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Brahms in frischer, neuer Klangerfahrung

Hamburg, 31. Oktober 2021, Elbphilharmonie

Matinéekonzert, Érard-Festival

Werke von Johannes Brahms

Vier Klavierstücke op. 119

Sonate f-Moll op. 120/1 / Bearbeitung für Klarinette und Kammerorchester von Mathias Weber (Uraufführung)

Klavierquintett f-Moll op. 34 / Bearbeitung für Klavier und Streichorchester von Mathias Weber

Mathias Weber, Klavier und Dirigent

Sabine Grofmeier, Klarinette

Hamburger Camerata

Photo © Stefan Pieper

Die Matineekonzerte in der Elbphilharmonie haben sich als Publikums-Selbstläufer etabliert. Ein Glücksfall ist dies für die Hamburger Érard-Gesellschaft, die hier am 30. Oktober den Höhepunkt ihres diesjährigen Érard-Festivals begehen konnte. Das Konzert bot auch eine Uraufführung: Nämlich eine Neubearbeitung der f-Moll Klarinettensonate von Johannes Brahms op 120/1 von Mathias Weber. Sabine Grofmeier, eine hochmotivierte, in Hamburg lebende Klarinettistin war in ihrem Element.

Mathias Weber, Pianist und auch Komponist ist ein nachdenklicher Musikforscher, der in seinen beachtlichen Neubearbeitungen einschlägiger Meisterwerke der tiefen Wahrheit zwischen den Zeilen des Notentextes weiter auf den Grund geht. Aus einem solchen Erfindergeist ging diese „neue“ Orchesterbearbeitung von Johannes Brahms‘ Klarinettensonate f-Moll opus 120/1 hervor. Sie wirkt lichtdurchfluteter und anmutiger und irgendwie kammermusikalischer als Luciano Berios von deutlich mehr romantischem Orchesterpathos durchdrungene Adaption aus dem Jahr 1986.

Sabine Grofmeier hat zu dieser empfindsamen Sonate schon lange ein tiefes Verhältnis. In der „Elphi“ funktioniert eine perfekte Kombination aus Werk, Interpretin, Zeit und Ort. Zu einer überraschenden Streichereinleitung der Hamburger Camerata erhebt sich ihr höchst kantabler Klarinettenton, um dann den festlichen, zugleich tief empfindsamen Gestus mit großer Strahlkraft in allen Sätzen aufrecht zu erhalten. Wo bislang der Dialog mit dem Klavier stand, da bauen sich jetzt verblüffende Querverbindungen und Berührungen zu vielen Orchesterinstrumenten auf. Mathias Weber beschreibt später seinen eigenen schöpferischen Prozess: „Ich höre beim Klavierpart eines solchen Originals manchmal andere imaginäre Instrumente“. Das Miteinander zwischen spielerischer Bravour und starken Emotionen verdichtet sich noch weiter im Andante. Die Interpretin ist selber sichtlich überwältigt – von der Musik in diesem Moment an diesem Ort, von der Reaktion des Publikums, welches spürt, dass da jemand ehrlich auf der Bühne agiert. Das Menuett des dritten Satzes kommt fast wie ein Walzer daher. Molto vivace und in sonnig aufblühender Klangpracht gelangt die vertraute, zugleich völlig neue Komposition in ihre Zielgerade.

Photo © Stefan Pieper

Befreite Emotionen ließen tosenden Beifall folgen. Das befeuerte Sabine Grofmeiers Zugaben – und wie! Viele wollen Piazolla spielen. Aber kaum jemand beherrscht wie diese Solistin ein dermaßen organisches Crescendo in jedem einzelnen Ton und eine geschmeidige Phrasierung, die jedes Korsett von „richtiger Intention“ souverän überwindet. Musik im Konzertsaal „funktioniert“ vor allem dann, wenn eben nicht nur die Experten befriedigt sind, sondern vor allem das unvoreingenommene „Laufpublikum“ erreicht ist. Sabine Grofmeier erreichte dies an diesem Morgen durch das Zulassen und Zeigen von Empfindung. Zu Teilnehmenden wurde schließlich das Publikum in einer Mitmach-Aktion, in der sie im Brahmschen Wiegenlied „Guten Abend, Gute Nacht“ zum Mitsummen der Melodie einlud.

„Ich konnte hier alles machen, was geht“, freute sich Sabine Grofmeier. Eines hatte sie am meisten überrascht: Die spezielle Akustik in Hamburgs Elbphilharmonie, die oft als „trocken“ beschrieben wird, erwies sich als ausgesprochen freundlich gegenüber ihrem Spiel, da sie verblüffend viel Rückmeldung gibt.

