Am Sonntag, 28. Januar 2024, dirigierte Sir Simon Rattle im Münchner Herkulessaal das Bayerische Landesjugendorchester. Bei dieser Gelegenheit wurde die Patenschaft zwischen dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dem BLJO, die bereits seit rund 20 Jahren besteht, offiziell besiegelt. Auf dem Programm standen Paul Hindemiths „Ragtime (wohltemperiert)“, Gustav Mahlers 1. Symphonie und Arnold Schönbergs Klavierkonzert op. 42 – gespielt vom gerade mal 14-jährigen georgischen Pianisten Tsotne Zedginidze, für dessen unglaubliche Leistung und Musikalität kein Superlativ zu hoch gegriffen scheint.
Sir Simon Rattle ist bekannt dafür, sich für Jugendarbeit besonders einzusetzen. So verwunderte es nicht, dass es ihm offenkundig große Freude bereitete, nach wenigen, umso intensiveren Proben mit den zwischen 13 und 20 Jahren jungen Musikern des Bayerischen Landesjugendorchesters ein derart hörens- und sehenswertes, höchst anspruchsvolles Programm im ausverkauften Herkulessaal zu präsentieren. Vor den musikalischen Darbietungen wurde die langjährige Patenschaft zwischen dem BLJO und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einer feierlichen Zeremonie nun offiziell als Teil der bundesweiten Initiative Tutti pro besiegelt. Einzelheiten darüber konnte man bereits der Tagespresse entnehmen.
Paul Hindemiths gerade mal 3½-minütiger Ragtime (wohltemperiert) gehört ohne Frage zu den Werken des gerne humorvollen Meisters, in denen er Musikgeschichte genüsslich aufs Korn nimmt – hier die c-Moll Fuge aus Bachs Wohltemperiertem Klavier, Teil I. Der aus dem Thema entwickelte Ragtime – oder vielmehr das, was man sich 1921 in Deutschland darunter vorstellte – wird so schnell zu einem brachialen Marsch. Durch die riesige Orchesterbesetzung kann das ganz schön penetrant wirken – vielleicht soll es das ja. Ob dies dann allein deshalb tatsächlich in die Kategorie „musikalischer Spaß“ gehört, sei mal dahingestellt. Immerhin könnte das Stück Helmut Lachenmann zu seinem Marche fatale inspiriert haben. Für das BLJO dient diese wenig differenzierte Randale so eher zum Aufwärmen. Egal – denn was danach kommt, erweist sich als eine echte Sensation.
Allein die Tatsache, dass ein gerade erst 14-Jähriger sich ausgerechnet das zwölftönige, allgemein als sperrig geltende Klavierkonzert Arnold Schönbergs von 1942 vornimmt, dürfte ohne Vorbild sein. Der georgische Pianist Tsotne Zedginidze, der ebenfalls schon seit seinem sechsten Lebensjahr komponiert, spielt zwar das Stück auch nicht auswendig – das tat selbst Alfred Brendel nie. Mit welch ungeheurem Verständnis der junge Mann dann nicht nur strukturell, sondern vor allem emotional die Tiefen dieses immer noch unterschätzten Klavierkonzerts durchdringt und seine Schönheiten zutage fördert, ist allerdings kaum angemessen zu beschreiben. Vergleicht man diese Aufführung mit der letzten Münchner Darbietung von Kirill Gerstein mit dem BRSO unter François-Xavier Roth – der Rezensent sah sich seinerzeit zu einem wahren Verriss genötigt –, zeigt Zedginidze genau all das, was bei Gerstein schmerzlich vermisst wurde: klangliche Sensibilität bis ins kleinste Detail des an Noten nicht gerade armen Klaviersatzes – das fängt schon beim großartig gestalteten Thema an. Vor allem aber eine derart vorausschauende, poetische Darstellung der dem Werk innewohnenden Teleologie, die man nach anfänglicher Unbeschwertheit mit per aspera ad astra beschreiben könnte.
Die graduelle Entwicklung vom desolaten Adagio-Abschnitt bis zum hoffnungsvollen, puren Optimismus ausstrahlenden Schluss des Giocoso habe ich noch nie emotional derart überzeugend gehört. Und Zedginidze traut sich selbst bei diesem Stück sogar, manche Stellen quasi gegen den Strich zu bürsten. Betrachtet man – nur als ein Beispiel – den Beginn der relativ kurzen, überhaupt nicht auf äußerliche Virtuosität angelegten Kadenz am Ende des Adagios: zweimal Akkordtremoli mit Fermaten, jeweils gefolgt von nervösen, gegenläufigen 32stel-Figuren, über die Schönberg „(presto)“ schreibt. Die klingen normalerweise so, als ob ein traumatisierter Irrer an den Wänden seiner Gummizelle kratzt. Zedginidze spielt die Tremoli überirdisch zart, ignoriert bei den nachfolgenden Figuren das Presto, interpretiert sie als Vorboten wiederaufkeimenden Lebensmuts – eine keineswegs abwegige, interessante Lesart.
