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Kleines Beethoven-Vademecum (4): Beth Levin und Beethovens Tempo

Aldilà Records, ARCD 011; EAN: 9 003643 980112

Was ist ein richtiges Tempo? Eine erschöpfende Antwort auf diese Frage zu geben, über die im Laufe der Zeit eine gewiss nicht geringe Zahl Musiker und Hörer nachgedacht hat, soll im Folgenden nicht versucht werden. An dieser Stelle wollen wir uns darauf beschränken, die Sinne zu schärfen. Als Gegenstand der Betrachtung wähle ich eine einzelne Aufnahme, die mir besonders gut geeignet erscheint, ein Gespür für die Problematik des richtigen Tempos zu entwickeln: 2019 spielte Beth Levin in Baltimore Ludwig van Beethovens Große Sonate für das Hammerklavier B-Dur op. 106. Der Mitschnitt des Konzerts, in welchem die Pianistin neben Beethovens Werk auch Georg Friedrich Händels Suite d-Moll HWV 428 und Anders Eliassons Carosello (Nr. 3 der Stücke, die der schwedische Meister unter dem Gattungstitel „Disegno“ zusammenfasste) zu Gehör brachte, erschien rechtzeitig zum 250. Geburtstag Beethovens 2020 unter dem Titel Hammerklavier Live bei Aldilà Records.

Bekanntlich versah Beethoven den ersten Satz der Großen B-Dur-Sonate mit der Metronomisierung Halbe = 138, und ebenso bekanntlich haben nur wenige Pianisten den Versuch unternommen, den Satz in dieser Geschwindigkeit zu spielen. Arthur Schnabel, Walter Gieseking und Michael Korstick kamen dabei am nächsten an das von Beethoven notierte Tempo heran. Aber sie blieben Ausnahmen. Die meisten anderen wählten ein mäßigeres Zeitmaß. Der Aussage Hermann Kellers, dass „nach [Beethovens Metronomisierung] der erste Satz in einem so unsinnig schnellen Tempo zu spielen wäre, daß dieses Tempo nicht nur kaum ein Spieler erreichen kann, sondern daß dadurch auch der musikalische Inhalt des Satzes völlig zerstört werden würde“ (Hermann Keller: „Die Hammerklavier-Sonate“, Neue Zeitschrift für Musik 1958), hat die Mehrheit der Pianisten vielleicht nicht verbal, wohl aber in der musikalischen Praxis zugestimmt. Da sich das Problem der Realisierbarkeit der Metronomangaben Beethovens auch in anderen Fällen einstellt, wurde oft vermutet, er habe ein defektes Metronom besessen. Auch erscheint es möglich, er habe das Metronom schlicht falsch abgelesen (wie Almudena Martín Castro und Iñaki Úcar Marqués in einer Studie plausibel gemacht haben). Es verhalte sich mit dem Metronom wie es wolle; interessanter dürfte sein, dass Schnabel, Gieseking und Korstick das Ritardando, das Beethoven im achten Takt des Satzes vorschreibt, bereits im vorangehenden Takt vorbereiten, sie mithin also alle empfinden, die Verlangsamung solle nicht plötzlich erst da stattfinden, wo sie tatsächlich laut Notation verlangt wird. Darin bloß eine körperliche Entspannungsreaktion auf die im „korrekten“ Tempo vorgetragenen, vollgriffigen Anfangstakte zu sehen, wäre zu kurz gedacht, schließlich zeigt sich das gleiche Phänomen auch bei Pianisten, die deutlich langsamer spielen (etwa bei Daniel Barenboim, der den Satz in rund 12 ½ Minuten, einschließlich Expositionswiederholung, darbietet). Die Notwendigkeit einer allmählichen Verlangsamung stellt sich bei den Musikern gleichsam von selbst ein. Warum ist das so? Betrachten wir die Takte 7 und 8, so bemerken wir, dass die Musik hier auf eine Dominantharmonie zusteuert und auf dieser kurz inne hält (Fermate). Die Bewegung hin zu dieser Dominante zeichnet sich in Takt 7 bereits deutlich ab. Harmonisch bringt der Takt 8 zu Ende, was sich im Takt 7 (und den vorangehenden Takten) angedeutet hat. Die Pianisten empfinden diesen Zusammenhang und setzen ihn um in Form eines Ritardandos, das an Länge das vom Komponisten vorgeschriebene übertrifft.

Damit ist die Frage aufgeworfen, was sich eigentlich in Notenschrift festhalten lässt. Will Beethoven, dass im Takt 8 des Allegros von op. 106 ein Ritardando gemacht wird, oder will er, dass nur an dieser Stelle ein Ritardando gemacht wird? Spielen die Pianisten richtig, wenn sie bereits in Takt 7 leicht und dann in Takt 8 deutlich verlangsamen, oder spielen sie richtig, wenn Takt 7 im raschen Tempo des Anfangs gespielt und erst in Takt 8 verlangsamt wird? Und wie stark soll das Ritardando in Takt 8 sein? Dazu steht in den Noten nichts. Außer den Ritardandi und den ihnen folgenden A-Tempo-Vorschriften enthält der Satz keine weiteren Angaben zur Gestaltung der Zeitmaße. Damit scheint die Frage geklärt, welches Tempo als das Maßgebliche für den ganzen Satz anzusehen ist, nämlich offiziell Halbe = 138. Aber ist dieser Schluss zwingend?

