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Intimität und hochkarätige Konzerte: Festspiele in Bergen 2019

Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen.  Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.

Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs Klavierkonzert.

Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte – schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten. Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik, hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.

Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor.
Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!

Troldhaugen Villa (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.

Griegs Steinway & Sons aus dem Jahr 1892 (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.

In SIljustøl (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.

Das Komponierzimmer Harald Sæveruds (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs 80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von: Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev. 1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen, Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden, gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall, indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie; oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein, bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird; er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben steht.

Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er, während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt. Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen. Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren, dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt. Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich, teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben, den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden Musikern, die so präzise hörten und interagierten.

Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt wurden.

[Oliver Fraenzke, Mai-Juni 2019]

Norwegische Impressionen

Das Reisen in andere Länder ist immer auch eine kulturelle Bereicherung, wenn man sich nur darauf einlässt. So war es für mich ein großer Gewinn, eine Rundreise durch eines der für mich schönsten und vielfältigsten Länder zu starten und dort alles nur Mögliche an musikalischen Impressionen in mich aufzunehmen, was sich einem als einfachem Touristen so bietet – in diesem Fall in Norwegen.

Die Musikgeschichte in diesem Land unterscheidet sich grundlegend von der aller anderen Länder. Norwegen ist ein absoluter Sonderfall. Zentraler Grund dafür ist die lange Unterdrückung des heutigen eigenständigen Königreichs zuerst unter dänischer Herrschaft von 1380, als der dänische König Olav Håkonsson Norwegen erbte, bis 1814, und anschließend bis 1905 in Personalunion mit Schweden. Dies hatte zur Folge, dass sich keine höfische Kunstmusik entwickeln konnte, dafür aber die Volksmusik sich wie an kaum einem anderen Ort ausprägen konnte. Natürlich gab es auch Kunstmusik vor der Besatzungszeit; die norwegische Musikgeschichte beginnt nachweisbar ca. 1500 vor Christus, wie Funde von Bronzehörnern zeigen, und auch Lieder aus der Wikingerzeit sind uns heute bekannt, doch herrschte ebenso hier in jüngerer Zeit ausländischer Einfluss vor: 1030 wurde Norwegen christianisiert und der gregorianische Choral eingeführt, der jedoch sehr bald ein nordisches Sonderleben zu führen begann, was im Choralsatz in parallel geführten Terzen ersichtlich ist statt wie auf dem Kontinent in Quint- und Quartparallelen. Während der Personalunion mit Dänemark war der Musikerberuf hauptsächlich ausländischen Stadtmusikanten vorbehalten, die selbstverständlicherweise ihre Musik importierten. So verwundert auch nicht, dass Norwegens frühestes Stück eines namentlich bekannten Komponisten, des Caspar Ecchienus (ca. 1550 – ca. 1600), im niederländisch-polyphonen Stil verfasst ist. Die Volksmusik beschritt einen gänzlich anderen Weg; seit dem Mittelalter finden sich aus sämtlichen Epochen Stoff und Gattungen, von Kæmpeviser – Kampfweisen (heroischen Balladen) – bis zu religiösen Liedern, von Hirtengesängen bis zu ersten dichterischen Formen in etwas späterer Zeit, findet sich alles in den Wurzeln der Volksmusik. Ausländischer kontinentaler Volksliedtanz wurde recht bald verdrängt von noch heute existierenden Tänzen, unter denen die wohl berühmtesten Springar  oder Springdans genannt, Halling und Gangar sind. Besonders für den Solotanz der Männer, den Halling, gibt es heute etliche Wettbewerbe und sogar nordische Meisterschaften, in denen die Tänzer ihre akrobatischen Künste inklusive den so genannten Hallingkast, das Herunterschlagen eines Huts von einer hochgehaltenen Holzstange mit dem Fuß, unter Beweis stellen müssen. Begleitet werden sie dabei von dem urtypischen Instrument Hardingfele (Hardangerfiedel) – einer geigenartigen Fiedel, die neben den vier zu spielenden Saiten auch Resonanzsaiten besitzt, die ihr einen kernigen und bordunhaften Ton verleihen. Ein weiteres typisch norwegisches Instrument ist die Langeleik, übersetzt in etwa Langes Spiel, eine Brettzither mit einer Melodieseite mit Bünden auf dem Griffbrett, sowie mehreren Bordunsaiten, die nur leer angespielt werden können.

