bekommt großen Zuspruch und erhält gute Kritiken aber auch abfällige Resonanz, die sich mehr auf ihr Geschlecht bezieht und sich an der Ansicht des Philosophen Friedrich Schlegel orientiert: „Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.“ Mayer, die zwischen der Hauptstadt und Stettin pendelt, hat sich zu Lebzeiten gegen männliche Dominanz behauptet, doch nach ihrem Tod 1883 gerät sie schnell in Vergessenheit. Erst Ende des letzten Jahrhunderts werden die Musikerin und ihr Werk wiederentdeckt. 2021 erhält sie ein Ehrengrab in Berlin, danach erscheint die erste Biographie. „Eine Spurensuche“ nennt sie die Autorin Barbara Beuys im Untertitel, er spielt an auf die spärliche Quellenlage. Doch Beuys macht aus der Not eine Tugend. Sie entwirft rund um die fragmentarisch verbürgten Lebensstationen Emilie Mayers ein vielschichtiges, um kleine Porträts von Zeitgenossen angereichertes Gesellschaftspanorama, das das kulturelle Umfeld ebenso einbezieht wie die damalige Situation der Frauen und deren Emanzipationsbestrebungen.

Compositrices. New Light on French Romantic Women Composers (8 CDs)

Bru Zane, BZ 2006; EAN: 8055776010090

Die Willenskraft der Deutschen, alle Herausforderungen im Alleingang zu überwinden, brauchte die etwas ältere Französin Louise Farrenc nicht. Sie beginnt ihre Karriere als Pianistin und gründet mit ihrem Ehemann, dem Flötisten Aristide Farrenc, einen Musikverlag, in dem ihre Werke gedruckt werden. Mit ihren Kompositionen Symphonien, Klavier- und Kammermusik etabliert sie sich bald auf den Pariser Konzertbühnen. Als sie eine Klavierprofessur am Konservatorium erhält, jedoch mit einem geringeren Gehalt als ihre Kollegen, kämpft sie um Gleichberechtigung und erreicht tatsächlich eine Angleichung. 

Louise Farrenc ist eine von 21 Compositrices, denen das Forschungskollektiv des Palazzetto Bru Zane eine ganze Box geschenkt hat. Vor dem Hören der acht prall gefüllten CDs lernen wir sie beim Lesen des vorzüglichen Booklets näher kennen: Musikerinnen, die vom Anfang des 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkten, damals eine gewisse Popularität genossen, heute aber bis auf wenige Ausnahmen kaum dem Namen nach bekannt sind. Die Rede ist beispielsweise von der 1764 geborenen Pianistin Hélène de Montgeroult und der Harfenistin Henriette Renié, Jahrgang 1875, die beide als Interpretinnen und Pädagoginnen Ansehen genossen, daneben komponierten und Lehrwerke für ihre Instrumente hinterließen. Oder von Marie Jaëll und Charlotte Sohy, die von ihren Gatten unterstützt und mit ihnen künstlerische Partnerschaften eingingen im Gegensatz zu vielen Kolleginnen, deren Kreativität durch häusliche Verpflichtungen und gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt war. Von der Außenseiterin Rita Strohl, geboren 1865, die mit spirituell durchdrungenen Werken von sich reden machte. Und nicht zuletzt von Mel Bonis, die statt ihres Taufnamens Mélanie die neutrale Verkürzung benutzte, in der Hoffnung, bessere Chancen bei der Verbreitung ihrer Werke zu haben. Auf familiäre Hilfe konnte sie nicht bauen. Belastet durch ein uneheliches Kind und gedrängt zur Heirat mit einem verwitweten Industriellen, musste sie ihr Leben lang um künstlerische Anerkennung kämpfen. Trotzdem war ihre Produktivität beeindruckend, ihr Œuvre umfasst 300 Werke unterschiedlichster Prägung. Eine Auswahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Anthologie, die allerdings nicht chronologisch oder nach Komponistinnen angeordnet ist. Jede CD steht für ein imaginäres, programmatisch die ganze stilistische und formale Bandbreite abdeckendes Konzert: Sinfonisches trifft auf Kammermusik, Vokalkantate auf Mélodies, Solo- auf vierhändige Klaviermusik.