Über den Pianisten wird gesagt, er verfüge über absurd gute Blattspielfähigkeiten. Das führt bei ihm jedoch keinesfalls zu oberflächlichem Darüberhinwegspielen, sondern – ganz im Gegenteil – zu noch genauerem Hinterfragen des Notentexts. Während des ganzen Konzerts werfen sich Pianist und Dirigent präzise die Bälle zu, hören genauestens aufeinander. Oft muss Rattle die Dynamik im Orchester ungewohnt stark zurücknehmen. An einigen Stellen fehlt dem recht knabenhaft wirkenden Ausnahmetalent schlicht noch die Kraft, sich mit dem Orchesterklang im Fortissimo-Bereich messen zu können – und so geraten die wenigen Spitzen, an denen es im Schönberg-Konzert wirklich mal unangenehm hart klingen soll, etwas blass. Gerade dort übertrieb Gerstein freilich grotesk; insgesamt tut dem Stück Zedginidzes Betonung dessen lyrischer Qualitäten sehr gut. Das Orchester begreift die Bedeutung von Schönbergs Reihentechnik, die immer mit thematischen „Gestalten“ verbunden ist, glasklar und es passieren allenfalls ein paar Kleinigkeiten: Das können Profis kaum besser. Nach dieser phänomenalen Aufführung kann man eigentlich nur noch Tränen der Begeisterung in den Augen haben. Bei der Zugabe – Debussys erstem Prelude aus Band I …Danseuses de Delphes – merkt man sofort an der souveränen Lösung des nicht-trivialen Pedalisierungsproblems, über welch ungeheures Potential Tsotne Zedginidze schon heute verfügt. Rattle ließ sich gar zu folgender Bemerkung hinreißen: „Wir sind privilegiert, mit Tsotne zur gleichen Zeit auf diesem Planeten zu sein. Es ist ein historischer Moment.“
Bei Teilen des Publikums stößt die Musik der Zweiten Wiener Schule jedoch nach wie vor auf Unverständnis. Da hat es Gustav Mahlers 1. Symphonie zweifellos leichter. Erstaunlich, wie ein Jugendorchester dieses spieltechnisch enorm schwere, dabei agogisch sich ständig von einem Extrem ins andere bewegende Stück bewältigt. Das über 100 Mitspieler starke Ensemble wird zusätzlich noch durch zehn Streicher des BRSO unterstützt. Vor allem ist es hier nötig, dem Dirigenten exakt zu folgen und absolut zu vertrauen. Simon Rattle ist bei Mahler in München offensichtlich momentan im Flow. Wie er diese Energie auf die jungen Musiker überträgt und klanglich nun ungemein differenziert zum Leben erweckt, macht schon beim Zuschauen Freude. Von den zahlreichen Soloeinsätzen – bis hin zum „Fernorchester“ – gelingt eigentlich alles. Rattle – auswendig dirigierend – zeigt dabei noch deutlich mehr an als bei seinen Profis: ein hartes Stück Arbeit. Dass die Gruppen ebenso gespannt wie ein Flitzebogen reagieren, zeigt sich u. a. an der berühmten Bratschenstelle, die gegen Schluss des Finales nochmal einen großen Wendepunkt einleitet. Nach dem triumphalen Ende der Symphonie sind alle – Beteiligte wie Zuhörer – zu Recht glücklich. Solch einen fantastischen Abend erlebt man selten.
Nach seinem offiziellen Einstand als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks mit Haydns Schöpfung hatten sich die Musiker unter Sir Simon Rattle für die zweite Konzertreihe (28., 29. & 30. September 2023) in der Isarphilharmonie Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6 a-Moll vorgenommen. Dazu gab es noch – als gemeinsames Auftragswerk vom BRSO, dem Orchestre de Paris und dem San Francisco Symphony Orchestra – das Orchesterstück »Latest« der inzwischen 97-jährigen französischen Komponistin Betsy Jolas. Der Rezensent besuchte die zweite Aufführung am Freitag, 29. 9. 2023.
Was für ein Statement: Gleich zu Beginn einer „normalen“ Abo-Reihe – und nicht etwa in der musica viva – die deutsche Erstaufführung eines 2021 entstandenen Auftragswerks einer Komponistin (!) zu bringen, macht deutlich, dass Sir Simon Rattle die Zeichen der Zeit erkannt hat und sie programmatisch umzusetzen gedenkt. Die Französin Betsy Jolas (*1926) wurde nach ersten Studien in den USA während der Flucht vor den Nazis dann – wieder in Paris – Schülerin u. a. von Darius Milhaud und Olivier Messiaen, später quasi dessen Nachfolgerin am Conservatoire. Längst hochdekoriert, bereits 1953 auch als junge Dirigentin, ist die Komponistin in Deutschland trotzdem allenfalls einem kleinen Kreis engagierter Pianisten bekannt gewesen, insbesondere wegen ihrer höchst individuellen Auseinandersetzung mit dem Serialismus – eindrucksvoll im Klavierwerk „B for Sonata“ (1973). Ihr knapp 14-minütiges Orchesterstück Latest zeigt erneut, dass Komponieren für die nach wie vor temperamentvolle Pariserin immer gleichzeitig eine Einbeziehung der Musikgeschichte zumindest des gesamten 20. Jahrhunderts bedeutet. Anfangs evozieren feine Schlagzeugeffekte zauberhafte, an Anton Webern gemahnende Melodiefragmente in den Streichern – klanglich zersplitterter Serialismus. Und obwohl strukturell erkennbar an Schönberg angeknüpft wird, erleben die Zuhörer ein atmosphärisch dichtes Spiel auch mit Räumlichkeit und wirklich faszinierende Instrumentationskunst, in der ein Geist der Freiheit anstatt formaler Strenge regiert. Den abschließenden Ausruf «Ô» aller Orchestermusiker nimmt das Publikum vergnüglich wohl als „Was? Schon zu Ende?“ wahr – mehr als nur freundlicher Beifall.
Mahlers Sechste Symphonie trägt nicht umsonst den Beinamen Tragische: Simon Rattle versteht es jedoch gleichermaßen, positive und hoffnungsvolle Elemente überzeugend ins rechte Licht zu rücken. Er dirigiert das Riesenwerk auswendig, ist all seinen Musikern stets völlig zugewandt. Bereits an der Tatsache, dass er dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ungewöhnlich deutlich vorausdirigiert, erkennt man, welch enormes Vertrauensverhältnis hier schon jetzt herrscht. Und Rattle zeigt bei diesem Werk einfach alles, geht emotional sichtbar mit. Wer dabei freilich totalen Exhibitionismus à la Leonard Bernstein erwartet, liegt völlig daneben. Der Dirigent betont die gerade bei der Sechsten vorhandene Kontinuität klassischer symphonischer Traditionen, die bei der Viersätzigkeit anfängt und bei Strukturelementen der einzelnen Sätze längst nicht aufhört. Rattle hatte kürzlich in einem Interview bemerkt, dass er gerne innerhalb einer Aufführungsreihe mal unterschiedliche Tempi ausprobiert und Spontaneität durchaus Raum geben mag.
Das spürt man bereits bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes, die keineswegs ein Abziehbild des ersten Durchgangs ist, stellenweise eine Spur ruhiger genommen wird. Der dominierende Marsch – insgesamt weicher als bei anderen Interpreten – wirkt streng, energisch, aber noch nicht wirklich bedrohlich. Nicht nur beim Seitenthema gelingt Rattle eine schlüssige Agogik, im Piano reichen minimale Gesten aus. Die traumwandlerische Naturepisode mit den fernen Kuhglocken mündet schließlich in einen berückenden Erlösungsmoment der Solo-Violine. In der architektonisch klar modellierten Durchführung integriert Rattle spezielle „mahlerische“ Klangfarben, ohne sie hervorzuheben; die Steigerung vor der Reprise bleibt eher unaufdringlich. Hingegen lassen die später vorhandenen, fast bitonalen Reibungen – das harmonische Verständnis aller Musiker ist herausragend – sofort aufhorchen, die Tragik wird dennoch lediglich angedeutet.
