Den musikalischen Abschluss des dreitätigen interdisziplinären Symposiums „Vergleichzeitigung. Resonanzen durch Musik“ vom 06. bis 08. Oktober 2016 im Münchner Freien Musikzentrum bildet ein Konzert des Trios Ars et Labor aus Perugia mit Christa Bützberger am Klavier, Sara Gianfriddo an der Violine und Hélioïse Piolat als Cellistin. Auf dem Programm steht das große letzte Klaviertrio Franz Schuberts, Es-Dur D. 929, sowie zuvor die Duo-Sonate op. 35 für Violine und Klavier von Heinz Tiessen.
Welch ein musikalischer Höhepunkt ist dieses Konzert nach dem Symposium über Vergleichzeitigung, an welches es so nahtlos anschließt. Nicht nur, dass die Pianistin des Trios Ars et Labor, Christa Bützberger, selbst am Vortag noch einen Vortrag über die Aktualisierung und Vergleichzeitigung in Schuberts Es-Dur-Klaviertrio D. 929 hielt, nein, auch wurde die lang theoretisch besprochene musikalische Phänomenologie hier in der Praxis erlebbar.
Das Symposium schloss die Phänomenologie von mehreren Seiten aus ein, am ersten Tag gab es interdisziplinäre Vorträge aus den Bereichen der Religionswissenschaft, der Psychologie und der Philosophie, vor allem wurden hierbei die transzendierenden Zustände des menschlichen Bewusstseins beim Hören von Musik thematisiert sowie der Vorgang im menschlichen Gehirn. Der zweite Tag widmete sich hauptsächlich der Musik, nach einer eröffnenden Performance von Gunter Pretzel auf der Bratsche folgte der phantastische Vortrag von Christa Bützberger, die einem das harmonische Geschehen in der Musik Schuberts (und auch allgemein) so greifbar nahe bringen und auch die Liebe zu dieser Musik vermitteln konnte. Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz weckte die Erinnerungen an die elementare Formlehre, gerade die kadenzierenden Schlüsse in ihrer Mannigfaltigkeit zeigte er anhand einer Sonate von Mozart. Christoph Schlüren sprach über „Korrelation und Transzendenz in der Musik“, stieß dabei gewagt etliche Thesen über die Entwicklung der abendländischen Musik wie die „Gewöhnungs-Theorie“ (Konsonanzen und Quinten-Zirkel seien bloße Konditionierung und nicht naturgegeben) um und konnte auf voller Linie überzeugen. Einen nie so erlebten Zugang zur Musik legte Juan José Chuquisengo dar, der peruanische Meister rekonstruierte Stück für Stück ein berühmtes Klavierwerk, angefangen bei der Rhythmik, welche er das Publikum in Takte und Schläge einteilen ließ (womit er auf absolute Überforderung stieß, welche Überraschung bei solch hoch gebildeten, musikalisch professionellen und teils prominenten Zuhörern!). Später folgten absichtlich verfälschte Tonhöhen, dann ein Harmoniegerüst und erst nach über einer halben Stunde kam das Publikum langsam erstaunt auf die simple wie überraschende Lösung: Es handelte sich um Clair de Lune von Chaude Debussy – das grundlegende Verständnis von Musik wurde hier innerhalb einer Stunde revolutioniert! Ein religionswissenschaftlicher Vortrag über Rituale rundete den Tag ab. Der dritte Tag brachte einen grandiosen medizinisch-psychologischen Vortrag von Prof. Ernst Pöppel über die Beeinflussung des musikalischen Zeitmaßes durch das Gehirn, eine Podiumsdiskussion mit dem nun 80 Jahre alt gewordenen Hans Zender, bei welchem sogar Zuschauer vor Empörung über das Unverständnis dieses eigentlich angesehenen Komponisten (dem am Vortag ein ganzes Konzert der Musica Viva gewidmet war) den Saal verließen, ein Gespräch zwischen Prof. Dr. h.c. Peter Michael Hamel und Christoph Schlüren sowie eine von Hamel geleitete kollektive Stimmimprovisation mit dem Publikum.
