Schlagwort-Archive: Henri Dutilleux

Strahlende Impressionen

Berlin Classics, 0301708BC; EAN: 885470027082

Sophie Dervaux (Fagott) und Selim Mazari (Klavier) widmen sich auf ihrem bei Berlin Classics erschienenen Album Impressions französischen Kompositionen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Ich weiß schon, warum das Fagott zu meinen Lieblingsinstrumenten gehört. Noch dazu, wenn es von solch einer Könnerin gespielt wird! Sophie Dervaux präsentiert auf ihrer CD Stücke französischer Komponisten, die ihr als Französin natürlich besonders liegen. Im Booklet betont sie in einem Interview, wie wichtig es ihr ist, die verschiedenen Möglichkeiten des Fagotts zu zeigen, von den tiefsten Basslagen bis hin zu ungewöhnlichen melodischen Possibilitäten.

Verständlicherweise kommen Bearbeitungen solcher „Reißer“ wie Debussys Clair de Lune, Faurés Après un Rêve und Ravels Habanera dran. Aber eben auch in Deutschland weniger Bekanntes wie die 1918 komponierte dreisätzige Sonate op. 71 von Charles Koechlin (1867–1950), die Transkription des Liedes A Chloris von Reynaldo Hahn (1874–1947), oder die Sarabande von Henri Dutilleux (1916–2013), ein Frühwerk von einem der außergewöhnlichsten Komponisten des modernen Frankreich. Den Abschluss bildet die Komposition Interferences von Roger Boutry (1932–2019), bei der Sophie Dervaux in Bereiche des Instruments vorstößt, die extrem ungewöhnlich sind und einen schönen Kontrapunkt bilden zur Sonate op. 168 von Camille Saint-Saëns (1835–1921).

Die Arrangements stammen von der Musikerin selber und von ihrem Lehrer Carlo Colombo. Der Pianist Selim Mazari, der „begleitet“, ist ein adäquater Partner, sehr sensibel und bereitet damit genau das „Silbertablett“ vor, auf dem die Solistin wunderbar zum Strahlen kommt. Es ist eine wunderbare CD, die hoffentlich diesem Instrument noch viele Türen öffnen kann.

[Ulrich Hermann, Juni 2021]

Die musica viva gedenkt Galina Ustwolskaja und Hans Zender

Am 21. 11. 2019 gedachte die musica viva bei einem Sonderkonzert des 100. Geburtstags der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja, mit einer Aufführung ihres kompositorischen Tryptichons „Triade“ durch Mitglieder des BR-Symphonieorchesters. Im ersten Teil des Abends spielte Nicolas Altstaedt Werke für Solo-Violoncello von Bach und Dutilleux. Das Symphoniekonzert am darauffolgenden Freitag – eigentlich anlässlich der „Happy New Ears“-Preisverleihung 2019 – geriet dann natürlich zur Gedenkveranstaltung für den erst einen Monat zuvor verstorbenen Komponisten, Dirigenten und – gemeinsam mit seiner Frau Gertrud – Stifter des Preises, Hans Zender. Unter der Leitung von Peter Rundel erklangen Werke des diesjährigen Komponisten-Preisträgers Klaus Ospald und Hans Zenders.

(c) Astrid Ackermann

Die Komponistin Galina Ustwolskaja (1919-2006) ist in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ein Unikum geblieben. Da ist einmal ihr Selbstbild als Medium göttlicher Inspiration und einsames Genie, was zu Zeiten der UdSSR natürlich auf wenig Zustimmung stieß. Auch der kommerzielle, westliche Musikbetrieb wurde erst ab den 1990ern zunehmend aufmerksam auf Ihre Musik. Die geht mit nur scheinbar einfachsten Mitteln ausschließlich in die Extreme, äußerliche Reduktion bei gleichzeitig unerhörter Dichte – ganz wörtlich vor allem durch Cluster – des Klangeindrucks, der den Hörer unmittelbar „trifft“, um nicht zu sagen: erschlägt.

Im ersten Teil bringt Nicolas Altstaedt zwei Werke für Solocello zu Gehör: Ganz ausgezeichnet Dutilleux‘ Trois Strophes sur le nom de Sacher – energisch, facettenreich und in sich geschlossen. Für Bachs fünfte Solosuite benutzt Altstaedt dann ein Barockcello – sein Vortrag gerät sehr intim, nach innen gerichtet, dabei mit immer klar bestimmter harmonischer Richtung, dynamisch grandios – oft quasi sul tasto –, aber gleichzeitig mit sehr definiertem Einzelton. Schade, dass das Publikum diese eigentlich hinreißende und virtuose Darbietung anscheinend nur als Appetizer wahrnimmt: eine Brücke zur Musik Ustwolskajas kann hiermit sicher nicht gebaut werden.