Sehen wir uns ein Stück aus späterer Zeit an: Die Vierte Symphonie von Jean Sibelius, ein Werk, das einer Epoche entstammt, die zu Tempi und Vortrag stärker differenzierte Angaben anzubringen pflegte als dies zu Beethovens Zeit üblich war. Berühmt ist die Coda des Finalsatzes dieser Symphonie, in der ein Zerfallsprozess auskomponiert wird. Metronomangaben enthält die Partitur nicht, für den ganzen Finalsatz gilt (wie für Beethovens Sonatenkopfsatz) eine einzige Tempovorschrift: „Allegro“. Soll die Coda also gleich schnell gespielt werden wie der Satzanfang? „Nein“, sagt – Jean Sibelius! Nachträglich wiederholt um Metronomangaben gebeten, schrieb der Komponist zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Zahlen auf. Die Coda des Finales bezeichnete er mit einer vom Rest des Satzes abweichenden Metronomisierung. Wer nur die Partitur kennt, kann das nicht wissen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie viele Dirigenten um Sibelius‘ Metronomisierungen wussten. Es findet sich aber kaum einer, der am Ende der Vierten Symphonie das Tempo nicht wenigstens minimal verlangsamt.

Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch die unterschiedlichen Auffassungen der Dirigenten vom Schluss des Kopfsatzes der Achten Symphonie Anton Bruckners (zweite Fassung). Bruckner selbst beschrieb ihn als Sterbeszene: Es sei, als wenn einer einer im Sterben liege, und gegenüber hänge die Uhr, die, während sein Leben zu Ende gehe, immer gleichmäßig fortschlage. Es ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass eine Uhr kein Ritardando mache. In dieser unerbittlichen Gleichmäßigkeit bringen beispielsweise Hans Rosbaud und Jascha Horenstein den Satz zum Abschluss. Hat dann Wilhelm Furtwängler Unrecht, wenn er diese Takte als lang gezogene allmähliche Verlangsamung spielen lässt, oder Sergiu Celibidache, wenn er das Gleichmaß bis kurz vor Schluss durchhält und beim letzten Erklingen des Motivs ein Ritardando anbringt? Muss ein Dirigent, weil der Komponist selbst die Musik so beschrieb, sich verpflichtet fühlen, das Bild von der tickenden Uhr umzusetzen? Man sollte auch bedenken, dass Bruckners Worte aus einem Brief an den jungen Felix Weingartner stammen, den er um eine Aufführung des Werkes bat, und der damals noch ein leidenschaftlicher Anhänger der Programmmusik war. Ein echtes Programm hat Bruckner seiner Symphonie nie beigelegt.

Aber kehren wir zu Beethovens Sonate op. 106 zurück und widmen uns der Einspielung Beth Levins! Ihre Aufführung des Werkes kann man ohne zu untertreiben eine besondere nennen – ich möchte sagen: eine besonders mutige. Die Pianistin vermeidet nämlich metronomisch normierte Tempi und absolut festgelegte Geschwindigkeiten, was vor allem im Kopfsatz zu mitunter sehr starken Temposchwankungen führt. Beethovens Vorgabe „Allegro“ scheint sie aufzufassen als: „ein Stück im Allegro-Charakter“, offensichtlich bedeutet sie ihr nicht, dass ein einzelnes Tempo über den ganzen Satz hinweg durchgehalten werden muss. Würde Levins Aufnahme sich durch nichts anderes als ständige Tempowechsel aus der Masse der Einspielungen herausheben, so wäre sie nicht weiter interessant, ja man würde sie vielleicht als Dokument selbstherrlicher Interpretenwillkür wahrnehmen. Aber das ist sie gerade nicht! Levins Tempi sind keineswegs willkürlich gewählt, sondern lassen sich durchweg aus dem Verlauf der Musik heraus legitimieren. Wir haben oben anhand der Aufnahmen Schnabels, Giesekings und Korsticks feststellen können, dass auch Pianisten, die nach metronomischer Genauigkeit streben, ihr Tempo vorübergehend abwandeln, weil die harmonische Beschaffenheit der Musik ihnen dies als angemessen erscheinen lässt. Beth Levins Tempowahl speist sich aus keiner anderen Quelle. Sie orientiert sich an den tonalen Schwerpunkten der Musik. Die einzelnen Phrasen lässt sie sich auf ein temporäres harmonisches Ziel hin entfalten bzw. von einem Ausgangspunkt weg. Die Geschwindigkeit ergibt sich dabei aus der jeweiligen Situation heraus. So, wie sie unter Levins Händen zu hören sind, haben bestimmte Geschehnisse von der Pianistin eine Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos geradezu gefordert, um besonders deutlich in ihrer Eigenart wie in ihrer Funktion im Zusammenhang des Ganzen erfassbar zu werden. Sei es das Ansteuern eines harmonischen Zentrums oder das Wegstreben von ihm, eine Veränderung in der Beschaffenheit des Tonsatzes, die Darstellung der Wechselwirkung polyphoner Linien: Immer besteht für Beth Levin ein triftiger Grund, das Zeitmaß so zu gestalten, wie sie es tut.