Ein Beispiel: Die erste Silberscheibe beginnt mit einem in raffinierten Klangfarben schillernden Tongemälde von Mel Bonis, das thematisch um mythologische Frauen kreist. Dann erklingt eine Sonate für Cello und Klavier von Henriette Renié, die auf César Franck hinweist und anschließend führt ein Bouquet mit Liedern verschiedener Komponistinnen hinein in die feminine Vokalwelt u. a. maritime Miniaturen von Hedwige Chrétiens, Salonstücke von Cecile Chaminade und überschwängliche, fast opernhafte Gesänge von Charlotte Sohy. Interpretiert werden sie vom Tenor Cyrille Dubois und dem Pianisten Tristan Raës. Dabei gelingt dem langjährig vertrauten Duo große Liedkunst: eine perfekte Balance zwischen Stimme und Instrument, verbunden mit gestalterischer und dynamischer Subtilität. Auch die anderen Mitwirkenden sind stilistisch erfahrene Spitzenkräfte: Leo Hussain und das Orchestre national du Capitole de Toulouse sind darunter, das Piano-Duo Alessandra Ammara und Roberto Prosseda, der Cellist Victor Julien-Laferrière und die Sopranistin Anaïs Constans.

Nadia und Lili Boulanger: Les heures claires (3 CDs)

harmonia mundi, HMM 902356.58; EAN: 3149020946268

Die Compositrices bieten einen Querschnitt durch die feminine französische Musikgeschichte, der dazu anregt, tiefer in die Materie einzutauchen. Damit sind wir bei den Schwestern Nadia und Lili Boulanger, die in der Anthologie mit Nadias bombastischer Kantate La Sirène und drei Violinduos von Lili vertreten sind. Zur intensiveren Beschäftigung mit ihnen laden ihre kompletten Mélodies ein, die unter dem Titel Les heures claires bei Harmonia mundi herausgekommen sind. Das Booklet der Kassette beschreibt detailliert das Leben und Wirken der beiden fast symbiotisch miteinander verbundenen Künstlerinnen. Lili, die Jüngere, galt als Ausnahmetalent, errang als erste Frau 1913 den Prix de Rome, während Nadia 1908 den zweiten Platz erhielt. Nach Lilis frühem Tod mit nur 24 Jahren entschied sich die Ältere, nicht mehr zu komponieren. Sie wandte sich dem Dirigieren und Unterrichten zu und avancierte zu einer hoch angesehenen Pädagogin, die es bis zur Leiterin des Conservatoire Américain in Fontainebleau brachte. Die drei CDs führen ein in beider vokalen Kosmos, ergänzt um einige Stücke für Geige, Cello und Klavier. Im Mittelpunkt stehen zwei Zyklen, Nadias Les heures claires, den sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen und privaten Partner Raoul Pugno kreierte, und Lilis Clairières dans le ciel. Beide greifen Strömungen ihrer Zeit auf, mal mit spätromantischem Überschwang, mal in impressionistischen Harmonien schillernd, Lili auch einmal Wagners Tristan zitierend. Viele Lieder sind melancholisch grundiert, eines sticht besonders hervor: Dans l’immense tristesse, das letzte, von Lili kurz vor ihrem Tod vollendete, erschüttert durch die Kargheit der Mittel. Interpretiert wird dieser Abschied von Lucile Richardot, die dabei ihren reichen, wandlungsfähigen Mezzo ganz zurücknimmt. Sie trägt zusammen mit der äußerst nuanciert spielenden Pianistin Anne de Fornel den Löwenanteil der Edition, in Teilen verstärkt durch Stéphane Degout und Raquel Camarinha, die er durch erlesene Klangkultur, sie durch zarte Soprangespinste Boulangers vokale Kostbarkeiten ebenso ins schönste Licht rücken.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen. Gespräche mit Nadia Boulanger