Ustwolskajas Triade, eigentlich schlicht Kompositionen Nr. 1-3 benannt, besteht aus drei kammermusikalischen Werken der frühen 1970er-Jahre mit höchst ungewöhnlicher Besetzung, liturgisch betitelt: So lotet Dona nobis pacem die Extremlagen von Piccoloflöte und Tuba (bzw. Kontrabasstuba) aus, die vom Klavier mehr Verdoppelung als Kontrast erfahren, insgesamt durchaus meditativ wirken. Dies irae für 8 Kontrabässe (differenziert, aber immer homophon), einen mit Hämmern malträtierten Holzwürfel und Klavier evoziert teilweise brachial eine Vision von Vergänglichkeit bzw. Apokalypse; etwas milder dann Benedictus qui venit, für je 4 Flöten und Fagotte plus Klavier. Die Musik der rätselhaften Russin entwickelt in kleineren Räumen immer eine gewisse Penetranz. Davon ist hier – liegt es am Herkulessaal oder sind die Mitglieder des BR- Symphoniekonzertes etwa wirklich noch auf eine Art Schönklang aus? – wenig zu spüren. Die Musiker sind innigst bei der Sache; das Klavier könnte im Ensemble perfekter zusammen sein – der Gesamteindruck bleibt jedoch blass. Beim Rezensenten vermutlich, weil er auch russischen Ikonen so gar nichts abgewinnen kann. Die Reaktion beim Publikum scheint gespalten zwischen tief beeindruckt und eher gelangweilt.

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Am 22.11. wäre Hans Zenders 83. Geburtstag gewesen, das Symphoniekonzert zur Happy New Ears-Preisverleihung nur zufällig auf diesen Termin gefallen. Der großartige Förderer nicht nur der Münchner musica viva (s. die Rezension des letzten, nur seiner Musik gewidmeten Konzerts von 2016) verstarb jedoch einen Monat zuvor. So muss auch die diesjährige Preisverleihung in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste nur in Anwesenheit seiner Witwe und Mitstifterin Gertrud Zender stattfinden. Die Komponistin Isabel Mundry hält eine etwas schrullige Laudatio, wo hingegen die Danksagung des Preisträgers für Komposition, Klaus Ospald, gleichzeitig zum tief bewegenden Nekrolog auf Zender wird, ebenso eindringlich die des Preisträgers für Publizistik, Jörn Peter Hiekel, der intelligent die Rolle u.a. der Musikwissenschaft in der Vermittlung „Neuer Musik“ beleuchtet – beide Preisträger hatten Hans Zender noch kurz vor dessen Ableben persönlich besucht.

So gerät natürlich auch das Symphoniekonzert am Abend zur In Memoriam-Veranstaltung; gleich zu Beginn bittet Winrich Hopp um eine Gedenkminute. Umso erfreulicher, dass sich das gut 50-minütige Werk Ospalds, Más raíz, menos criatura, nicht nur als preiswürdig, sondern als eines der faszinierendsten Stücke erweist, die in den letzten fünf Jahren in München zu hören waren. Klaus Ospald ist bekannt dafür, sich dem Neue-Musik-Betrieb in keinster Weise anzubiedern. Und er hat seine ganz eigene musikalische Sprache gefunden: Trotz großer Besetzung mit fast schon traditionell verwendetem Soloklavier, von dem immer wichtige Impulse ausgehen (souverän und mit tiefem Verständnis: Markus Bellheim) und 8-stimmigem Vokalensemble, das anfangs nur sporadisch mit fragmentierten Einsprengseln zum Einsatz kommt (Singer Pur, vielleicht zu weit hinten platziert), gibt es hier keine Note zu viel. Die Dichte an Einzelereignissen ist mühelos zu erfassen, die Musik vielleicht gerade deswegen ungemein spannungsreich, die Klangfarben äußerst subtil. Dem in der Einführung vom Komponisten erwähnten Bemühen um Wiedererkennbarkeit – was nicht zwangsläufig mit Wiederholung gleichzusetzen ist – wird Ospald z.B. dadurch gerecht, dass er den Klavierklang vom Orchester, bisweilen mikrotonal leicht verfremdet, aufnehmen und weiterführen lässt; ein ähnliches Wechselspiel gibt es zwischen Orchester und Vokalensemble. Das grausam existentielle Gedicht von Miguel Hernández – im Verdichtungsprozess gegen Schluss dann präsenter – dient hierbei nur als Vorlage für eine musikalische Gedanken- und Gefühlswelt, die jedes vordergründige Abbilden vermeidet, aber umso stärker trägt. Peter Rundel steuert diesmal gerade das differenzierte dynamische Geschehen richtig gut – verdient großer Applaus schon vor der Pause.