Das von Rattle an zweite Stelle gesetzte Andante – hierbei folgt er Mahlers eigenen Aufführungen, nicht dem Erstdruck – demonstriert selbstbewusste Schönheit, mehr vorstädtische Nachtszenerie denn Hinterweltler-Idylle. Schon das Englischhorn-Solo ist innig, ohne jede Trägheit; Rattles Tempi bleiben über den ganzen Satz äußerst flüssig. Das bewusste Vermeiden jeglicher Schwelgerei erweist sich dann im Verlauf doch als etwas glattpoliert, der Streicher-Zusammenbruch gerät so künstlich. Wenn Mahlers Melodielinien große Intervalle beinhalten, fehlt die typische Stimmung des fin de siècle, was manche Zuhörer verärgern dürfte, dem Rezensenten allerdings so ausdrücklich gefällt. Mit der rhythmischen Unerbittlichkeit des ersten Satzes kippt dann im Scherzo – Rattle schließt danach das gewaltige, gut halbstündige Finale zudem quasi attacca an – die Stimmung an der richtigen Stelle. Das Tempo ist wiederum flott, die Situation ernst von Beginn, und die zwischendurch aufblitzenden, zärtlicheren Momente können sich nicht mehr durchsetzen. Alles wird schließlich zu einer Fratze im Zerrspiegel, wobei völlig offenbleibt, wohin das führen soll.
Schon das Anfangsmotiv des Finales wirkt wie ein schneidender Schmerz aus einem nebulösen Albtraum heraus. Der in der Symphonie auffällig genutzte Wechsel zwischen Dur und Moll wird nun zum zentralen Element. Schon der erste Bläserchoral erklingt stumpf; es bleibt ungemütlich. Rattles Übersicht zeigt sich besonders in einem erstaunlich geschickten Tempoaufbau: Die selbst während dieses – nicht nur verbatim durch die beiden berühmten Holzhammerschläge demonstrierten – niederschmetternden Überlebenskampfs weiterhin vorhandenen „Positiv“-Abschnitte kommen herüber wie im Flow. Umso erschreckender dann die immer gewalttätigeren Abbrüche. Man muss sich klarmachen, dass der zweite Hammerschlag (von ursprünglich dreien) gerade mal ungefähr in der Satzmitte erscheint. Dahinter liegt also noch eine gewaltige Strecke, deren Aufbau zwingend zu gestalten eine echte Herausforderung ist. Trotz des mehrfachen, fast unerträglichen Aufbäumens schafft Rattle dazu mit seinem Orchester ein immer durchsichtiges Klangbild: Gegen die akustischen Unzulänglichkeiten der Isarphilharmonie helfen kleinere Retuschen wie die Verwendung von bis zu vier Beckenpaaren. Die Empathie, mit der hier musiziert wird, bleibt absolut mitreißend. Die trügerische Beruhigung vor dem Schluss führt zu einem letzten Fortissimo-Ausbruch – wie eine mitleidlose Exekution. Nach einer zu Recht hochgelobten Darbietung der Neunten vor knapp zwei Jahren demonstriert Simon Rattle ein weiteres Mal, dass Gustav Mahler mit dem BRSO momentan kaum zu übertreffen ist: nicht enden wollende Begeisterung mit standing ovations im Publikum.
Hatten wir uns in Teil 1 dieses Aufsatzes den drei großen Vorurteilen gegen den Komponisten Wilhelm Furtwängler und ihrer Widerlegung gewidmet, so befasst sich der zweite Teil (der heute zum 136. Geburtstag Furtwänglers erscheint) zunächst mit den Reaktionen der Musikkritik auf die 2021 bei cpo erschienene Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor und schließt mit einer Untersuchung der Vorgehensweise eines besonders hartnäckigen Gegners des Komponisten.
Presseschau: Fawzi Haimors Einspielung der Ersten Symphonie
Vor kurzem erschien bei cpo eine Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor. Sie bedeutet in der Diskographie insofern einen Markstein, als dass mit Haimor sich erstmals ein Dirigent des Werkes angenommen hat, der an ihm keine Grundlagenarbeit mehr geleistet hat, denn der Dirigent der Erstaufnahme, Alfred Walter, leitete auch die Uraufführung, George Alexander Albrecht, der die zweite Einspielung durchführte, war Herausgeber des Erstdrucks. Es ist also ein Schritt getan vergleichbar dem, als der Komponist 1954, kurz vor seinem Tod, mit Rolf Agop erstmals einem anderen Dirigenten seine Zweite Symphonie anvertraute – gewissermaßen ein Schritt in die Normalität. Die Kritiken fielen für das Werk nahezu durchweg anerkennend aus.
So meint Operalounge zum Finale der „überraschenden Ersten“: „Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.“
In Svens Opernparadies liest man, dass von diesem „überaus melodischen Werk“ eine Interpretation vorgelegt wurde, „die man unbedingt gehört haben sollte“. Außerdem sei es ein „Vorurteil“, wenn behauptet würde, Furtwänglers Werke seien „hoffnungslos veraltet“.
Auf der Angebotsseite von jpc haben die dort regelmäßig schreibenden Rezensenten „meiernberg“ und „JAW-Records“ dem Werk und der Einspielung die Höchstpunktzahl (5/5) gegeben.
Die Neckar-Chronik gibt dem Interview mit dem Dirigenten Fawzi Haimor den Titel: „Meistersinfonie aus dunkler Zeit“.
Dagegen wärmte der Kulturabdruck alte Kamellen auf: „Die 1. Symphonie, die zwischen 1938 und 1941 entstand und am äußersten Rand der Spätromantik einen monströsen Kampf gegen das Verschwinden derselben führt, ist ein besonders undankbares Objekt. Denn obwohl die vier Sätze mit klassischen Grundmustern und Nachklängen aus der Welt Anton Bruckners aufwarten, verliert sich der Hörer immer wieder in Furtwänglers labyrinthischen Tonfolgen. Nach 90 Minuten bleibt das Gefühl einer vielfachen Überspannung und die Frage, ob hier nicht ein Kosmos um einen leeren Kern kreist.“
In Crescendo bemerkte Christoph Schlüren: „Tatsächlich handelt es sich bei Fawzi Haimors Reutlinger Aufnahme für cpo um die aufnahmetechnisch bislang gelungenste Darbietung des knapp 90-minütigen Kolossalwerks, das in seiner Innenschau so gar nichts gründerzeitlich Macherhaftes bietet, sondern die von aller Effekthascherei völlig unabhängige Konzentration auf die pure organische Formentwicklung einfordert. Und wir warten weiter auf einen Dirigenten, der die gewaltigen Spannungsbögen adäquat zu verwirklichen versteht. Dann können wir auch dieses Werk, das noch immer erratisch erscheint, verstehen.“
Auf Classical CD Reviews hielt Gavin Dixon zwar an der Auffassung fest, Furtwänglers „major flaw“ sei „a tendency towards large-scale, expansive structures, which, although in traditional forms, are not supported by the scale or invention of his melodic writing“ – also dem von mir in Teil 1 beschriebenen Vorurteil Nr. 3 –, gesteht ihm jedoch als Komponisten „a distinctive voice“ zu und lobt immerhin das Scherzo ohne Einschränkung.