Photo © Stefan Pieper

In vielen exklusiven Recitals macht die Érard-Gesellschaft den einmaligen Klangcharakter der historischen Érard-Flügel aus dem 19. Jahrhundert entdeckbar. In Johannes Brahms‘ Vier Klavierstücken op. 119 aus dem Spätwerk, bündelte sich zum Auftakt der Matinee diese Philosophie in jedem einzelnen Ton: Unter Mathias Webers Händen wirken diese scheinbar skizzenhaften Werke wie stark komprimierte Seelengemälde – eine Stimme, die sich haushoch über jeder Kategorie von spieltechnischer Bravour erhebt! Der Klaviersolist als Orchesterleiter im Zentrum eines sinfonischen Gefüges – diese Konstellation kam zum Finale dieses ausverkauften Konzertes in einer weiteren Bearbeitung von Mathias Weber zum Tragen:

So hat er das Brahmsche Klavierquintett f-Moll opus 34 zu einer ausdrucksmächtigen Kammersinfonie ausgeweitet. Große orchestrale Spektren, weite atmende Räume tun sich in den ausgedehnten Sätzen aus. Die hellwache Interaktion zwischen den Instrumenten – exemplarisch gewürdigt sei hier nur ein hinreißender Solocello-Part als Antwort auf das Klavierspiel, blieb dabei dem Geist des kammermusikalischen Originals in wunderbarer Weise treu.

So wie hier geht es im Idealfall zu, wenn in einer lebensfrohen Weltstadt idealistische Künstlerpersönlichkeiten an einem Strang ziehen – und dabei auf einen Komponisten zurückgreifen, der ebenfalls ein Kind dieser Stadt war und auch in der Gegenwart noch ganz viel zu sagen hat.

[Stefan Pieper, November 2021]

NB: Am 6. Dezember gibt es in der Laeiszhalle der Elbphilharmonie eine Soiree Érard, die ebenfalls von der Érard-Gesellschaft ausgerichtet wird.

Kraftvolle Töne eines Stillen im Lande

KKE Records, KKE 20001; EAN: 4270001 262509

Für KKE Records macht die Hamburger Camerata unter der Leitung von Gustav Frielinghaus mit zwei Orchesterwerken Kurt Albrechts bekannt: der Symphonie für Streichorchester und Pauken und der Partita für Kammerorchester nach einem Motiv von Heinrich Schütz. Als Violinist spielt Frielinghaus im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots eine Chaconne Albrechts.

Blättert man in Erich H. Müllers Deutschem Musiker-Lexikon von 1929, einer den damals lebenden Tonkünstlern gewidmeten Überblicksdarstellung, oder in der von Müller und seiner Ehefrau Hedwig von Asow als Kürschners Deutscher Musiker-Kalender 1954 herausgebrachten Neuauflage dieses Buches, so stößt man auf die Namen zahlreicher Komponisten, die weder zu Lebzeiten, noch danach sonderliche Berühmtheit erlangt haben, und deren Wirkungskreis weitgehend lokal geblieben ist. Manche von ihnen haben auf Nachfrage der Herausgeber ihr vollständiges Werkverzeichnis angegeben. Man liest von einer enormen Anzahl an Kompositionen, die diese „Stillen im Lande“ hinterlassen haben, Werke, die teilweise nie gedruckt, teilweise gar nicht aufgeführt worden sind. Zu Recht, zu Unrecht? Wer wagt es, den Stab über Musik zu brechen, die er nicht kennt?

Dass es sich sehr lohnen kann, entsprechende Nachlässe genauer anzusehen, belegt die vorliegende, bei KKE Records erschiene CD mit Musik Kurt Albrechts. Durch diese unter Leitung des Geigers und Orchesterleiters Gustav Frielinghaus zustande gekommene Einspielung lüftet sich nun ein wenig der Schleier über dem Schaffen eines Komponisten, der nicht einmal in den oben genannten Nachschlagewerken vertreten ist. Nach dem zu urteilen, was man über Albrechts Leben weiß, war er tatsächlich ein „Stiller“: „Selbstzeugnisse sind nur wenige überliefert. […] Das Erfinden von Musik war sein Weg, sich auszudrücken. Ins Rampenlicht hat es ihn dabei nie gedrängt“, heißt es im Begleittext. 1895 in Ricklingen bei Hannover geboren, wurde Albrecht frühzeitig von seinem Vater, einem Pastor, ans Orgelspiel herangeführt. Er lebte nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin und ging 1925 als Organist nach Dresden. 1928 nach Stuttgart übergesiedelt, wirkte er dort vor dem Siegeszug des Tonfilms als Kinokapellmeister und ließ sich im Rundfunk regelmäßig an Orgel, Cembalo oder Klavier hören. Im Zweiten Weltkrieg wurde Albrechts Wohnung durch einen Luftangriff zerstört, wobei ein anscheinend nicht geringer Teil seiner Kompositionen verbrannte. 1971 starb der Komponist in Rommelshausen nahe Stuttgart.