Im zweiten Teil des Konzertes gibt es – auch als Ausblick auf das Beethoven-Jahr 2020 – Zenders 33 Veränderungen über 33 Veränderungen, eine seiner komponierten Interpretationen; viel gespielt mittlerweile die der Winterreise. In der Reihenfolge unverändert, werden Beethovens Diabelli-Variationen zwar nicht auseinandergenommen, jedoch bei jeder einzelnen wird höchst intelligent und auch über weite Strecken mit respektablem Humor ihre Unerhörtheit aus damaliger Sicht in eine für heutige Ohren – mit all den musikhistorisch geprägten Ablagerungen der letzten zwei Jahrhunderte – gleichermaßen überraschende Couragiertheit transformiert. Leider steht jetzt Peter Rundel zumindest in den ersten 8 bis 10 Variationen etwas neben sich, schlägt oft unnötig kleinteilig; vieles wird schlicht zu langsam. Zum Glück fängt sich der Dirigent aber wieder und gestaltet den weiteren Verlauf mit seinem lustvoll aufspielenden Orchester überzeugender: großartig trotz kleinerer Patzer insbesondere Var. XXXI mit ihren Trompetensoli und die darauf folgende, brillante Fuge. Den Blumenstrauß zum Schluss überreicht Rundel dann, ins dankbare Publikum eilend, Zenders Witwe. Ein bewegender Abend, den der interessierte Leser am 3.12.2019 um 20:05 Uhr auf BR-Klassik nachhören kann.

[Martin Blaumeiser, November 2019]

Exzellenter Dutilleux aus Lille

Naxos, 8.573746; EAN: 74731337467

Naxos setzt seine Dutilleux-Einspielungen mit dem Orchestre National de Lille fort. Diesmal erklingt unter Chefdirigent Jean-Claude Casadesus die 1. Symphonie, «Métaboles» sowie das Kammermusikstück «Les Citations».

Nach der überraschend guten CD (u.a. mit der 2. Symphonie) unter der Leitung von Darrell Ang, die vor knapp anderthalb Jahren bei Naxos erschien (hier meine Kritik), darf nun der Chef des Orchestre National de Lille, Jean-Claude Casadesus, selbst ran. Henri Dutilleux‘ 1. Symphonie (1951) war überhaupt sein erstes reines Orchesterstück. Ein durch und durch unkonventionelles, freilich noch weitestgehend tonales Werk, in dem der französische Meister bereits seine Eigenständigkeit und geradezu perfektionistische Instrumentationskunst zeigt. Die vier attacca aufeinander folgenden Sätze erscheinen auch heute noch frisch, abwechslungsreich, sind in ihrer Klanglichkeit stets überraschend, ohne dass der Komponist sich um einen wie auch immer verstandenen Fortschrittsmythos scheren wollte. Gerade die ganz speziellen, sofort die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich ziehenden Klangkombinationen – etwa die irisierenden Holzbläser mit Celesta im ersten Satz – stellt Casadesus deutlich als etwas Faszinierendes, Besonderes heraus. Bei der Passacaglia zu Beginn kann man sich fragen, ob sie Witold Lutoslawski gekannt hat, sie möglicherweise sogar als Vorbild für die Passacaglia in seinem berühmten Konzert für Orchester gedient haben mag. Der gewaltige Entwicklungsbogen wird von Casadesus mit großer Ruhe und Souveränität, aber auch der nötigen Unnachgiebigkeit beeindruckend dargestellt; das gilt dann gleichermaßen auch für die übrigen Sätze. Die Aufnahmetechnik ist diesmal perfekter als bei der vorigen CD und unterstützt die kompromisslose Durchsichtigkeit des Dirigenten noch. Die von mir dort kritisierte Höhenbetonung gibt es zum Glück nicht mehr. Hier gelingt eine Aufnahme, die mit ihrer unmittelbaren Direktheit selbst Barenboim (Erato) und Tortelier (Chandos) auf Abstand hält: großartig!