Anhand der ersten Takte des Kopfsatzes soll nun verdeutlicht werden, wie Levin im einzelnen vorgeht. Die akkordisch gesetzten ersten vier Takte nimmt sie nicht sehr schnell, aber vergleichsweise rasch. Dem erstmaligen Durchschreiten harmonischer Zwischenstufen in den nächsten vier Takten widmet sie mehr Zeit, betont die Sequenz, achtet auf die gleichmäßige Viertelbewegung im Bass, und wird, wie ausdrücklich in der Partitur gefordert, noch einmal langsamer, wenn sich die Musik kurz auf der Dominante niederlässt. Wenn die Musik von Takt 5 in Takt 9 eine Oktave höher noch einmal ansetzt, geschieht dies wieder Tempo von Takt 5. Ab Takt 12, wo die eintaktigen Phrasen sich zu zweitaktigen weiten, spielt Levin etwas rascher. Das damit verbundene Crescendo lässt sie vorrangig in der absteigenden Basslinie stattfinden, dadurch deren Sonderstellung gegenüber den anderen Stimmen betonend. Das Periodenende wird mit einem kleinen Ritardando markiert. Die in Takt 17 mit dem Wiedereintritt der Tonika beginnende neue Periode bewegt sich anders als die vorigen. In der rechten Hand wechselt je ein Takt in Halben mit einem in Vierteln (mit verschiedener Begleitung in der linken Hand). Levin hebt dies hervor, indem sie die Takte in Halben geringfügig langsamer nimmt als die Takte in Vierteln; somit ergibt sich von selbst eine Beschleunigung, wenn sich in Takt 25 die Viertel-Bewegung durchsetzt. Ist diese Steigerung in Takt 27 auf ihrem melodischen Höhepunkt angelangt, so beschleunigt Levin noch etwas, wenn die Musik nun in die Tiefe stürzt um ab Takt 31, wenn sie, auf der Domiante angelangt, ohne Harmoniewechsel wieder in die Höhe steigt und dabei leiser wird, deutlich langsamer zu werden. Man könnte, so weitermachend, jede Seite der Partitur mit der Aufnahme abgleichen und fände die Tempowahl der Pianistin stets in der musikalischen Struktur begründet. Das feine Herausarbeiten der Einzelheiten, oft in Verbindung mit verbreitertem Tempo, und der dabei durchweg gewahrte Überblick Beth Levins über den Fortgang der Handlung lassen die ungeheuren Spannkräfte der Musik erst recht hervortreten. Zu jedem Augenblick möchte man sagen: „Verweile doch, Du bist so schön!“, und doch herrscht faustischer Vorwärtsdrang. Selten hört man das Ringen zwischen Rubato und Momentum in einer solchen Deutlichkeit wie hier!

Über die Proportionen des Werkes in Levins Aufnahme mögen hier noch die Spieldauern der einzelnen Sätze Auskunft geben:

Allegro: 12:04 (ohne Expositionswiederholung)

Scherzo: 03:11

Adagio: 17:10

Finale: 14:11

Beth Levins Album Hammerklavier Live ist übrigens nicht nur wegen Beethovens op. 106 empfehlenswert. Auch die Werke der anderen beiden Großmeister laden, abgesehen davon, dass sie größtes Hörvergnügen bereiten, dazu ein, über die Wiedergabe von Musik nachzudenken. Wie geht man damit um, dass Händel seine Klavierwerke nur äußerst spärlich mit Vortragsbezeichnungen versehen hat? – Eliassons Carosello aus dem Jahr 2005 wird weitgehend von einer Drei-Achtel-Bewegung getragen. Die Harmonik prägt klare tonale Zentrierungen aus, ohne dass je sich eine Tonika eindeutig durchsetzt. Beth Levin gibt der Darstellung dieser harmonischen Schwebezustände den Vorzug vor einer konsequenten Umsetzung mechanischer Karussellrotation. Man hört sozusagen ein imaginäres, unwirkliches, erträumtes Karussell, dessen Reiz gerade darin besteht, dass es sich gar nicht gleichmäßig drehen will. Übersteigt hier nicht die Kunst den Trott der profanen Welt? Und gilt nicht letztlich für Levins Beethoven-Darbietung das Gleiche?

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (3): Hans Rosbauds Vermächtnis

SWR Classic, SWR19089CD; EAN: 7 47313 90898

In dieser Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums werden die bei SWR Classic gesammelt herausgebrachten Beethoven-Aufnahmen eines besonderen Dirigenten vorgestellt: Hans Rosbaud.

Den Symphonien Ludwig van Beethovens dürften sich so viele Dirigenten gewidmet haben wie keiner anderen Gruppe von Orchesterwerken irgendeines Komponisten. Man hat also die Wahl zwischen Unmengen an Gesamteinspielungen und Einzelaufnahmen. Nicht selten liegen von einem Kapellmeister alle oder zumindest einige der Stücke mehrmals auf Tonträgern vor. Wie es bei so ungeheuer populären und entsprechend oft aufgeführten Werken kaum anders der Fall sein kann, geht mit der Vielzahl der Interpreten auch eine Vielfalt der Darbietungsweisen einher, die immense Qualitätsunterschiede einschließt. Wer hat nicht alles versucht, mit Beethoven seine musikalische Visitenkarte abzugeben? Als was ist Beethoven im Laufe der Zeit nicht alles präsentiert worden? Man hat ihn auf Hochglanz poliert, gegen den Strich gebürstet, in metronomisch exakten Gleichschritt gebracht und denselben durch Dauerrubato gezielt vermieden. Beethoven ist des Einen Romantiker und des Anderen Klassizist, für Manchen gar ein alles zertrümmernder Revolutionär. Die Symphonien gibt es „sachlich-nüchtern“ ebenso wie hyperemotional. Der eine Dirigent verspricht uns den „Beethoven fürs 21. Jahrhundert“, der andere will den Komponisten gar nicht aus dem 18. – oder was er dafür hält – herauslassen. Für Non-Vibrato-, Non-Legato- und Staccato-Freunde hat man die Symphonien schon aufgenommen, und auch der Heavy-Metal-Beethoven scheint auf dem Wege zu sein. Abseits der großen Konzerthallen und Plattenproduktionen, abseits der Quellen der Tagesmode, finden sich schließlich die regionalen Klangkörper, die auf ihr Wirken hinweisen möchten. Dass sie dazu gern Beethoven wählen, wer möchte es ihnen verargen? Mit den Werken des meistgespielten Symphonikers lässt sich nun einmal gut zeigen, was ein Kapellmeister in der Provinz mit seinem Orchester leisten kann. Angesichts der großen Zahl an Aufnahmen, die im Laufe der Zeit von Beethovens Symphonien gemacht worden sind, kann man sich durchaus fragen, welche Dirigenten den Kompositionen am ehesten gerecht geworden sind.