Berenberg Verlag; ISBN: 978-3-949203-50-3

Näher lernt man Nadia Boulanger in dem Band Ich denke in Tönen kennen. Darin sind Gespräche zwischen ihr und dem Dokumentarfilmer Bruno Monsaingeon aufgezeichnet. Sie beinhalten biographische Skizzen, Reflexionen über ihre pädagogische Arbeit und Unterrichtsmethoden, ihre musikalischen Vorlieben sowie Erinnerungen an für sie wichtige Personen: etwa an den Lehrer Fauré, den Freund Igor Stravinsky, an Interpreten und Schüler, die sie prägte. Viele Berühmtheiten sind darunter: Aaron Copland, Leonard Bernstein, Phil Glass, um nur einen Bruchteil zu nennen. Einige von ihnen kommen auch selbst zu Wort: Leonard Bernstein oder Yehudi Menuhin zollen ihr gleichermaßen Verehrung, Respekt und Bewunderung. Mit Wärme gedenkt die manchmal streng Urteilende dem jung verstorbenen Pianisten Dinu Lipatti und vor allem Lili, die für die große Schwester zeitlebens präsent bleibt. Ihrer Meinung nach ist sie „die erste wirklich bedeutende Komponistin der Geschichte“. Ein Zeitschriftenartikel des Lyrikers Paul Valéry beendet das Buch. Er fasst zusammen, was diese „Grand Dame“ der Musik ausmachte: „Nadia dirigierte. Man hätte meinen können, sie atme das, was sie hörte, und existiere nur – und könne nur existieren in der Welt der Klänge“.

Matthias Henke: Emmy Rubensohn. Musikmäzenin/Music Patron (18841961)

Hentrich & Hentrich; ISBN: 978-3-95565-523-5

Aus dem Rahmen der Komponistinnen fällt Emmy Rubensohn. Denn die aus einer jüdischen Familie stammende, 1884 geborene Leipzigerin ist weder professionelle Tonschöpferin noch Ausführende. Und doch passt sie zu ihnen, weil auch sie für Musik brennt. Als Zuschauerin und hinter den Kulissen. Dort agiert sie als Mäzenin, Konzertmanagerin und Netzwerkerin. Und sie betreibt einen Salon Domäne des weiblichen Bürgertums , anknüpfend an historische Vorbilder wie Rahel Varnhagen. Berühmte Künstler gehen bei ihr ein und aus, davon zeugt ein Gäste- und Erinnerungsbuch, das sie seit ihrer Heirat mit dem Fabrikantin Ernst Rubensohn 1907 führt. Die Dirigenten Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler sind darunter, die Primadonna Lilli Lehmann, der Maler Oskar Kokoschka und der Komponist Ernst Krenek. Er wohnt während seiner Kasseler Zeit bei dem Ehepaar, es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, gehört Emmy zu den Gründungsmitgliedern des jüdischen Kulturvereins Kassel. 1940 emigriert sie mit ihrem Mann nach Shanghai, 1947 in die USA. Hier setzt sie bis zu ihrem Tod 1961 ihr förderndes Engagement für Musik und Kunst fort, gewinnt in Alma Mahler-Werfel eine Freundin und steht den Dirigenten Dimitri Mitropoulos und Joseph Rosenstock zur Seite. 2021 wird sie in ihrer Heimatstadt mit der Ausstellung Vorhang auf für Emmy Rubensohn! Musikmäzenin aus Leipzig gewürdigt, zunächst im Gewandhaus, momentan im Grassi-Museum. Vom Musikwissenschaftler Matthias Henke kuratiert, hat der Verlag Hentrich & Hentrich den üppig ausgestatteten, zweisprachigen Katalog herausgegeben. Die informativen Texte, zahlreichen Fotos und Dokumente machen ihn zu einer kulturhistorischen Fundgrube. Ans Licht kam die bisher kaum bekannte Vita von Emmy Rubensohn nach einer Spurensuche, wie Henke seine aufwendigen Recherchen bezeichnet. Womit sich der Kreis schließt.