Métaboles von 1965 ist neben dem Cello- und Violinkonzert wohl das am häufigsten aufgeführte groß besetzte Werk Dutilleux‘. Deutlich komplexer und bereits vom Material her elaborierter – der mittlere der fünf wieder kontinuierlichen Sätze benutzt eine Zwölftonreihe, wenn auch eher als ironischen Seitenhieb denn in strenger Schönberg-Manier – kann das Stück trotzdem immer wieder mit seinen oft fast jazzartigen Rhythmen und der auch alle Orchestergruppen getrennt herausfordernden Orchestrierung begeistern. Casadesus weiß hier ebenfalls zu überzeugen – eine der besten Wiedergaben seit der legendären Einspielung durch Charles Munch. Besonderes Lob verdienen alle Orchestermitglieder, die ihre anspruchsvollen Soli in beiden Werken mit Hingabe und auf Weltklasse-Niveau meistern.

So verwundert trotz der unüblichen Zusammenstellung nicht, dass diese CD mit einem reinen Kammermusikwerk – für Oboe, Cembalo, Schlagzeug und Kontrabass – schließt. Les Citations (1985/90) zitiert tatsächlich: im ersten Satz Benjamin Brittens Peter Grimes, im zweiten den Renaissance-Meister Janequin sowie den 1940 mit nur 29 Jahren gefallenen Orgelkomponisten Jehan Alain. Ein überwiegend meditatives Meisterwerk, das bislang auf Tonträgern eher vernachlässigt wurde und hier von Spielern des Symphonieorchesters aus Lille mit der bei allen spieltechnischen Finessen gebotenen Intimität realisiert wird. 

[Martin Blaumeiser, Oktober 2018]

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Die Schönheit zeitloser Moderne

Naxos, LC 05537; EAN: 0747313359677

Naxos widmet eine neue CD drei wichtigen Orchesterwerken des französischen Komponisten Henri Dutilleux. Das Orchestre National de Lille unter der Stabführung von Darrell Ang – Preisträger u.a. des renommierten Dirigierwettbewerbs in Besançon 2007 – kann dabei mühelos mit bekannteren Klangkörpern mithalten.

Henri Dutilleux (1916-2013) galt unter den bedeutenden französischen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als der Perfektionist schlechthin. Ähnlich dem Amerikaner Elliott Carter schuf er in einem sehr langen Leben selbstkritisch ein überschaubares Werk, wobei aber alle Stücke quasi das Prädikat eines Meisterwerks erhalten könnten.

Unter der Leitung des aus Singapur stammenden Dirigenten Darrell Ang (Jahrgang 1979) hat Naxos jetzt drei Orchesterwerke des französischen Meisters herausgebracht; Aufnahmen, die sich allerdings gewichtiger Konkurrenz stellen müssen. Beim Publikum wie auch den immer hochrangigen Interpreten, die Dutilleux‘ Werke uraufführen durften, erfreute sich der Komponist stets großer Beliebtheit. Denn – egal, welche Komplexität sich im Detail unter ihrer Oberfläche auch verbergen mag – Dutilleux‘ Musik klingt zunächst einmal einfach schön. Das verbindet vor allem sein Orchesterwerk etwa mit dem des Polen Witold Łutoslawski. Der Franzose hat sich immer dagegen gewehrt, einer bestimmten Schule zugeordnet zu werden; insbesondere trennten ihn Welten vom Dogmatismus der seriellen Musik der Darmstädter – daher auch das gegenseitige Unverständnis zwischen ihm und Pierre Boulez. Was den Umgang mit differenziertesten Orchesterfarben angeht, war Dutilleux vielleicht der bisher talentierteste französische Komponist überhaupt. Seine Harmonik ist ausgefeilt, beinhaltet aber meist noch tonale Bezugspunkte wie etwa Zentraltöne. Inspiration hat er stets auch aus anderen Künsten gewonnen: So ist Timbres, espace, mouvement eine Auseinandersetzung mit van Goghs berühmten Gemälde La nuit étoilée.