„Beethoven was a complete artist“, sagt Donald Francis Tovey zu Beginn seiner leider unvollendet gebliebenen Beethoven-Monographie. Ein vollständiger Künstler – damit ist viel mehr gemeint als nur die vollkommene Beherrschung des Handwerks und die Fähigkeit, es souverän im Dienste der Formung musikalischer Gedanken zu gebrauchen. Letztlich war Beethoven auch einer der vielseitigsten Schöpfer musikalischer Charaktere. Wie jedes seiner Sonatenwerke, von den kurzen, zweisätzigen Klaviersonaten bis hin zum cis-Moll-Streichquartett und zur Neunten Symphonie seine individuelle, nur ihm eigene Form besitzt, so haben sie alle auch ihr persönliches Profil, einen bestimmten Grundcharakter, dem sich aber auch weitere Charakterzüge beimischen können – in Form zum Kopfsatz kontrastierender Sätze, wie auch als Kontraste innerhalb der Sätze selbst. Kurzum: Beethovens liebt es, seine Werke als das zu gestalten, was man in der Wortdichtung „runde Charaktere“ nennen würde. Und wie unterschiedlich ist die Grundstimmung der Stücke! Nicht nur stehen beispielsweise das Violinkonzert, das Vierte Klavierkonzert und die Pastorale in mehr oder weniger direkter Nachbarschaft zur Fünften Symphonie und zur Appassionata. Auch Werke, die gewöhnlich aufgrund ihrer Tonart als zusammengehörige Gruppe betrachtet werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als recht verschieden. So redet man gern von Beethovens c-Moll-Stücken als seien die betreffenden Werke einander charakterlich besonders ähnlich. Aber ist es nicht eher erstaunlich, welch unterschiedliche Akzente Beethoven im ersten Satz der Fünften Symphonie und in der Coriolan-Ouvertüre setzt? Und im Streichquartett op. 18/4, und in der Klaviersonate op. 10/1? Oder nehmen wir uns die zahlreichen Werke in F-Dur vor, in welcher Tonart Beethoven ein Viertel seiner Streichquartette komponiert hat. Kinder vom selben Vater gewiss, aber wie hat doch jedes seinen eigenen Kopf!

Dieser Vielgestaltigkeit der Beethovenschen Erfindungsgabe haben große Musiker in ihren Wiedergaben seiner Werke stets Rechnung zu tragen gesucht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Aufführungen spiegeln die individuelle Herangehensweise der Interpreten wieder, doch lässt sich als gemeinsamer Nenner anführen, dass sie alle darauf aus gewesen sind, den Gedankenreichtum, von dem Beethovens Kompositionen zeugen, klingende Wirklichkeit werden zu lassen, den Komponisten als „vollständigen Künstler“ zu präsentieren. Ein Dirigent, der in diesem Sinne mit besonderem Geschick für die Orchesterwerke gewirkt hat, ist Hans Rosbaud (1895–1962), dessen zwischen 1953 und 1962 mit dem Südwestfunk-Orchester Baden-Baden aufgezeichnete Beethoven-Aufführungen von SWR Classic im Jahr 2020 auf sieben CDs veröffentlicht worden sind.

Man hat bereits zu seinen Lebzeiten versucht, Rosbaud Etiketten aufzukleben, ihn in Schubladen einzusortieren – in recht unterschiedliche Schubladen! Rosbaud selbst stellte fest, dass er in Donaueschingen als Modernist galt, in Aix-en-Provence als Mozartianer, in München als Bruckner-Dirigent. Nun, die Leute hatten Recht – wie auch diejenigen Recht hatten, die Rosbaud besonders mit Mahler assoziierten, und auch die, für die er aufgrund seiner von der Deutschen Grammophon produzierten LP mit Orchesterstücken Sibelius‘ ein bedeutender Sachwalter dieses Komponisten war. Ja, Rosbaud war dies alles. Nur eines war er nicht, und wollte es auch nie sein: ein einseitiger Spezialist. Am dauerhaftesten hielt sich nach seinem Tode sein Ruf als Förderer der Avantgarde, was insofern berechtigt war, als dass kein anderer Dirigent sich nach dem Zweiten Weltkrieg so energisch dafür einsetzte, die Werke Schönbergs und seiner Schüler dem Musikleben Deutschlands zurückzugewinnen und kein anderer auf den Donaueschinger Musiktagen so viele Uraufführungen junger Avantgardisten dirigierte, darunter Ligetis Atmosphères und Pendereckis Fluorescences. Auch die Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron (konzertant Hamburg 1954, szenisch Zürich 1957) gehört zu Rosbauds Verdiensten. Allerdings beschränkte sich sein Einsatz für neue Musik keineswegs auf zwölftönige, serielle und postserielle Stücke. So zählen zu den von Rosbaud uraufgeführten Werken ebenso Johann Nepomuk Davids Erste und Karl Amadeus Hartmanns Zweite Symphonie, die jeweils einzigen Symphonien des bayrischen Spätromantikers Heinrich Kaspar Schmid und des im Krieg getöteten Jarnach-Schülers Leo Justinus Kauffmann, sowie die Ouvertüre zu einem frohen Spiel von Joseph Haas. Beinahe wäre er auch Uraufführungsdirigent der Zweiten Symphonie Wilhelm Furtwänglers geworden, doch entschied sich der Komponist letztlich, das Werk selbst als erster herauszubringen.