[Karin Coper, September 2023]

Gegen das Vergessen -Verfolgte Komponisten in den Niederlanden: Biographien und CDs

Hentrich & Hentrich; ISBN 978-3-95565-379-8 

In einem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Kurzbiographien-Band erinnern Carine Alders und Eleonore Pameijer an Komponistinnen und Komponisten aus den Niederlanden, die während des Zweiten Weltkriegs verfolgt und ausgegrenzt wurden. Das Buch steht in enger Verbindung mit einer bereits 2015 von Etcetera veröffentlichten 10-CD-Edition.

Verfemt, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, ermordet: Von diesem Schicksal waren unzählige vorwiegend jüdische Kunstschaffende während des Nationalsozialistischen Regimes betroffen. Ihre Karriere wurde abrupt beendet und nur wenigen gelang es, in der Emigration eine neue Existenz aufzubauen oder nach dem zweiten Weltkrieg an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die meisten gerieten in vollständige Vergessenheit. Erst in den 80er Jahren begann dank privater Initiativen, Forschungsprojekten und dem wachsenden Interesse von Musikwissenschaft und Dramaturgie die allmähliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieser Künstlergeneration. Eine Renaissance ihrer Werke läutete exemplarisch die Decca-Edition „Entartete Musik“ ein, beispielhaft sind auch die Aktivitäten des Berliner Vereins Musica reanimata oder des Wiener exil.arte Zentrums.

Ähnlich konzipiert ist die in Amsterdam ansässige Leo Smit-Stiftung. Schwerpunktmäßig widmet sie sich niederländischen Komponistinnen und Komponisten, die nach der Besatzung durch die Deutschen 1940 Repressalien aller Art ausgesetzt waren und deren Werke nicht mehr aufgeführt werden durften. Initiiert wurde sie 1996 von der Flötistin Eleonore Pameijer, nachdem sie auf Musik von Smit gestoßen war und ihre Stärke erkannt hatte. Mittlerweile integriert sie seine Stücke regelmäßig in ihre Konzertprogramme. Damit erfüllt sie eines der Ziele der Stiftung: verschüttete musikalische Schätze zu bergen, um sie ins heutige Repertoire einzubinden. Viel Arbeit steckt dahinter:  Nachlässe müssen gesichtet werden, aufgefundene, teils nur handgeschriebene Partituren eingerichtet werden.

Einen umfassenden Überblick über die bisherigen Forschungen gibt der Sammelband Verfolgte Komponisten in den Niederlanden, der 2015 von Pameijer zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Carine Alders herausgegeben und kürzlich in deutscher Übersetzung im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen ist. Er vereint Biographien von 34 Musikschaffenden – darunter fünf Frauen –, rekonstruiert durch Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Profession, teilweise auch durch Verwandte. Diese Schilderungen, denen jeweils ein Foto vorangestellt ist, bringen zerstörte Lebensläufe ans Licht, erzählen von individuellen Schicksalen und dem künstlerischen Vermächtnis der Einzelnen, öffnen aber auch den Blick für das niederländische Musikleben, gesellschaftliche Querverbindungen und Zusammenhänge.