Die Zweite Symphonie (1955-59) trägt den Untertitel ‚Le Double‘, weil sich ein volles Orchester und dazu noch eine Kammermusikgruppe von nicht weniger als 12 Spielern gegenseitig bespiegeln, überlagern und einige Konfrontationen durchstehen müssen. Die klare Motivik des Beginns zieht sich satzübergreifend durch die gesamte Symphonie, verändert und entwickelt sich großräumig, wobei auch Jazzelemente attraktiv Verwendung finden. Spieltechnisch kann sich das Orchestre National de Lille durchaus mit dem Orchestre de Paris (zwei Aufnahmen unter Daniel Barenboim bzw. Semyon Bychkov) messen. Darrell Ang spürt die klanglichen Schönheiten durchsichtig bis ins Detail auf – auch historische Bezüge sind sofort klar, etwa die Nähe mancher Passagen des langsamen Satzes zu Strawinsky. Den ganz großen Bogen spannen kann er jedoch, verglichen mit Barenboim und Bychkov, hier noch nicht, bewegt sich aber immerhin auf dem Niveau von Yan Pascal Tortelier mit BBC Philharmonic (Chandos).

Timbres, espace, mouvement klingt schon vielversprechender. Die nächtlichen Farben – hohe Streicher fehlen – in oft extremer Lage liegen Ang anscheinend außerordentlich. Mystère de l’instant (für 24 Streicher, Solo-Cymbalom & Schlagzeug) wurde 1989 noch für Paul Sachers berühmtes Basler Kammerorchester geschrieben und ist im Gegensatz zu den meisten Kompositionen Dutilleux‘ eher episodisch und kleinteilig aufgebaut. Hier gelingt eine rundum überzeugende Darbietung, die sich auch vor den Einspielungen unter Sacher, Holliger oder Soustrot nicht verstecken muss. Lediglich einige (vermeintliche?) Exotismen geraten etwas zu vordergründig. Die Aufnahmetechnik bietet ein sehr detailreiches und räumliches Klangbild, betont für meinen Geschmack jedoch die Höhen etwas zuungunsten der Mitten, was an manchen Stellen eine unnötige Schärfe ergibt. Insgesamt ist dies sicher eine empfehlenswerte Dutilleux-Neuaufnahme, die einmal den Blick von um eine ganze Generation jüngeren Musikern auf das Werk des genialen Franzosen deutlich werden lässt.

 

[Martin Blaumeiser, April 2017]

Musik für die Zukunft

Henri Dutilleux (1916-2013): Sur le même accord; Les citations; Mystère de l’instant; Timbres, espace, mouvement (ou „La nuit etoilée“)

Seattle Symphony; Ludovic Morlot, Dirigent; Augustin Hadelich, Violine; Mahan Esfahani, Cembalo; Chester Englander, Cimbalom; Mary Lynch, Oboe; Jordan Anderson, Kontrabass; Michael A. Wernern, Perkussion

SSM1012; EAN: 8 55404 00 6512

Ein großer Einzelgänger, das war er, der französische Komponist Henri Dutilleux. Er lebte zurückgezogen auf einer kleinen Seine-Insel mitten in Paris. Moden, Mainstream, die Haute volée, all das interessierte ihn wenig. Seine Kompositionen sind häufig von Themen aus der Malerei angeregt, wie z. B. „Timbres, espace, mouvement“ vom entsprechenden Bild des Sternenhimmels von Vincent van Gogh.

Das erste Stück auf dieser faszinierenden CD ist ein Nocturne, für dessen Ausarbeitung  Dutilleux 15 Jahre von der Idee bis zur fertigen Fassung benötigte – er war ein von Selbstzweifeln geplagter Schöpfer, der viele seiner frühen Kompositionen radikal vernichtete. Augustin Hadelich ist der exzellente Solist, und ich erinnere mich mit großem Vergnügen an die Einspielung der beiden Violinkonzerte von Sibelius und Thomas Adès vor einiger Zeit mit dem Dirigenten Hannu Lintu. Auch bei diesem Stück von Dutilleux – es ist Ann- Sophie  Mutter gewidmet –  ist die Solopartie bei Hadelich in besten (musikalischen) Händen. Die Intensität der Dutilleux’schen Klangsprache ist bezwingend, die Eigenständigkeit seiner Musik – weitab von jeder Mode wie „seriell“ oder „atonal“ zeigt einmal mehr, warum ihn z. B. Sergiu Celibidache für einen der drei besten Komponisten des späten 20. Jahrhunderts hielt.