Das Konzert des Trios Ars et Labor am Abend des 08. Oktober beginnt mit der Duo-Sonate von Heinz Tiessen, dem wichtigsten Lehrer von Sergiu Celibidache („ich habe alles von Tiessen gelernt“) sowie von Eduard Erdmann, dem unangefochten größten deutschen Pianisten, von welchem Aufnahmen erhalten sind. Das 1925 entstandene dreisätzige Werk Tiessens ist ein absolutes Meisterstück des Expressionismus und geht in freier Tonalität an die Grenzen des Korrelierbaren (oder sogar darüber hinaus?). Dieses selten gespielte Werk höre ich heute das erste Mal und kann offen gestehen, es bei einmaligem Hören noch nicht vollständig durchdrungen zu haben – so komplex und vertrackt, in solch einem gewaltigen allumfassenden Bogen, dessen zentrifugale Kräfte an die Grenzen des Wahrnehmbaren reichen. Doch glaube ich, dennoch relativ viel von der Musik zu verstanden zu haben, und dies ist nicht mein Verdienst, sondern das der Musiker. Die verzweigten Melodien sind von fein gefühlter Phrasierung, die stark erweiterte Harmonik absolut nachvollziehbar. Plötzlich ziehen dichte Wolken auf und es donnert musikalisch, doch auch das heftigste Aufbegehren bleibt geschmeidig und ohne grobe Härte.
Im direkten Anschluss gibt es Schuberts letztes Klaviertrio Es-Dur D. 929, welchem er die Opuszahl 100 verliehen hat. Dieses Stück sollte Schuberts Durchbruch sein, wenngleich er diesen nicht mehr erlebte, einen Monat vor der finalen Drucklegung verstarb der Meister viel zu früh. Doch hatte er es selbst noch einige Male hören dürfen, die Kritik war begeistert, doch einige Freunde nannten den Finalsatz zu lang. So nahm Schubert zwei große Kürzungen in der Durchführung vor, über einhundert Takte fielen – scheinbar für alle Zeit – aus dem Text heraus und wurden nicht mitgedruckt. Erst in den 1970er-Jahren wurde in einer neuen Ausgabe das wiederentdeckte Manuskript berücksichtigt und die eigentliche Fassung wiederhergestellt, diese ist heute zu hören. Und die Welt hat was verpasst: Welche Magie steckt in den gestrichenen Passagen, welch unfassbare harmonische Genialität und welch ein finalkonvergenter Höhepunkt, der an einer Stelle die Themen aller Sätze zusammenlaufen und damit verblüffen lässt!
Das Trio verzaubert! Ich übertreibe nicht, zu sagen, dass dies mit Abstand der beste Schubert ist, den ich je gehört habe. Die Musiker fühlen alle Nuancierungen der harmonischen Spannung und setzen diese auf einmalige Weise um, dass es einem direkt den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Jedes Spannungsverhältnis ist von innen heraus gefühlt, die Übergänge geschmeidig fließend und zu keiner Zeit gibt es nur den geringsten Abfall an Energie. Und wenn nicht schon beim ersten Satz, so bleibt spätestens im Andante con moto die Zeit stehen – die während der Vorträge so viel besprochene Zeitlosigkeit ist hier am eigenen Leib zu erfahren. Sogar den weiträumigen vierten Satz spielen die Musiker in einem Zug ohne Ecken und Kanten in unwiderstehlich organischer Formung. Vom Klavier aus hält Christa Bützberger das Trio musikalisch zusammen und leitet mit größter Geschmeidigkeit. Ihr Spiel ist farbenreich in unzähligen dynamischen wie artikulatorischen Abstufungen, dabei von ungezwungener Leichtigkeit und mit einer atemberaubenden Zuneigung zur Musik, die in jedem Ton spürbar wird. Einen lockeren Ton hat Sara Gianfriddo an der Violine, sie schwingt sich spielerisch in die Höhen und besticht mit einem erhabenen und doch so nahen Ton voll von innerem Gefühl und unverfälschtem Ausdruck. Am Violoncello begeistert Hélioïse Piolat, selten ist eine so unprätentiöse Cellistin zu hören, sie stellt sich nicht mit übermäßigem Vibrato und überzogenen Dynamiken zur Schau, wie es so oft zu hören ist, sondern vertraut der Feingliedrigkeit und dem zentrierten Bewusstsein über die Musik, womit sie ausnahmslos überzeugt. Die Musiker beherrschen auch den Raum und vermögen, ihn komplett auszufüllen: Einmal will ich mich fast umdrehen, da ich mir sicher bin, das Klavier in seiner hohen Lage hinter mir gehört zu haben. So sind die drei Musikerinnen bei aller Synchronizität und ihrem unzertrennlich verbundenen Zusammenwirken doch auch noch Individuen, die ihren Teil zur Musik beitragen und wie von unterschiedlichen Ecken des Raums auf das Publikum eindringen.
Nach dem Konzert ist es lange still, so in den Bann genommen sind die Zuhörer noch, und auch nach dem tosenden Applaus bleibt das Publikum wie gefesselt – nur langsam wird gewahr, dass dieser unvergleichliche Abend bereits vorüber ist.
[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]