Aus der Gesamtheit ragt Leo Smit hervor, Namensgeber der Stiftung und innerhalb der „Jüdischen Miniaturen“ desselben Verlags mit der Biographie Unerhörtes Talent von Klaus Bertisch ausführlicher gewürdigt (ISBN 978-3-95565-070-4). Bereits seine ersten Orchesterstücke, die er während des Studiums komponierte, wurden vom Concertgebouw aufgeführt. Mitte der 20er Jahre zog er nach Paris und lernte dort die französische Musikeravantgarde kennen, deren Einflüsse fortan sein weiteres Schaffen – einiges für größeres Orchester, vorwiegend aber Kammermusiken in verschieden Besetzungen – prägte. Als er nach fast 10 Jahren 1937 nach Holland zurückkehrte, hatte sich die politische Lage bereits verschärft, so dass sich sein Wirkungskreis bald auf jüdische Institutionen beschränkte. Sein letztes und heute bekanntestes Werk, eine Sonate für Flöte und Klavier, vollendete er nur einige Tage vor der Deportation ins Vernichtungslager Sobibor, wo er Ende 1943 ermordet wurde.

Dieses Schicksal teilte Smit mit seinem begabten Schüler Dick Kattenburg. Er kam mit nur 24 Jahren in Auschwitz um, genauso wie der Synagogalkomponist und Chorleiter Simon Gokkes und das pianistische Wunderkind Mischa Hillesum. Dessen Schwester Etty hinterließ Tagebücher, die zu den bedeutendsten holländischen Zeugnissen der Besatzungszeit gehören.

Das Glück, zu überleben, hatten nur wenige. Beispielsweise Sem Dresden, Direktor des Konservatoriums in Den Haag, bedeutender Lehrer und einer der Leitfiguren des holländischen Musiklebens, der untertauchen konnte. Oder der deutsche Komponist und Pazifist Wilhelm Rettich, den eine frühere Klavierschülerin versteckte. Er gehört, wie auch die ungarischen Musiker Géza Frid und Zoltán Székely zur Gruppe jüdischer Tonkünstler anderer Nationalität, die hofften, in den bis 1940 neutralen Niederlanden, Schutz zu finden.

Andere gingen aktiv in den Widerstand: Marius Flothuis, vor und nach dem Krieg künstlerischer Direktor des Amsterdamer Concertgebouw, half untergetauchten Juden und wurde selbst interniert, Leo Kok, künstlerisch mehrfach begabt und politisch seit jungen Jahren aktiv, schloss sich der französischen Résistance an.

Auch Rosy Wertheim, die sich schon als junge Frau für sozial Schwache engagiert hatte, widersetzte sich den Anordnungen der Besatzung. Sie organisierte illegale Konzerte mit verbotener Musik, musste dann aber selbst untertauchen. Wertheims Biographie ist für ihre Zeit besonders bemerkenswert. Sie war eine der ersten Komponistinnen ihres Landes und lebte zeitweise in New York, Wien und Paris, wo sie einen Künstlersalon unterhielt, in dem führende Musiker ein- und ausgingen.

Forbidden Music in World War II (10 CD)

Etcetera, KTC 1530; Ean: 8711801015309

Im Anhang der Biographien, von denen hier nur ein Bruchteil skizziert werden kann, befinden sich Auflistungen der verwendeten Quellen und der erstaunlich umfangreichen Diskographie. Aus diesen Tondokumenten, die überwiegend bei kleineren Labels erschienen sind, stellte die holländische Firma Etcetera eine Kompilation zusammen. Sie heißt Forbidden Music in World War II und ist das quasi unverzichtbare musikalische Pendant zur Lektüre. Die Box enthält zehn prall gefüllte CD’s mit Musik von einem Großteil der im Buch Porträtierten. Die Bandbreite der zwischen 1900 und 1967 entstandenen Kompositionen reicht von großbesetzter Sinfonik über Solokonzerte bis zu Kunstliedern. Meist aber sind es kammermusikalische Werke in verschiedenen Kombinationen, angepasst an die Bedingungen unter denen sie entstanden. Was ihnen gemein ist: sie spiegeln die Vielfalt der damaligen zeitgenössischen Strömungen wider.