1Troldhaugen, Wohnstätte von Edvard Grieg, dahinter rechts der Konzertsaal

Und in diese unvergleichliche Musiktradition verschlägt es mich nun! Die Reise beginnt in Bergen, der zweitgrößten Stadt des Landes und zentralen Hochburg der norwegischen Kunstmusik. Als Geburtsstadt von Norwegens herausragenden Komponisten Edvard Grieg (1843-1907), Ole Bull (1810-1880), Harald Sæverud (1897-1992) und dessen Sohn Ketil Hvoslef (geb. 1939) ist Bergen singulär. Ole Bull war der Revolutionär der Transkription norwegischer Volksmusik – die bereits Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch Hinrich Meyer begann – und der „gute Engel“ Edvard Griegs: dem damals fünfzehnjährigen empfahl er als eine der größten musikalischen Autoritäten des Landes das Studium in Leipzig. Edvard Grieg ist seither international berühmt durch sein Klavierkonzert a-Moll, seine Suite aus Holbergs Zeit, seine Peer-Gynt-Suiten und einige seiner Lyrischen Stücke für Klavier, ist aber auch Autor hervorragender Kompositionen wie einer Klavier-Ballade und eines Streichquartetts (beide in g-Moll), von drei Violinsonaten, einer Cello- und einer Klaviersonate, und etlicher Bearbeitungen nordischer Weisen, die somit kunstmusikalisch geadelt im Konzertsaal ihren Platz finden. Bedauerlicherweise hat im letzten Jahrhundert Harald Sæverud noch nicht die Bekanntheit seines weltweit beliebten Vorgängers erreicht, doch hat auch er eine Peer-Gynt-Bühnenmusik geschaffen und gilt durch seine insgesamt neun höchst eigentümlichen Symphonien als größter Symphoniker Norwegens. Sæveruds Sohn Ketil Hvoslef schließlich beschritt ganz andere Wege und etablierte sich als Komponist einer großen Zahl vor allem von Solokonzerten und Kammermusikwerken im Grenzbereich von fast improvisatorisch wirkender, kontrollierter Spontaneität. Die Wohnhäuser der ersten drei genannten Komponisten sind heute als Museen zugänglich, doch leider erlaubte die Zeit nur einen Besuch in Troldhaugen, der Villa von Edvard Grieg. Unter Leitung seiner Witwe Nina wurde ein Teil des Mobiliars 1928 an die richtigen Plätze zurückgestellt und der Besucher kann einige fast unverfälscht wiederhergestellten Räume besichtigen und sich zurückversetzt fühlen in Griegs Lebzeiten. Der für den nur gut 1,50 Meter großen Edvard Grieg extra tiefgelegte Flügel, die dicken Bände mit Beethovensonaten, auf die er sich zum „Heraufreichen“ an die Tasten eines normalen Klaviers oft setzte, sowie seine Komponierhütte mit idealem Blick auf den Fjord bleiben hier besonders eindrücklich in Erinnerung. Auch die Grabstätte des Ehepaars unterhalb des Hauses ist einen Besuch wert, und hier scheint die Zeit stillgestanden zu haben. Neben dem Haus findet sich ein kleiner Konzertsaal, der zwar von außen mit seinen Betonmauern nicht gerade in die Idylle passt, aber von innen wahrlich eindrucksvoll erscheint und hinter dem Flügel durch eine Glasfassade den Blick auf das kleine rote Komponierhäuschen des Nationalromantikers freigibt. In dieser kleinen Halle werden immer wieder lange Abendkonzerte und halbstündige Lunsjkonserter (Mittagskonzerte) angeboten. Hier wurde auch ich erstmals mit norwegischer Pianistenpraxis vor Ort konfrontiert, Signe Bakke spielte Werke vom Meister. Als erstes Stück war der Kopfsatz seiner e-Moll-Sonate Op. 7 angekündigt, so kam die in Tracht fast ein bisschen an Nina Grieg erinnernde Pianistin auf die Bühne und spielte – den ersten Satz der Suite aus Holbergs Zeit Op. 40! Nun könnte man meinen, Signe Bakke habe einfach nicht genug Zeit gehabt, um die technisch delikate Sonate aufzupolieren, und genau diese Vermutung bestätigte sich auch anhand der oft verstolperten Perpetuum-Mobile-Sechzehntel im Prelude der Suite, die den gesamten Satz durchziehen. Glücklicherweise besserte sich die Ausführung in den folgenden Volksweisen aus Op. 17 und 52 sowie den Lyrischen Stücken aus Op. 43 und 71. Insgesamt war die Tendenz zu beobachten, dass das romantische Element bei Grieg viel zu sehr ins willkürliche Extrem gezogen wurde, zusammenhangslose Rubati und unbedachte sowie auch unsangliche Phrasierung war der Regelfall – ein Phänomen, dass mir mehrfach bei norwegischen Pianisten ins Auge stach! Doch plötzlich tat sich eine neue Welt auf, als Signe Bakke eine Stelle im Volksmusikcharakter authentisch wiedergab: Kurzzeitig machte sich der Eindruck breit, es spiele eine Hardingfele und kein Klavier mehr; so wurde jedes Volkslied und jeder Volkstanz zu einem einmaligen Erlebnis und der Springdans im berühmten Det var en gang (Es war einmal) avancierte zu einem hinreißenden Tanzcharakter von vollendeter Klangschönheit, wenn auch leider umgeben von einem überemotionalen und somit aufgesetzt wirkenden Andante-Rahmen, bei dem jede Auflösung, als sollte es absichtlich genau gegen die Natur sein, einen besonders starken Akzent erhielt. Nichts desto Trotz kann man hier lernen, wie die nordische Fiedelmusik auch auf dem Klavier einen stattlichen Charakter und Fülle entfalten kann.