In einer autobiographischen Skizze (kurz nach seinem Tode 1963 veröffentlicht in: Das musikalische Selbstportrait, hrsg. von Josef Müller Marein und Hannes Reinhardt) schrieb Rosbaud, er sei „im Laufe der Zeit dahinter gekommen, daß all diese verschiedenen Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, sich in Wirklichkeit zu einem Großen und Ganzen ergänzen“. Damit meinte er nicht nur die alte und die neue Musik und ihre verschiedenen Stilrichtungen, sondern auch außermusikalische Wissensgebiete, wie Sprachen (er las Altgriechisch und Latein und sprach fünf lebende Sprachen fließend) und „naturwissenschaftliche Dinge“, wie Kernphysik, die den „leidenschaftlichen Mathematiker“ (wie ihn Müller-Merein nennt) „unendlich fessel[te]n“. Es machte ihn glücklich, sich „immer wieder neue und möglichst schwere Aufgaben“ zu stellen, „die ich lösen will“. Zu diesem Bild eines vielseitig interessierten Menschen passt, dass Rosbaud sich als ausübender Musiker nicht nur auf das Dirigieren beschränkte. So trat er immer wieder auch als Pianist in Erscheinung und hat diesen Teil seines Wirkens durch mehrere Aufnahmen dokumentiert, beispielsweise als Liedbegleiter von Boris Christoff oder Elisabeth Schwarzkopf. Mit Maria Bergmann und den Schlagzeugern Werner Grabinger und Erich Seiler nahm er Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug auf. Zu Beginn seiner Laufbahn komponierte er auch häufiger. Vielleicht würde es sich lohnen, einmal eines der Werke Rosbauds zur Aufführung zu bringen? Es ist jedenfalls denkbar, dass der Schüler Bernhard Sekles‘ auch auf diesem Gebiet Tüchtiges geleistet hat. Ein Klaviertrio von ihm wurde übrigens unter Mitwirkung seiner Mitschüler Paul und Rudolf Hindemith zur Uraufführung gebracht.

Rosbaud wuchs sozusagen nach guter alter Sitte in das Kapellmeisterhandwerk hinein, nämlich als ein Musiker, der beinahe alle Orchesterinstrumente spielen gelernt hatte. Sein Lehrer Sekles stellte ihm deshalb folgendes Zeugnis aus: „Er ist auf diese Weise in der Lage, den einzelnen Orchestermusikern Ratschläge zu geben, wie es heutzutage kaum einem Dirigenten möglich ist. Da sich zu all diesen Eigenschaften eine durchaus ideal gerichtete Gesinnung, eine seltene Begeisterungsfähigkeit und ein stählerner Wille gesellt, nicht zuletzt auch die Fähigkeit, diesen Willen in der bezwingendsten Form durchzusetzen, so ist Hans Rosbaud für jedes Musikinstitut ein unschätzbarer Gewinn.“

Bei jeder Aufgabe, die er sich stellte, ging Rosbaud mit untrüglicher Professionalität ans Werk. Um eine möglichst gelungene Aufführung zu garantieren, scheute er auch vor überdurchschnittlich vielen Proben nicht zurück. Zugleich war er in der Lage, eine ihm neue Partitur in kürzester Zeit zu erfassen. Beide Eigenschaften bewährten sich bei den Uraufführungen von Schönbergs Moses und Aron: Zur Vorbereitung der konzertanten Premiere standen ihm nur wenige Tage zur Verfügung, da er kurzfristig für den eigentlich vorgesehenen Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt eingesprungen war; für die szenische Premiere nahm er sich dann außerordentlich viel Zeit: Laut Kurt Honolka (Knaurs Weltgeschichte der Musik, 1979) modellierte Rosbaud das schwierige Werk in nicht weniger als 324 Einzelproben. „Ehe wir die Partitur nicht vollkommen servieren, werden wir sie nicht beurteilen können!“, hat er bei anderer Gelegenheit einmal geäußert. Dies kann als Maxime seines Arbeitens als ausführender Musiker gelten.

Rosbaud hatte in den 20er Jahren zu den Pionieren orchestralen Musizierens im Rundfunk gehört. In der Nachkriegszeit wurde das Südwestfunk-Orchester Baden-Baden zum Zentrum seines Wirkens, dessen Chefdirigent er von 1948 bis zu seinem Tode war. Ihm zu Ehren wurde das Baden-Badener Aufnahmestudio des Senders in „Hans-Rosbaud-Studio“ umbenannt. (Es ist geplant, diese wichtige Spielstätte deutscher Musikgeschichte 2024 abzureißen.) Einige seiner Aufnahmen mit dem Südwestfunk-Orchester sind seit längerer Zeit auf dem Markt verfügbar, doch erst vor wenigen Jahren wurde damit begonnen, Rosbauds Vermächtnis beim SWR systematisch zu veröffentlichen. Die von SWR-Classic herausgebrachte Reihe hat mittlerweile den stattlichen Umfang von zwölf Folgen erreicht, von denen die Hälfte sechs bis neun CDs stark sind. Man kann Rosbaud erleben mit: Haydn, Mozart, Beethoven, Weber und Mendelssohn, Chopin, Schumann, Wagner, Bruckner, Brahms, Tschaikowskij, Mahler sowie Sibelius. Weitere werden hoffentlich bald folgen. Die Beethoven- und Mahler-Editionen enthalten auch Aufnahmen mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, das von Rosbaud ebenfalls häufig dirigiert wurde.