Ähnlich äußert sich Rob Maynard auf Musicweb International, der seinen Artikel mit folgendem Fazit beschließt: „We must hope that it foreshadows a full cycle of Furtwängler’s symphonic oeuvre that will bring his frequently flawed but nonetheless fascinating – and most certainly enjoyable – music to a wider audience.“
Ich selbst habe die Aufnahme auf Klassik-Heute rezensiert und dort auch meine vom Großteil der zitierten Rezensionen abweichende Ansicht dargelegt, warum ich Haimors Einspielung nicht für diejenige Aufnahme halte, die den bestmöglichen Eindruck von der Komposition vermittelt. Aber darum geht es hier nicht. Wichtig erscheint mir festzuhalten, dass unter den Kritiken der cpo-CD die positiven Stimmen weit überwiegen. Man kann anscheinend tatsächlich davon sprechen, dass die lange Zeit dominierende, von Vorurteilen geprägte Sicht auf den Komponisten Furtwängler nun einer unvoreingenommenen, von echtem Interesse geprägten Herangehensweise an seine Musik weicht.
Norman Lebrechts Attacke
Doch halt! Da meldet sich ein älterer Herr zu Wort, um energisch sein Veto einzulegen. Es ist der britische Kritiker und Buchautor Norman Lebrecht, der sich in der Vergangenheit regelmäßig zu Wilhelm Furtwängler geäußert hat. Er steht offenbar im Ruf, ein Furtwängler-Experte zu sein, denn sonst hätte ihn die Deutsche Grammophon 2019 kaum damit beauftragt, einen Einführungstext zu ihrer 34 CDs und eine DVD umfassenden Edition sämtlicher DG- und Decca-Aufnahmen Furtwänglers zu schreiben. Seine Kritik der Haimor-Aufnahme unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass sie in einem Kontext steht, den ihr Autor im Laufe vieler Jahre schuf. Lebrecht inszeniert sich als eine Art Enthüllungsjournalist der Musikwelt. Eine Konstante seiner Tätigkeit als Autor ist die Suche nach charakterlichen Schwächen namhafter Musiker. Liest man seine Texte, meint man mitunter, ihn geradezu aufjauchzen zu sehen vor Freude, wenn er meint, etwas gefunden zu haben, das ihm die Möglichkeit gibt, eine bekannte Figur des Musiklebens als fehlerhaften Menschen darstellen zu können. Der Energie, die Lebrecht in Suchaktionen dieser Art steckt, steht eine bemerkenswerte Unachtsamkeit in Sachen Fakten gegenüber. Wer sich kurz informieren möchte, wie dicht in seinen Veröffentlichungen Fehler auf Fehler folgt, der lese die in der englischen Wikipedia zitierten Ausschnitte aus Besprechungen des Buches The Maestro Myth (1991, deutsch: Der Mythos vom Maestro) durch John von Rhein (Chicago Tribune), Roger Dettmer (Baltimore Sun) und Martin Bernheimer (Los Angeles Times).
Lebrechts Texte sind als Informationsliteratur nicht zu gebrauchen. Ihr Erfolg gründet sich auf die Art und Weise, wie der Autor Fakten, oder was er dafür hält, präsentiert. Wer sich von seiner Diktion einlullen lässt und ausreichend unkritisch alles schluckt, was Lebrecht seinen Lesern vorsetzt, wird am Ende damit belohnt, dass er es ihm gleichtun und sich wonnig in Schadenfreude suhlen kann. Diese Schadenfreude erscheint als die eigentliche Motivation der Lebrechtschen Schriftstellerei.
Wilhelm Furtwängler gehört offensichtlich zu Lebrechts Lieblingszielscheiben. Was Lebrecht über Furtwängler schreibt, ist im Grunde nicht interessant. Aber es ist interessant zu sehen, wie er gegen Furtwängler vorgeht und wie er Furtwänglers Kompositionen in diesem Zusammenhang benutzt. Zunächst lässt sich feststellen, dass er Furtwängler keineswegs pauschal verdammt. Auch für Lebrecht ist Furtwängler ein großer Dirigent. Das muss er auch sein, denn Lebrecht gibt sich nicht mit kleinen Fischen zufrieden. Einem großen Mann Anrüchiges anzuhängen, das ist seine Freude. Außerdem gehört Lebrecht zu jenen Autoren, die nie ernsthaft gegen den Strom schwimmen. Er möchte ein großes Publikum bedienen und braucht demzufolge die gängigen Klischees seiner Zeit, an die er anknüpfen und die er in seinem Sinne zuspitzen kann. Also kann er sich in diesem Falle gar nichts anderes leisten als den Dirigenten Furtwängler einen großen Mann sein zu lassen. Er versucht deshalb, ihn auf anderen Gebieten zu demontieren: Sein Ziel ist es zu zeigen, dass der berühmte Dirigent als Komponist wie als Mensch versagt habe. Auch dazu bedient er sich gängiger Klischees. Erwartet man etwas anderes?