Wie viel Musik Kurt Albrecht insgesamt geschrieben hat, lässt sich aufgrund der Kriegsverluste nicht mehr genau bestimmen. Es scheint aber glücklicherweise noch viel erhalten zu sein. Aufnahmen zweier Streichquartette, Nr. 2 und Nr. 3, brachte der Sohn des Komponisten nach dessen Tod als private LP-Pressung heraus (Wer sie antiquarisch findet, der greife zu!). Im Beiheft der neuen CD liest man von „zahlreichen kirchenmusikalischen Stücken“, einer Symphonie in f-Moll, die Albrecht 1948 mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Stuttgart aufnahm, sowie „Werken für großes Orchester“ aus seinen letzten Lebensjahren. Wann die drei für KKE Records eingespielten Kompositionen entstanden sind, weiß man nicht. Die Chaconne für Violine und Klavier trägt die Opuszahl 33, während die Symphonie für Streichorchester und Pauken ebenso unnummeriert geblieben ist wie die Partita für Kammerorchester über ein Motiv von Heinrich Schütz.

Dass Albrechts Musik größere Beachtung verdient als sie – aus welchen Gründen auch immer – zu Lebzeiten ihres Schöpfers gefunden hat, zeigt sich vor allem anhand der Streichersymphonie, einem viersätzigen Werk von 40 Minuten Dauer. Bereits in den ersten Takten zeigt sich, dass Albrecht bevorzugt polyphon denkt und die Stimmen mit Vorliebe in scharfe Dissonanzreibungen hineinsteuert. Im Verlauf des 17-minütigen Kopfsatzes kommt es zu schroffen Wechseln zwischen eruptiven und zurückhaltenden Abschnitten. Genau in der Mitte erklingt, gewissermaßen als Ruhepunkt, ein archaisierender Kantionalsatz. Die leise Musik des Anfangs leitet über zu einem kurzen, flackernd vorüberhuschenden Scherzo. Bezaubernd introvertiert klingt der langsame dritte Satz, dessen chromatische Kontrapunktik sich immer wieder in altmeisterliche Kadenzen und sprechende Pausen auflöst. Als Finale dient eine energisch voranschreitende Passacaglia.

Albrechts Vorliebe für barocke Satztechnik zeigt sich noch deutlicher in der Partita für Kammerorchester. Den sechs kurzen Sätzen, die zusammen nur 13 Minuten dauern, liegt sämtlich ein Motiv aus Heinrich Schützens Lukas-Passion zugrunde, das Albrecht den typischen Charakteren barocker Suitensätze gemäß variiert und durchführt. Auf ein Präludium in der Art einer französischen Ouvertüre folgen Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte und Gigue. Stilistisch ist das Werk der Streichersymphonie nahe verwandt, doch zeigt sich Albrecht hier von seiner humorigen Seite.

Die zehnminütige Chaconne op. 33 für Violine und Klavier komponierte Albrecht „nach einem Motiv von Dr. K. Kremers“, einem befreundeten Chemiker, der ein begabter Amateurgeiger gewesen sein muss. Verglichen mit den beiden Orchesterkompositionen fällt die kaum alterierte d-Moll-Tonalität auf, was die Frage aufwirft, ob es sich bei der Chaconne um ein Frühwerk handelt. Vielleicht hat Albrecht, wie der gleichaltrige Hindemith, nur in jungen Jahren eine Opuszählung verwendet? Es wäre auch vorstellbar, dass der Komponist auf einen hausmusikalischen Rahmen Rücksicht genommen hat, oder dass er den Einfall Dr. Kremers‘ möglichst stilrein verarbeiten wollte. Jedenfalls handelt es sich auch bei dieser Chaconne um ein hörenswertes Stück. Ihr Thema ist ungewöhnlich lang, die Zahl der Variationen entsprechend klein. Am Ende klingt sie beruhigt in Dur aus.

Gustav Frielinghaus bewährt sich gleichermaßen als Geiger im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots, wie als Konzertmeister der ohne Dirigenten spielenden Hamburger Camerata. Angesichts der fehlenden Aufführungstradition der dargebotenen Werke ist es sehr erfreulich, dass sie hier in qualitativ durchweg hochstehenden Einspielungen erstmals auf Tonträger gebannt worden sind. Möge diese CD dazu ermutigen, dem Schaffen des Komponisten Kurt Albrecht weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken!

[Norbert Florian Schuck, März 2021]