Dominierend ist der Blick nach Frankreich, zumal von denjenigen, die einige Zeit dort lebten und durch erste Hand inspiriert wurden. In Leo Smits farbschillernden Ballettmusik Schemselnihar sind die Impressionisten, Debussy und Ravel, allgegenwärtig, in Rosy Wertheims Streichquartett steht die auf Vereinfachung und Klarheit zielende Groupe de Six Pate und Leo Kok komponierte den Gesangszyklus Sept Mélodies Retrouvées im Stil der Mélodie francaise.

Zur Unterhaltungsmusik fühlte sich Dick Kattenburg hingezogen. Seine Kammermusik ist durchpulst von Jazzelementen und Tanzrhythmen, etwa in der Sonate für Flöte und Klavier mit ihrer Melodik, den süffigen Harmonien und dem Tangorhythmus im Mittelsatz. Andererseits setzte er sich musikalisch mit seinen Wurzeln auseinander. Lebensfreude in dunkler Zeit versprühen seine auf hebräische Melodien basierenden Palästinensischen Lieder.

Lex van Delden hingegen knüpfte in manchen Orchesterstücken an neoklassizistische Traditionen à la Strawinsky an, scheinbar unberührt von avantgardistischen Tendenzen. Der Komponist, der sich nach dem Krieg für die Belange niederländischer Musikschaffender einsetzte, erhielt selbst besondere Wertschätzung, als in den 60er Jahren einige seiner sinfonischen Werke vom Concertgebouw Orchester unter so bedeutenden Dirigenten wie Bernard Haitink, Eugen Jochum und George Szell aufgeführt wurden. Die erhaltenen Life-Mitschnitte sind ein bedeutender Teil der Anthologie.

Noch viel mehr gibt es zu entdecken in dieser schier unerschöpflichen musikalischen Fundgrube, nur einiges kann als Kostprobe erwähnt werden: Die aufs Wesentliche komprimierte Klavier-Sonate und das Streichquartett von Nico Richter, die sich in Richtung Wiener Schule orientieren und in ihrer Kürze an Anton von Webern erinnern; die freche Modern Times Sonata für Geige und Klavier von Ignace Lilien, die den Geist der 20er Jahre einfängt und mit seinem sozialkritischen Gesangszyklus Mietskaserne kontrastiert; eine spätromantische Konzertouvertüre und ein Nonett von Jan van Gilse; die fast gleichzeitig in den 50er Jahren entstandenen duftigen Dialoge für Harfe und Flöte von Theo Smit Sibinga und Marius Flothuis; effektvolle, klangfarbenreiche Solokonzerte für Flöte bzw. Klavier und Kammerorchester von Henriëtte Bosmans; französische Chansons von Marjo Tal, von ihr selbst vorgetragen.

Den Großteil der Einspielungen bestreitet ein Stamm von Musizierenden. An erster Stelle muss die Flötistin Eleonore Pameijer genannt werden. Sie hat sich mit Leib und Seele der Rehabilitation dieser Werke verschrieben und wirbt für sie mit ihrer ganzen spieltechnischen und interpretatorischen Kompetenz. Einher geht dieses Engagement mit der Partnerschaft zu einer Reihe von hochkarätigen Instrumentalisten und Instrumentalistinnen, die in unterschiedlichen Formationen aufeinandertreffen. Zu ihnen gehören die Sopranistin Irene Maessen, die Geigerin Marijke van Kooten, die Cellistin Doris Hochscheid, die Harfenistin Erika Waardenburg und die Pianisten Frans van Ruth und Marcel Worms. Ihre Vertrautheit beim Zusammenspiel ist stets spürbar, aber auch das Wissen um feine Abstimmungen, kluge Strukturierung, Klangfarben und Phrasierung.

Abgeschlossen ist der Wiedererweckungsprozess noch lange nicht. Doch sukzessive werden Lücken geschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert. Ja, „Musik muss erklingen“. In dieser bemerkenswerten Anthologie tut sie es auf beispielhafte Weise.

Karin Coper [Juli 2021]