Im Jahre 1992 veröffentlichte Lebrecht bei Simon & Schuster, New York, einen Companion to 20th Century Music, der acht Jahre später unter dem hochtrabenden Titel Complete Companion to 20th Century Music in erweiterter Form neu aufgelegt wurde. Auf S. 127 der Erstfassung findet sich über Furtwänglers Werke der folgende Absatz, der wörtlich auch in die Neufassung übernommen wurde:
„He saw himself, like Mahler, as primarily a composer, yet his music is of little consequence. In three symphonies (1941–54), he seems repeatedly to linger and luxuriate in the sound he has created, though none of it bears the mark of an original mind. The works lack momentum, daring and, above all, anything personal to say – an unbelievable neutrality, given the times and the composer’s musical stature. The third in C-minor is classically formed and derivative of Bruckner. There is also a piano concerto that does a thematic tour around the great composers.“
Hier finden sich alle im ersten Teil des vorliegenden Textes ausführlich behandelten Vorurteile gegen Furtwängler gleichsam in der Nussschale zusammengefasst. Vor allem die Behauptung einer Bruckner-Abhängigkeit der Dritten Symphonie kann jeden, der mit dem Werk einigermaßen vertraut ist, nur belustigen. Kennt jemand eine Bruckner-Symphonie, die mit einem langsamen Satz beginnt, oder ein Scherzo enthält, in dem das Trio die Stelle einer Sonatendurchführung vertritt? Kann man sich auch nur ein Thema aus Furtwänglers Werk in eine Bruckner-Symphonie versetzt vorstellen? Welche Themen anderer Komponisten Lebrecht im Klavierkonzert gehört hat, verschweigt er. Würde er seine Funde öffentlich machen, hätte er zwei Möglichkeiten: Entweder müsste er zugeben, dass die Ähnlichkeiten zu gering sind um von einer „thematic tour“ zu sprechen (unter der er sich wahrscheinlich eine Art Potpourri vorstellt), oder dass Furtwängler die fremden Themen (welche auch immer es sein mögen) so stark verwandelt hat, dass sie zu seinen eigenen geworden sind. Außerdem fällt auf, dass Lebrecht sich in der Tonart der Dritten Symphonie irrt (cis-Moll muss es heißen, nicht c-Moll!). Furtwängler schien ihm wohl der Mühe nicht wert gewesen zu sein, den Fehler in der zweiten Auflage auszubessern. Dort steht er noch auf S. 136.
Seine zweite Angriffsfläche sieht Lebrecht in Furtwänglers Charakter im Allgemeinen und seinem Handeln während der NS-Zeit im Besonderen. Da greift er sehr hoch: „Moralisch lässt sich an Furtwängler nichts finden, das man bewundern könnte“, heißt es im Begleittext zur oben genannten Edition der Deutschen Grammophon. Was soll man davon halten angesichts dessen, dass Furtwänglers Einsatz für zahlreiche von den Nationalsozialisten Verfolgte eine durch Quellen hinreichend belegte Tatsache ist, und dass es darunter wenigstens zwei Fälle gegeben hat, in denen akut bedrohte Menschenleben durch eine direkte Intervention Furtwänglers gerettet worden sind (Carl Flesch und Heinrich Wollheim)? Aber nein, Lebrecht will in ihm nur einen „Günstling des Führers“ sehen, der „[n]ach einem Zwist mit Joseph Goebbels wegen einer Hindemith-Symphonie [gemeint ist Mathis der Maler] […] für kurze Zeit von seinem Amt bei den Berliner Philharmonikern suspendiert“, dann aber „von Hitler höchstselbst wieder eingesetzt“ worden sei. Wieder ein Lebrechtscher Fehler! Furtwängler ist als Chefdirigent der Philharmoniker 1934 aus eigenem Antrieb zurückgetreten und übernahm dieses Amt erst 1952 wieder. Es hat ihn niemand suspendiert, und erst recht hat ihn kein Hitler wieder eingesetzt.
Anscheinend immer bereit, in diese Kerbe zu hauen, frohlockte Lebrecht am 27. März 2019 auf seiner Seite Slipped Disc über ein angebliches „unknown pic[ture] of Furtwängler and the Füh[rer]“, das er mit folgenden Zeilen begrüßte: „After decades of censorship, whitewash and hagiolatry, documents continue to emerge of Wilhelm Furtwängler’s deeply compromised position with the leadership of the Third Reich. This latest discovery is from the Süddeutsche Zeitung archives. It shows Furtwängler conducting a factory concert in 1939 in front of a huge portrait of his Führer.“ Wer genau liest, wird feststellen, dass Lebrecht seine Leser mit der Überschrift in die Irre führt, denn, wie er ja selbst im Text schreibt, handelt es sich nicht um ein Bild, das Furtwängler mit Hitler zeigt, sondern lediglich um eine Aufnahme Furtwänglers vor einem überdimensionalen Hitler-Plakat (dem er übrigens mit nicht gerade begeistertem Blick den Rücken zukehrt). Das eigentlich Interessante an Lebrechts Beitrag ist allerdings, dass diese „latest discovery“ gar nicht neu ist. Das Bild, von dem er spricht, war der Öffentlichkeit spätestens bekannt, seit Fred K. Prieberg es 1986 in seinem Buch Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich publiziert hatte, auf dessen Schutzumschlag es außerdem zu sehen ist. 1986 bis 2019 macht 33 Jahre. Lebrecht hat sich also wieder einmal geirrt. Nicht „censorship, whitewash and hagiolatry“ haben dafür gesorgt, dass er die Photographie erst mit solch immenser Verspätung zur Kenntnis genommen hat, sondern schlicht seine Unwilligkeit, sich korrekt zu informieren. Bezeichnend erscheint auch der Umstand, dass er auf ein Bild, das vor Jahrzehnten in dem Buch eines Musikhistorikers abgedruckt wurde, durch die Süddeutsche Zeitung aufmerksam geworden ist. (Die Photographie gefiel Lebrecht übrigens so gut, dass er sie am 25. September 2019 zur Illustration eines weiteren Beitrags auf Slipped Disc verwendete, in welchem er „a series of videocasts, elaborating on the unofficial aspects of the great conductor“ ankündigte.)
Soviel zu Lebrechts früheren Eskapaden. Die Veröffentlichung von Fawzi Haimors Aufnahme der Ersten Symphonie durch cpo nahm er nun zum Anlass, seinem jahrzehntelangen Verächtlichkeitsfeldzug die Krone aufzusetzen.
Seine Kritik findet sich im englischen Original auf My Scena, ist aber auch bereits auf Französisch, Tschechisch und Spanisch erschienen. Auf seiner eigenen Seite kündigte Lebrecht noch weitere Übersetzungen an.
Was er da in die Welt hinausgeschickt hat, ist, um es vorneweg zu sagen, ein Gebräu aus offensichtlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Verleumdungen und schwachen Versuchen witzig zu sein. Aber sehen wir uns den Text Absatz für Absatz genauer an!