2Das Instrumentenmuseum Ringve von außen

Trondheim hieß die nächste Station musikalischer Erfahrung, Heimatstadt von Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887), der jahrelang durch Norwegen reiste und Volksmelodien sammelte, welcher er fürs Klavier gesetzt in den Ældre og nyere norske Fjeldmelodier publizierte, die als wichtigste Volksmusikquelle auch für Edvard Grieg dienten. Etwas außerhalb der Stadt befindet sich das Ringve Museum, eine ehemalige Landvilla, die von den kinderlosen Besitzern, leidenschaftlichen Instrumentensammlern, als Erbe für die Gemeinschaft zum Musikinstrumentenmuseum umfunktioniert wurde. Hier steht alles auf Musik, schon bei der Ankunft wurden wir begrüßt von schwedischen Volksweisen auf der Geige, und auch zu Beginn der Führung im Herrenwohnsitz genossen wir zu Ehren der russischstämmigen früheren Besitzerin gespielten Rachmaninoff auf dem historischen Flügel. Im Museum selbst befindet sich ein kleiner Konzertsaal, in dem die Entwicklung des modernen Klaviers vom Clavichord bis zum Konzertflügel anhand jeweils zeitgenössischer Stücke wirkungsvoll demonstriert wurde. Auch eine Kostprobe von Hardingfele und Langeleik wurden gegeben, was immer wieder aufs Neue verzaubert. Hier gibt es die nordische Musikkultur noch zum Anfassen! Weiter geht die Führung in die faszinierende Sammlung unzähliger teils noch nie gesehener Instrumente. Der erste Raum ist bestückt mit paneuropäischen Instrumenten, einheimische Sammlerstücke stehen neben kontinentalen Raritäten, so zum Beispiel wunderschön erhaltene Klavierinstrumente und sogar ein Harfenklavier. Ein Zimmer weiter wird es interkontinental, afrikanische Rhythmusinstrumente und amerikanische elektronische Gerätschaften locken den Besucher an, sie einmal auszuprobieren: Highlight hierbei unbestritten das spielbereite Theremin, bei dem durch Annäherung an zwei Antennen Tonhöhe und Dynamik bestimmt werden können, allerdings entgegen der unmittelbar instinktiven Assoziation derart, dass die Lautstärke mit wachsender Entfernung zunimmt und das Gerät bei der Berührung verstummt. Eine kleine zweite Ausstellung widmet sich hauptsächlich der norwegischen Musik, hier sind besonders rare Sammlerstücke und auch Trachtenkleidung ausgestellt. Die Führer im Ringve, überwiegend ausgebildete oder in Ausbildung befindliche Musiker, sind sehr kompetent und gerade im direkten Gespräch sehr offen für Hintergrundinformationen zu einzelnen Ausstellungsstücken. Alle können sie ihr Instrument spielen und lassen aus einem normalen Museumsbesuch ein akustisches Erlebnis werden mit einer solchen Vielzahl an unerhörten Klängen, wie man sie sonst wohl nirgends so hautnah und live zu hören bekommen dürfte.