Als Beethoven-Dirigent ist Rosbaud bei SWR Classic auf insgesamt sieben CDs dokumentiert. Die Edition umfasst die Symphonien Nr. 1–3 und Nr. 5–8 (die Achte findet sich in zwei Aufnahmen von 1956 und 1961), fünf Ouvertüren (Coriolan, Egmont, Fidelio, König Stephan, Leonore III), sowie an konzertanten Werken das Violinkonzert, das Fünfte Klavierkonzert und das Tripelkonzert (mit durchweg hervorragenden Solisten: Ginette Neveu, Robert Casadesus, und dem wie ein Instrument spielenden Trio di Trieste). Eine umfangreiche Werkliste – und doch ein Fragment. Die Vierte und die Neunte Symphonie vermisst man umso schmerzlicher, da Rosbaud (man möchte sagen: natürlich) alle Beethoven-Symphonien im Repertoire gehabt und diese mitunter auch zyklisch in Konzertreihen präsentiert hat. Auch anhand der weiteren Folgen der Edition wird deutlich, dass leider nur von einem Teil der Werke, die Rosbaud dirigiert hat, Aufnahmen auf uns gekommen sind. Von den oben genannten Symphonikern liegen nur im Falle von Brahms alle Symphonien vor (dafür Nr. 1 und Nr. 3 in zwei Aufnahmen). Bei Bruckner und Mahler bietet sich ein ähnliches Bild wie bei Beethoven: Von Mahler fehlen alle Symphonien mit Chor, von Bruckner die Nr. 1. Letzteres Werk möge kurz zum Anlass dienen darauf hinzuweisen, dass einst mehr Aufnahmen Rosbauds existiert haben müssen. So erwähnt Robert Simpson 1950 in der Zeitschrift Music Survey, dass Einspielungen der Ersten, Zweiten, Vierten, Sechsten und Achten Symphonie Bruckners durch die Münchner Philharmoniker unter Rosbauds Leitung vom Third Programme der BBC ausgestrahlt worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks. Was ist aus ihnen geworden? Wurden sie gelöscht, oder darf man hoffen, dass sie sich erhalten haben? Mindestens von einem Werk Beethovens, das in der SWR-Edition nicht enthalten ist, ist eine Aufführung Rosbauds aus früherer Zeit überliefert: 1940 hatte er mit dem Orchester des Deutschlandsenders die Ouvertüre Die Weihe des Hauses aufgenommen.

Aber schauen wir nicht zu lang auf die Lücken, sondern freuen wir uns an dem, was wir haben, denn dies ist letzten Endes eine beträchtliche Anzahl Aufnahmen, sämtlich dargeboten in überragender Qualität. Die ersten beiden Symphonien hat Rosbaud mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester eingespielt, die übrigen in der SWR-Box präsentierten Werke mit seinem Stammorchester vom Baden-Badener Südwestfunk. Hört man hinein, fällt zunächst die Gediegenheit des Orchesterspiels auf. Mit der ihm eigenen Sorgfalt hat Rosbaud in intensiver Probenarbeit die verschiedenen Klanggruppen aufeinander abgestimmt und an keiner Stelle des musikalischen Verlaufs das klingende Ergebnis dem Zufall überlassen. Überall spürt man die genau modellierende Hand eines Musikers, der das Orchester als ein großes, vielstimmiges Instrument begreift und die Möglichkeiten der Artikulation, die es ihm bietet, ausgiebig nutzt. Beethovens Kontrapunkt findet in ihm einen idealen Darsteller, denn Rosbaud ist im polyphonen Satz hörbar in seinem Element. Nicht nur die fugierten Abschnitte kommen wunderbar zur Geltung, auch im schlichter gestalteten Tonsatz behält der Dirigent Nebenstimmen stets im Blick, weiß, dass eine Begleitung eine wichtige zweite Ebene ist, die im Hintergrund deutlich präsent sein muss. Dadurch werden auch die Feinheiten der Instrumentation Beethovens erlebbar. Rosbaud erzeugt einen tiefen, vielschichtigen Orchesterklang, macht deutlich, wie abwechslungsreich Beethoven seine musikalischen Gedanken instrumental eingekleidet hat.

Man kann Rosbaud wohl einen analytischen Musiker nennen, doch trifft man damit nur eine Seite seines Wesens. Dass seine Durchleuchtung von Beethovenschen Instrumentation und Tonsatz so intensiv wirkt, verdankt sich dem Umstand, dass Rosbaud ein untrügliches Empfinden für melodische Entwicklung und damit für Tonalität und Formung besaß. Die erklingende Musik ist stets im Fluss, nimmt eine bestimmte Entwicklung. Nie verliert der Dirigent den Überblick über den Zusammenhang, in welchem die gerade gespielten Töne stehen, ob sie Spannung aufbauen, oder zu einer Entspannungsepisode gehören. Besondere Aufmerksamkeit wendet er Phrasenenden zu, jenen Stellen, die den Übergang von einer musikalischen Sinneinheit zur nächsten markieren. Weniger achtsamen Dirigenten geht gerade hier oft der rote Faden verloren. Rosbaud, der die Musik in großen Zusammenhängen erfasst, führt das Orchester sicher von einer Phrase zur nächsten, lässt die musikalische Handlung als Folge weitgeschwungener Perioden entstehen. Wie Rosbaud mit den Kräften Haus hält, lässt sich gut anhand des Kopfsatzes der Sinfonia eroica nachvollziehen. So entwickelt er zu Beginn nach den zwei Orchesterschlägen, in denen er die Bläser deutlich hervortreten lässt, die Musik in langem Crescendo auf das Sforzato des zehnten Taktes hin. Dieses lässt er nicht als grobe Betonung des ersten Taktschlags eintreten, sondern als nochmaliges kurzes Aufblühen, wodurch der Hauptakzent der Periode auf eine leichte Taktzeit hinübergezogen und die Metrik zusätzlich belebt wird. Danach herrscht spannungsvolles Piano in den deutlich pochenden Streichern. Die „Echoeffekte“ stehen nicht isoliert, sondern sind als Glieder einer langen Melodie wahrzunehmen. Nach Erreichen des Beinahe-Tutti in Takt 23 (fp) achtet Rosbaud darauf, dass die Akkordbrechungen der zweiten Violinen und Celli nicht zugedeckt werden. Die anschließenden, von Synkopen und Sforzati geprägten Takte erscheinen bei aller Schärfe der Artikulation als eine ausgedehnte, gleichmäßige Klangfläche, in welcher die Spannung festgehalten wird, damit sie beim eigentlichen Höhepunkt in Takt 37 umso wirkungsvoller entladen werden kann. Im letzten Takt dieses Tuttis lässt Rosbaud die Lautstärke ganz leicht abschwellen, um den folgenden leisen Abschnitt nicht zu stark abgehoben erscheinen zu lassen. Der Dirigent hat immer im Blick, was als nächstes folgt. Beeindruckend gelingt ihm die Vermittlung zwischen schroffsten Gegensätzen in der Mitte der Durchführung: Auf dem Höhepunkt des ersten Durchführungsteiles werden die schreienden Dissonanzen unerbittlich durch markiertes Spiel betont, und auch im anschließenden Diminuendo der Streicher wird das Marcato bis zum Phrasenende durchgehalten, wenn die Musik ins Piano übergeht, in welchem dann das e-Moll-Thema einsetzt. Der Neuheit dieses zuvor nicht erklungenen Gedankens Rechnung tragend, entlockt Rosbaud seinen Musikern hier ein so inniges Cantabile, wie man es im ganzen Satz noch nicht gehört hat.