„In the spring of 1943, with millions being murdered across the continent of Europe, Germany’s wealthiest conductor summoned the Berlin Philharmonic Orchestra to rehearse a symphony he had written in B minor, his first. Furtwängler had been writing it, on and off, since 1908 and had lately added a fourth movement for which he had high hopes. These aspirations were dashed on first play-through. ‘Am very depressed,’ he told his wife. [/] Of all things to get depressed about at this darkest moment in modern history, a symphony seems relatively trivial, but such was the size of the maestro’s ego that it occluded most things around him, including the Nazi horrors which he chose to ignore. The symphony was supposed to be his ticket to posterity and he must have realised, during rehearsal, that it would not buy him a ride anywhere beyond the suburbs.“
→ Zunächst fällt wieder ein sachlicher Fehler auf: Die Erste Symphonie wurde weitgehend in den späten 30er und frühen 40er Jahren komponiert. Will man ihre Entstehungsgeschichte mit dem Largo-Satz beginnen lassen, der mit dem Kopfsatz der Ersten Symphonie das Anfangsthema (und nur dieses) gemeinsam hat, und von Furtwängler 1906 in seinem ersten Konzert uraufgeführt wurde, so muss man die Anfänge der Komposition ins Jahr 1905 verlegen, nicht 1908.
→ Lebrecht beginnt effektvoll mit dem Zweiten Weltkrieg. Furtwängler soll hier als moralisch fragwürdiger, egoistischer Mensch erscheinen, der es sich mitten im Krieg gut gehen lässt („Germany’s wealthiest conductor“) und sich nur um seine Kompositionen sorgt. Schwerer wiegt die Behauptung, Furtwängler hätte sich entschieden, die Nazi-Greuel zu ignorieren. Erneut muss man sich fragen: Wie kann man einem Manne, der sich persönlich für Verfolgte eingesetzt hat, der aus Protest gegen die Beeinflussung des Kulturlebens durch die Politik bereits 1934 alle öffentlichen Ämter niederlegte, der sich weigerte in von der Wehrmacht besetzten Ländern zu dirigieren, der sich dem Missbrauch seiner Person durch die NS-Propaganda so weitgehend entzog, wie es ihm möglich war, vorwerfen, er habe die Augen vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verschlossen? Man lese zu diesem Thema seriöse Bücher wie Klaus Langs Wilhelm Furtwängler und seine Entnazifizierung (Aachen: Shaker Media 2012) und Fred K. Priebergs Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich (Wiesbaden: F. A. Brockhaus 1986).
→ Lebrecht meint, Furtwänglers Niedergeschlagenheit nach der Probe wäre Wasser auf seine Mühlen. Nun hat Furtwängler tatsächlich nie wieder einen Takt aus der Ersten Symphonie dirigiert. Dies bedeutet aber nicht, er hätte das Werk als misslungen betrachtet und beiseite gelegt. Nein, er überarbeitete es ein weiteres Mal, sodass er 1946 Eugen Jochum schreiben konnte: „Von meinen Symphonien wird eine in diesem Jahr, die andere ein Jahr später herauskommen.“ (Klaus Lang: Wilhelm Furtwängler und die Tragik seines Komponierens, Aachen: Shaker Media 2013, S. 55) Dies hätte er (damals noch unter Auftrittsverbot) nicht geschrieben, wenn ihm die Erste zu dieser Zeit nicht aufführungsreif erschienen wäre. Während er die Zweite (die er 1948 uraufführte) als „fix und fertig“ ansah, war die Erste für ihn aber nur „fertig“ (ebenfalls an Jochum 1946, siehe Lang: Tragik, S. 49), und noch 1954 feilte er an einzelnen Stellen der Partitur. Dass er bis in sein Todesjahr um die endgültige Gestalt dieses Werkes rang, zeigt deutlich genug, wie wichtig ihm dieses Stück war. Ein Künstler macht sich nicht eine solche Arbeit mit einem Werk, das er für misslungen hält! Es kam lediglich durch den Tod des Komponisten zu keiner „Fassung letzter Hand“. Furtwängler hat die Erste Symphonie „’fertig‘, aber mit einigen Fragezeichen für die Nachwelt hinterlassen“, wie Sebastian Krahnert über den vergleichbaren Fall des Klavierquintetts schreibt.
„Furtwängler died in 1954 and, though his cult as a legendary conductor continued to grow, his first symphony did not get performed until 1991. Two recordings were issued soon after, neither of them convincing. I was hoping for more from the Württemberg Philharmonie of Reutlingen, conducted by Fawzi Hamor [sic], on a label that performs noble service to German music, great and small. It soon confirmed my long impresion [sic] that Furtwängler’s composing talent was too small to be measured on any musical scale.“
→ Natürlich lässt sich Lebrecht nicht entgehen, die lange Zeitspanne zwischen Furtwänglers Tod und der Uraufführung hervorzuheben. Der Grund für die verspätete Uraufführung (die Ersteinspielung geschah bereits 1989) lag, ähnlich wie im Falle des Klavierquintetts, in dem philologisch problematischen Zustand der Partitur begründet. Die Furtwängler-Pflege konzentrierte sich zunächst auf die Werke, zu denen ein Notentext letzter Hand vorlag.
→ Kann man Lebrecht angesichts seiner Sätze von 1992 tatsächlich glauben, wenn er schreibt: „I was hoping for more“, oder ist dies nur reine Rhetorik?
„If Bruckner married Mahler and hired Wagner and Brahms to tutor their backward child, the infant might have doodled something like Furtwängler’s B-minor symphony. This work is not so much composed as collaged. Trademarked themes of other composers are pasted onto a vast canvas of almost ninety minutes, each movement opening with a tune you know you’ve heard before. [/] The wholesale theft of classical treasures becomes so blatant that, six minutes into the Adagio, Furtwängler starts churning out chunks of Beethoven’s ninth symphony, as if we’d never know. Vanity aside, he repeats himself (or others) over and over again until you wonder how it was possible that so insightful and atmospheric a conductor could be so deaf and senseless to his own emanations. The fine musicians of Reutlingen do their level best to get us through; the fawning sleeve-notes are the most muddled I have read in years.“
→ Hier wird Lebrecht nicht nur gegen Furtwängler ehrenrührig, sondern auch gegen Eckhardt van den Hoogen, den Autor des Begleittextes. Als Übersetzung des Wortes „fawning“ wird mir von den konsultierten Nachschlagewerken nicht nur „liebedienernd“, sondern auch „kriecherisch“, „hündisch“, „schwanzwedelnd“ angeboten. Mit diesem Wort wird ein Autor bedacht, der sich sorgfältig mit Leben und Werk des von ihm dargestellten Komponisten vertraut gemacht hat und auf Grundlage dieses umfassenden Wissens in seinem Text ein möglichst getreues Charakterbild des Künstlers zu vermitteln strebt. Van den Hoogens Art, sich gleichsam in die Psyche der Komponisten, über die er schreibt, hineinzudenken, mag nicht Jedermanns Sache sein und birgt gewiss Risiken. Gerade aber, weil van den Hoogen diese Risiken auf sich nimmt, verdient er Respekt. Er ist ein Autor, der wagt, was sich viele andere nicht trauen. Und das Ergebnis gibt ihm meistens Recht. Der Furtwängler-Text macht darin keine Ausnahme.