Dem Booklet ist zu entnehmen, dass das Orchester aus Seattle unter seinem Dirigenten  Ludovic Morlot sich sehr ausführlich in seinen Programmen mit Neuer Musik befasst und es auch als seine Aufgabe ansieht, sie dem Konzertpublikum – ob jung oder alt – nahezubringen. Dass es dabei von vielen Gönnerinnen und Gönnern unterstützt wird, ist ein Tradition in der amerikanischen Kulturszene.

Das Quartett „Les citations“ ( die Zitate) für Oboe, Cembalo, Kontrabass und Perkussion ist nicht nur wegen seiner ausgefallenen Besetzung hörenswert. Als „composer in residence“  im Sommer 1985 in  Aldeburgh (dem Festival, das Benjamin Britten zusammen mit Peters Pears ins Leben gerufen hatte) schrieb Dutilleux den Beginn, aber erst fünf Jahre später war das Stück seinen Ansprüchen entsprechend fertig. Es zitiert nicht nur den jungverstorbenen Jehan Alain (1911-1940) – in der Art des Renaisssance-Komponisten Clement Janequin (1485-1558) –, sondern auch Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“. Von langsamen und zarten Tönen bis hin zu jazzmäßigen, rhythmisch vertrackten Passagen ist das fast 14 Minuten lange Kammermusikwerk ein avanciertes Meisterstück. Und in den Händen der im Orchester mitspielenden vier Solisten bestens aufgehoben. Mit jedem Anhören gewinnt es an Tiefe und Bedeutung. „Gut Ding will Weile haben“, könnte einer von Dutilleux’s Wahlsprüchen gewesen zu sein. „Es ist kein Scherz, Musik zu schreiben. Tiefe ist  dazu nötig: eine Art Mystik“, beschrieb er seinen Arbeitsprozess.

Auch Paul Sacher, Anreger und Nestor der Neuen Musik, dem viele Meisterwerke der Moderne ihre Entstehung verdanken, gehörte zu Dutilleux’s „Auftraggebern“ Seine Komposition „Mystère de l’instant“ (Das Geheimnis des Augenblicks) von 1989 war eine der letzten, von Paul Sacher angeregten Kompositionen. Über die Einzelheiten dieses für  Streicher, Perkussion und Cimbalom geschriebenen Werkes gibt das Booklet informativ Auskunft, wenn auch nur auf Englisch. Das Werk verwendet Noten des Namens „Sacher“ und besteht aus 10 aufeinanderfolgenden kurzen, quasi improvisatorischen Stücken.

Die Anregung zur vierten Komposition auf dieser CD geht auf den Cellisten Mstislav Rostropovich zurück und natürlich auf das berühmte Bild von Vincent van Gogh „Die Sternennacht“ mit den bewegten Sternen und den Zypressen vor dem tiefblauen Firmament. Der erste und dritte Teil entstanden 1978, bevor Dutilleux 1991 ein Zwischenspiel einfügte.

Nébuleuse, Interlude und Constellations heißen die drei Sätze. Vom tiefsten bis zum höchsten Ton des Orchesters, durch alle möglichen melodischen, arabeskengleichen , rhythmischen und klanglichen Kombinationen, ist das Werk ein ganz eigenes Faszinosum in der Geschichte der Neuen Musik. Und lässt hörbar werden, wie weit sich Henri Dutilleux von allen „Strömungen“ – denen er stets aufgeschlossen gegenüber stand – frei machte und sich mit seiner ureigenen, unvergleichlichen Musiksprache in seiner Art und immer wieder  von Zweifeln und Umarbeitungen geprägten Weise als einer der spannendsten und wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts weiterentwickelte.

Der Aufnahme, teils konzertant, teils in Studio-Sessions entstanden, ist die Begeisterung der Musiker, des Dirigenten, aller Beteiligten deutlich anzuhören. Auch bei leisesten oder lautesten, volltönendsten  Klängen ist die instrumentale Perspektive jeder einzelnen Stimme klar und deutlich eingefangen. Obwohl es keineswegs „easy listening“ ist, wenn es um die Musik von Henri Dutilleux geht: der Gewinn, der von diesen „Klängen“ ausgeht, wirkt nachhaltig und ist eine grandiose Bereicherung des eigenen Hörens.

[Ulrich Hermann, November 2016]