Rosbaud lässt sich im allgemeinen Zeit. Er hat offensichtlich die von Beethoven nachträglich den Werken hinzugefügten Metronomzahlen nicht als verpflichtend empfunden, konnte denjenigen Dirigenten nachfolgender Generationen also kein Vorbild sein, die sich anschickten, diese Vorgaben „historisch informiert“ in die Praxis umzusetzen. Dass die einst herrschenden Zweifel an der Richtigkeit der Beethovenschen Metronomangaben in jüngerer Zeit erneut aufgekommen sind – die These Almudena Martín Castros und Iñaki Úcar Marqués‘, dass Beethoven Mälzels Metronom schlicht falsch abgelesen und deswegen durchweg zu rasche Tempi notiert hat, hat einiges für sich –, sollte zum Anlass genommen werden, von der Idee, es gäbe absolut richtige Tempi, die in jeder Aufführungssituation unbedingt zu beachten wären, Abstand zu nehmen, und die Tempowahl eines Dirigenten danach zu beurteilen, in wie fern damit der Dramaturgie des aufgeführten Werkes Rechnung getragen wird. Dass Rosbaud gemessene Tempi kein Selbstzweck sind, zeigt sich anhand der Einleitung zur Siebten Symphonie, die er, verglichen mit den Eröffnungen der Ersten und Zweiten, ziemlich zügig dirigiert, und im zweiten Satz dieses Werkes, der ein echtes Allegretto ist. Seine Zeitmaße erscheinen im Hinblick darauf gewählt, wichtige Details zur Geltung zu bringen und den Zusammenhalt aller Abschnitte des jeweiligen Satzes zu gewährleisten. Darum sind sie „richtig“. Das relativ breite Grundtempo des Finales der Fünften Symphonie beispielsweise (10 Minuten ohne Wiederholung) bewährt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird es dem hymnischen Charakter der Hauptthemen gerecht, zum andern ermöglicht es, die Geschwindigkeit in der Coda zum Presto zu beschleunigen, ohne dass es dabei übereilt zugeht. Die letzten Takte der Symphonie, in denen vielen Dirigenten im wahrsten Sinne des Wortes der Atem ausgeht, erfüllt Rosbaud bis zum Schluss mit Spannung. Überhaupt fasst er rasche, laute Werkschlüsse nie als Anhängsel auf, in denen sich die Musiker tumultuarisch gehen lassen dürfen. Immer weiß er seinen Orchestern gegen Ende noch ungeahnte Kräfte zu entlocken, die deutlich machen, dass er seine Aufführung gezielt auf diese Momente hin angelegt hat: Man höre etwa, wie prachtvoll sich die Schlüsse der Zweiten Symphonie, der Leonoren- und der Egmont-Ouvertüre entfalten, wie erhaben Beethoven hier klingt!

Rosbaud wird oft als ein „sachlicher“ Dirigent bezeichnet. Wenn man darunter einen bloßen Notenwiedergeber versteht, der sich nicht um das schert, was im Notentext nicht steht, so wäre das eine Fehleinschätzung. Berechtigt erscheint das Wort, wollen wir darunter einen Musiker verstehen, der der Sache, also dem Werk, auf den Grund geht, um dessen Eigenarten zur Geltung zu bringen, der – um Rosbauds eigene Worte zu benutzen – die Partitur „vollkommen serviert“. Was aber lässt sich unter einer solchen Vollkommenheit anderes denken, denn eine meisterhafte Komposition als einen „runden Charakter“ erfahrbar zu machen? An Rosbauds Beethoven-Einspielungen fasziniert letztlich vor allem, dass der Dirigent tatsächlich die Vielseitigkeit dieser Musik zu erfassen sucht und sie nicht durch einseitige Interpretation einebnet. Das zeigt sich namentlich an der immer wieder begegnenden Mischung „harter“ und „weicher“ Artikulation, die komplexe Szenarien schafft, etwa wenn im Allegretto der Siebten Symphonie der gleichförmige Grundrhythmus des Satzes hart und markant, die darüber erklingende Melodie aber ausgesprochen gesanglich gespielt wird, oder im Fugato des Trauermarsches der Eroica das Gegeneinander von Staccato und Legato deutlich hörbar ist. Im Trio der Achten Symphonie – nach einem in seiner Mischung aus Derbheit und Grazie wunderbar getroffenen Menuett – entlockt der oft als nüchtern verschrieene Dirigent den Hörnern und Klarinetten Töne wärmster Waldesromantik, zu kernigen Triolen der Celli. Wie hoch steht diese Kunst über dem handwerklich präzisen, aber geistlosen Töneaufsagen der Gielen und Boulez (die Rosbaud auch als Schönberg-Dirigent weit überragt) einerseits und dem oberstimmen-, meist violinbetonten, mit verschwommener Begleitung unterfütterten Weichspülstil eines Karajan anderseits!