→ Zum Schluss seines Artikels lässt Lebrecht die Katze aus dem Sack und zeigt uns, dass er offensichtlich rettungslos in Reminiszenzenjägerei befangen ist. Nach Anklängen an andere Werke Ausschau zu halten, mag ein hübscher Zeitvertreib sein und mitunter auch tatsächlich Interessantes zu Tage fördern, aber was ist davon zu halten, wenn diese Tätigkeit mit solch fanatischem Ernst betrieben wird, wie Lebrecht es hier tut? Lebrechts Worte sind ein Dokument uneingestandener Hilflosigkeit. Man hat einen routinierten Kritiker vor sich (oder besser: einen in Routine erstarrten Kritiker), welcher 1. offensichtlich weder willens noch fähig ist, sich mit dem Werk ernsthaft auseinanderzusetzen, und 2. die Vorurteile, die er gegenüber dem Komponisten hegt und selbstgefällig pflegt, auf Biegen und Brechen sich und anderen bestätigen will. Für Lebrecht ist Furtwängler also ein Dieb (bereits 1992 klingt dies in seiner Einschätzung des Klavierkonzerts an), und der Kritiker hält sich für besonders schlau, weil er meint, diesen „Dieb“ überführt zu haben. Wenn man weiß, dass Lebrecht ein leidenschaftlicher Verehrer Gustav Mahlers ist, und bedenkt, dass er bereits 1992 in seinem Handbuchartikel Furtwängler und Mahler einander gegenübergestellt hat, so möchte man glauben, er versuche hier die Vorwürfe, die man früher Mahler gemacht hat, auf einen anderen Komponisten (der zugleich, wie Mahler, ein großer Dirigent war) zu übertragen und damit gleichsam ein Negativbeispiel zu Mahler zu schaffen: Seht her – scheint er uns zwischen den Zeilen sagen zu wollen –, die Diebstähle, die man Mahler zu Unrecht vorwarf, Furtwängler hat sie begangen! Da stellt sich die Frage, was eigentlich so schlimm daran sein soll, wenn ein Komponist aus einem fremden Einfall einen eigenen macht. Dass bei Mahler die Anfangsthemen der Dritten und Sechsten Symphonie und das Rondo-Thema der Siebten auffallend an Melodien von Brahms, Bruckner und Wagner anklingen, ist doch keine Schande! Wenn Mahler hier den Reminiszenzenjägern Köder ausgelegt hat, so tat er das – Humorist, der er war –, um sie zu foppen. Bereits bei der Komposition dürfte er innerlich darüber gelacht haben, dass das „jeder Esel hören wird“, um es mit Brahms zu sagen. Außerdem hat er allen Themen etwas Neues, Eigenes hinzugefügt. In der Form, in der er sie präsentiert, sind sie nicht mehr die Themen anderer Komponisten.
Mahler ist kein Melodiendieb. Noch unsinniger wirkt der Versuch, Furtwängler dergleichen anzuhängen, denn dessen melodische Erfindung war so eigen, dass jedes Zitieren fremder Musik im Kontext seines Stiles wie ein Fremdkörper hätte wirken müssen. Dabei gibt es allerdings Reminiszenzen in Furtwänglers Werken. Ich erinnere an ein Thema im Kopfsatz der Ersten Symphonie, dessen Anfang im zweiten Satz der Dritten wieder auftaucht. Auch fängt das Symphonische Konzert mit beinahe dem gleichen Motiv an wie die Zweite Symphonie. Themen, die auf Tonleiterausschnitten basieren, oder solche mit sinusartigen Melodieverläufen gibt es in jedem Werk Furtwänglers, sodass schon dadurch Anklänge der Werke untereinander gewährleistet sind. Dies liegt schlicht daran, dass Furtwängler der Archetyp eines „Igels“ ist. So nennt Isaiah Berlin in seinem Buch Der Igel und der Fuchs, anknüpfend an das antike Sprichwort „Der Fuchs weiß verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große“ diejenigen Künstler und Denker, die von einer großen Idee besessen sind, auf welche sie alles beziehen. Auch Furtwängler hat sein Leben lang eigentlich immer das gleiche Ziel verfolgt. Die einzelnen Werke sind individuelle Lösungen einer stets gleich bleibenden Aufgabenstellung – wie bei Bruckner, der ja auch als „Igel“ in Reinform gelten kann (als spätere Vertreter dieses Typus lassen sich etwa Allan Pettersson, Robert Simpson, Peter Mennin nennen). Und so wie Bruckner mit gewisser Regelmäßigkeit sich selbst zitiert, vielleicht sogar unbeabsichtigt, so tut dies Furtwängler ebenfalls.
Ich gebe gern zu, dass mir die Anklänge an Beethovens Neunte, die Lebrecht im Adagio der Ersten Symphonie Furtwänglers zu hören meint, nie aufgefallen sind. Warum nicht? Weil dieses Adagio mich durch das, was es ist, so gefesselt hat, dass ich mich nicht darum kümmerte, ob Reminiszenzen an ein anderes Meisterwerk darin sind oder nicht. Gedanken darüber, was es zur individuellen Beschaffenheit dieses Satzes zu sagen geben könnte, kommen Lebrecht gar nicht. Meint er ernsthaft, dass es das Wesentliche an diesem Stück sei, dass Furtwängler hier „gestohlen“ habe? Lebrecht hat mit seinen Lesern etwas Bestimmtes vor: Sie sollen gedanklich gelenkt werden, und zwar nicht hin zu einem besseren Verständnis des Werkes, sondern sie sollen ebenso eine Mauer zwischen sich und dem Werk hochziehen, wie sie Lebrecht für seine Person errichtet hat. Wenn in der Kritik steht, jeder Satz der Symphonie beginne mit einem Thema, von dem man wisse, dass man es schon einmal gehört habe, so ist das eine Aufforderung an die Leser, sich, wenn sie denn dazu kommen das Stück zu hören, auf die Frage zu konzentrieren, wo man dieses oder jenes Thema bereits gehört haben könnte. Sie sollen davon abgelenkt werden, den musikalischen Ereignissen zu folgen, so wie Lebrecht ihnen nicht mehr folgen kann, da seine alten Vorurteile gegen Furtwängler ihm den Weg versperrt haben. Man erlebt in seinem Text, wie ein Kritiker, um seine einmal gefestigten Ansichten über einen Komponisten zu bestätigen, alle seine Kräfte zur Reminiszenzenjagd aufbietet, um wenigstens irgendetwas zu finden, das gegen den Komponisten verwendet werden kann. Dass Lebrecht dann keine Kraft mehr hat, sich auf das Werk selbst zu konzentrieren, ist die natürliche Folge.