        3       4       Die Eismeerkathedrale und Tromsø nach Mitternacht

Nicht vergessen werden darf auch ein Konzert in der zum Wahrzeichen gewordenen Eismeerkathedrale in Tromsø. Touristen wird hier ein Mitternachtskonzert geboten. Mitternacht auf der anderen Seite des Polarkreises ist allerdings etwas vollkommen anderes als in Deutschland: Während es im Winter grundsätzlich dunkel ist, geht nun im Spätsommer die Sonne erst gegen Mitternacht unter, ein heller Schimmer am Horizont verschwindet die ganze Nacht lang jedoch nicht. Zwischen prachtvollen gläsernen Front- und Rückwänden bieten die Sopranistin Berit Norbakken Solset, der Cellist Georgy Ildeykin und der Pianist Robert Frantzen ein gemischtes Programm nordischer Musik, darunter teilweise Folklore, dar, wobei auch zentraleuropäische und sogar samisch-einheimische Elemente Einzug finden. Neben eher selten gehörten Werken des Grieg-Vorgängers Halfdan Kjerulf und des Zeitgenossen Johan Mahtte Skum stehen auch Klassiker wir Griegs Lied Jeg elsker dig (Ich liebe dich) und erneut Det var en gang auf dem Programm. Auch hier geraten gerade die volksnahen Stücke zu einem besonders stimmungsvollen Ereignis, Solset bezaubert durch glänzendes Einfühlungsvermögen in die bäuerliche Tradition und lässt ihre fast etwas chansonartig wirkende Stimme in der Höhe brillieren. Ihre Mitstreiter können sich angemessen einfügen und unterlegen die dominierende Stimme mit stets passender Begleitung. Robert Frantzen präsentiert auch ein eigenes Duo-Stück für seine kleine Tochter mit dem Cellisten, ein gelungenes Werk mit neoromantischem Gestus. Ein wenig enttäuschend sind auch hier wieder die bekannten Programmpunkte: Bachs Prélude aus der Suite für Violoncello Nr. 1 in G-Dur BWV 1007 gerät strukturlos, wobei routinemäßig stets auf der Takteins ritardiert wird, Jeg Elsker Dig erfährt auch standardisierte Verzögerungen und extreme mechanische Betonungen der Spitzentöne, und Det var en gang ist hier ein formloses Stück überschäumender und offensichtlich äußerlich prätendierter Emotion. Doch will man Unbekanntes entdecken, so sei dieses Konzert trotzdem nachdrücklich empfohlen, denn gerade erst bei den fast vergessenen Werken blühten die Musiker richtig auf, und derart werden Volksweisen, samische Joiks und Lieder vergessener Komponisten zu kleinen, brillanten Meisterwerken, die in ungewohnt guter Qualität und optisch atemberaubendem Umfeld noch mehr an Wirkung gewinnen.

5Die malerische Landschaft im Trollfjord

Schon sehr lange Zeit hat besonders die norwegische Musik mein Herz gewonnen; diese im positiven Sinne naive Haltung, die Naturverbundenheit, dieses Gefühl von Freiheit, aber auch von Melancholie und archaischen Uremotionen der Menschen, die diese Musik enthält wie sonst nichts mir Bekanntes, hat mich von Anfang an nicht unberührt lassen können. Dies alles zum Ausdruck zu bringen ist eine ungeahnt diffizile Aufgabe für jeden Musiker, und viele scheitern an der idiomatisch angemessenen Ausführung selbst der leichtesten Werke von Edvard Grieg und anderen nordischen Komponisten. Oft habe ich den Eindruck, als flösse zu viel Künstelei und Falschheit in diese so schlichte und natürliche Quelle unbelassener Energie ein, anstatt dass der Künstler sich öffnet für die subtile Unmittelbarkeit und grundlegende Natürlichkeit, die alles durchströmt. Vieles ist mir klar geworden alleine durch den Anblick der Fjordlandschaften: Welch ein unbeschreibliches Gefühl es ist, mit dem Schiff in den Trollfjord hineinzufahren und zu spüren, wie hoch sich um einen herum die Berge auftun, zu erfahren, wie märchenhaft und fast unwirklich diese Landschaften wirken und wie sehr man sich zuhause fühlen kann in dieser Fantasielandschaft, die eine mysteriöse Art von Geborgenheit vermittelt. Jeder Augenblick gibt etwas Neues, nie kann man ermüden: Einfach nur zu schauen und zu spüren, wie sich Landschaften verändern, unzählige Erhebungen und Inseln vorüberziehen oder plötzlich Tiere vorbeihuschen. Genau das ist das Gefühl, was auch in nordischer Musik in Töne gebannt ist und welches es heraufzubeschwören gilt – nicht mit Professionalität alleine ist dies zu machen, sondern nur mit einem offenen, neugierigen Geist.

[Oliver Fraenzke, September 2015]