Man kann SWR Classic gar nicht genug danken für die Veröffentlichung dieser Beethoven-Aufnahmen. Sie dokumentieren das von ebenso großer Sorgfalt wie Einfühlsamkeit geprägte Musizieren eines außerordentlichen Dirigenten, der im besten Sinne ein Sachwalter der von ihm aufgeführten Werke gewesen ist. „Beethoven was a complete artist“ – wer ihn als solchen kennen lernen möchte, dem seien die Rosbaud-Aufnahmen wärmstens ans Herz gelegt.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (1)

Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.

Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.

Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!

Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige

Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:

So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)

Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)

Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)

In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)

Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):

10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“

Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.

Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.

Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent

Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.

Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.

Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?

Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.

Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.

Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.

Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.

Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke

Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.

Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.

Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:

Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“

(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)

Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.

Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.

Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:

Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“

Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.

Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?

Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?

(Hier geht es zu Teil 2.)

[Nobert Florian Schuck, November 2021]

Geniestreich

Hans Rosbaud dirigiert Bruckner (8 CDs): Sinfonien Nr. 2–9 (Südwestfunk-Orchester Baden-Baden)

Katalog-Nr.: SWR19043CD / EAN: 747313904389

Als eine ganze neue Serie mit Aufnahmen von Hans Rosbaud bei SWRmusic angekündigt wurde, war ich überrascht. In meiner persönlichen Einschätzung war Rosbaud nun nicht eben ein Dirigent, dem ich, wenn ich Verantwortlicher eines CD-Labels wäre, eine Edition gewidmet hätte: Seine Verdienste um die (damals) Neue Musik sind unbestritten, und auch als Uraufführungsdirigent (u.a. für Strawinsky) hat Rosbaud sich seine Meriten wohl verdient. Es fällt mir jedoch auch jetzt noch schwer, ihn als bedeutenden Dirigenten einzustufen. Vergleicht man ihn etwa mit Michael Gielen, dem SWRmusic ebenfalls eine Edition gewidmet hat, ist kaum bestreitbar, dass Gielen (egal, was man von diesem Dirigenten halten mag, ich persönlich halte auch Gielen für keinen der „Großen“) im historischen Rückblick weitaus prägender gewesen ist als Rosbaud.

Zu meiner Überraschung angesichts des Beginns der Serie gesellte sich die Überraschung angesichts eines (fast) kompletten Bruckner-Zyklus, den Rosbaud anhand der Partitur-Ausgaben letzter Hand (die „Wiederentdeckungen der Urfassungen der Bruckner-Partituren war damals noch kein Thema) als damaliger Chef des SWF Sinfonie-Orchesters Baden-Baden für den Rundfunk unter Studiobedingungen eingespielt hatte.

Die grundlegende Überraschung war erst einmal, dass jemand wie Rosbaud überhaupt einen Bruckner-Zyklus hinterlassen hat. Die größere Überraschung aber war, dass er sich dann auch noch als einer der allerbesten Bruckner-Zyklen entpuppte, die ich bis dato zu Ohren bekommen habe.

In wirklich äußerst wohltuender Weise hat Rosbaud ab Mitte der 1950er-Jahre einen quasi idealen Kompromiss gefunden zwischen der feierlichen Würde, die diese Musik braucht (auch will) und dem gänzlichen Verzicht auf jeglichen überflüssigen pompösen Ballast. Auf geradezu geniale Weise spielt Rosbaud dabei auch die wirklich vorzügliche Mono-Tontechnik der damaligen SWF-Tonmeister in die Hände. Sie sorgt für einen (meistens) glänzend durchhörbaren Raum, der fast ganz ohne Hall auskommt, aber interessanterweise überhaupt nicht künstlich wirkt. Die Partitur scheint offen vor einem zu liegen, viele Einspielungen aus der Box klingen beinahe wie (sehr üppig besetzte) Kammermusik. Selbst bei ausgesprochenen „Boliden“ wie der Vierten oder der Achten wirkt das Orchester bis in die hinterste Stimme durchleuchtet.

Das war noch echte Tonmeisterkunst! Und was ist das für ein frappierender Kontrast zu den häufig verwaschenen, halligen Bruckner-Aufnahmen von heute und aus der jüngeren Vergangenheit! In der Tat hat man den Eindruck: Genau so, wie in diesen Mono-Aufnahmen aus den Jahren 1955 bis 1962 sollte Bruckner klingen – sowohl was das Dirigat angeht, als auch in Dingen der Tontechnik. Und das überrascht einen im Jahr 2017 dann doch.

Rosbaud ist mit diesem Zyklus ein wirklicher Geniestreich gelungen, der in seinem sonst gar nicht immer überzeugenden Nachlass als Dirigent, einzig dasteht. Der gesamte Zyklus wirkt wie aus einem Guss und braucht sich selbst hinter einschlägigen Bruckner-Referenzen nicht zu verstecken. Im Gegenteil: Ich denke, er wird bald selbst zu ebenjenen Referenzen gehören. Das größte Verdienst dieser fesselnden Mitschnitte ist es, dass sie so selbstverständlich klingen: Rosbaud hat es geschafft, dass man hier nichts, aber auch wirklich gar nichts infrage stellen möchte. Die komplizierte Konstruktion ist unhörbar, alles wirkt ganz organisch, die Tempi erscheinen optimal gewählt, nichts klingt aufgesetzt, nichts klingt bemüht, alles erscheint ganz leicht und flüssig.

Und so kann man nur konstatieren, dass diese Box eine wichtige, lohnende Veröffentlichung ist, deren einziges Manko darin besteht, dass sie eben (leider) kein kompletter Zyklus ist: Die erste Sinfonie fehlt. Nebenbei ist sie ein klingendes Plädoyer für das ganz erstaunliche klangliche Niveau, das die Mono-Rundfunktontechnik der 1950er-Jahre zu erzielen im Stande war.

[Grete Catus, Dezember 2017]