Sowenig man Furtwängler einen derivativen Komponisten nennen kann, so sehr sind Lebrechts Ausführungen zu seinem Schaffen von Anfang bis Ende ein Derivat, zusammengeleimt aus dem Billigsten, was an Klischees und Vorurteilen über Furtwänglers Kompositionen im Laufe der Zeit von Unwissenden und Übelwollenden in Umlauf gebracht worden ist. Unter seinen Händen ist dieses Gedankengut geradezu eine Karikatur seiner selbst geworden. Man kann beinahe von einer unfreiwilligen Satire sprechen. Kann man angesichts dieser Bankrotterklärung eines der hartnäckigsten Verleumder Furtwänglers vermuten, dass die Gegner des Komponisten ihr Pulver verschossen haben? Gewiss wird man sie noch zu der einen oder anderen Schlammschlacht ausrücken sehen, aber ihre hohlen Phrasen, die sie mangels tatsächlicher Argumente gezwungen sind fortwährend zu wiederholen, werden sich immer weiter abnutzen. An Furtwänglers Werken werden ihre Attacken zerschellen wie eh und je. Dem Konzertleben, den Tonträgerproduktionen und der Musikwissenschaft dagegen steht ein zahlenmäßig nicht großes, aber dafür umso gehaltvolleres Schaffen zur Verfügung, das diejenigen reich belohnen wird, die sich mit Ernst und Zuneigung seiner Ergründung widmen. Es verdiente eine bessere Pflege als sie ihm im 20. Jahrhundert zu Teil wurde. Tun wir es nicht Lebrecht und seinesgleichen gleich, sondern:
Hören wir dem Komponisten Wilhelm Furtwängler gut zu!
Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.
Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.
Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!
Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige
Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:
„So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)
„Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)
„Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)
„In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)
Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):
„10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“
Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.
Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.
Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent
Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.
Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.
Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?
Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.
Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.
Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.
Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.
Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke
Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.
Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.
Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:
„Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“
(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)
Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.
Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.
Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:
„Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“
Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.
Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?
Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?
Nach ihrem Auftritt im KUBIZ Unterhaching am 8. Mai spielt das Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora am 9. Mai im Herkulessaal der Münchner Residenz ein Programm bestehend aus der Ruy Blas-Ouvertüre op. 95 von Mendelssohn, Beethovens Drittem Klavierkonzert c-Moll op. 37 und Mahlers Sinfonie Nr. 4 G-Dur. Solistin im Klavierkonzert ist Ottavia Maria Maceratini, die Sopranpartie im Mahler-Finale singt Mireia Pintó.
Das Bruckner Akademie Orchester hat seit über einem Vierteljahrhundert den weit über München hinausragenden Ruf, als Laienorchester nicht nur auf überragendem Niveau zu spielen, sondern altbekanntem Repertoire neue Frische und Lebendigkeit zu verleihen. Als einer der langjährigsten Schüler Sergiu Celibidaches vermittelt Jordi Mora uns heute die Idee der musikalischen Phänomenologie, die sein Lehrer auf Grundlage seines Studiums bei Heinz Tiessen entwickelte. Phänomenologie ist keine Lehre, sondern die Haltung, jeden musikalischen Kontext individuell nach dessen Phänomenen zu erkunden und diese zum Klingen zu bringen. Das Wissen um Grundgesetze von Spannung und Entspannung aufgrund der natürlichen Ordnung der Obertonreihe ist Grundlage, um aus dem Hören ein Erlebnis werden zu lassen, das die aufgeschriebene Musik mit jeder Darbietung in einmaliger Lebendigkeit erstehen lässt.
Die Phänomenologie wird von Mainstream-Gelehrten gerne nicht „für voll genommen“ oder auch leichtfertig abgelehnt: Belegt werden kann sie schließlich nach deren Meinung nur anhand von Tonaufnahmen als Vermächtnis eines eines Toten, welche mit damaliger Technik nur einen Teil dessen abbilden können, was tatsächlich erklungen ist. Der Spott dürfte dem schnell vergehen, der ein Konzert mit Jordi Mora besucht und live erlebt, wie durchschlagend die Präsenz der Musik doch ist und wie zwingend die Werke vom allerersten zum allerletzten Ton zusammenhängen.
Die erste Hälfte des Konzerts steht ganz im Zeichen des klassischen Ideals. Mendelssohns Ruy Blas-Ouvertüre und Beethovens Drittes Klavierkonzert hören wir meist als pompöse Werke der aufkeimenden Romantik mit Pauken und Trompeten, hart und wirkungsvoll. Heute nicht! Jordi Mora rückt sie beide in das Licht der späten Klassik, nimmt Kraft und Lautstärke zurück, um transparent und fein zu bleiben. Wie strahlend doch das Blech bei Mendelssohn durchkommt mit den kleinen Crescendi und welch rhythmische Energie doch in den Geigenstimmen steckt! Beethoven sorgt ebenfalls für Aufsehen: Die Orchestereinleitung bleibt ungewohnt lange im Pianobereich und die kleinen Sforzati stechen nicht heraus, sondern unterstreichen subtil bestimmte Noten, wodurch die gesamte Gewalt in innig aufwallendes Brodeln verwandelt wird. Obwohl er extrem langsam dargeboten wird, besticht der Mittelsatz mit unglaublicher Kompaktheit und Griffigkeit. Der Schlusssatz ist ausgelassen, aber nicht übermütig, erinnert in der beschwingten Darbietung eher an eine Mozart’sche Eingebung denn an die manische Besessenheit, die Beethoven so gerne zugeschrieben wird. Ottavia Maria Maceratini fesselt durch ihre Präsenz: Wenn sie spielt, ist sie anwesend „in“ der Musik. Jede Note ist ausgewogen und abgestimmt, vor allem auch diejenigen, denen meist keine Beachtung geschenkt wird. Die Unterstimmen kommen heraus und geben ständigen Kontrapunkt zur Melodie, wobei besondere Bedeutung den „Zwischennoten“ zukommt, die nicht auf dem betonten Schlag liegen. Als Zugabe gibt es den Persian Love Song von John Foulds: Eine fragile Melodie, die auf einem Bordunbass aus repetierenden Akkorden schwebt. Diese Miniatur sollte als wahrer Schatz gewürdigt und in die Konzertprogramme aufgenommen werden, denn in nur etwa drei Minuten öffnet Foulds die Tore zu einer unendlichen orientalischen Welt, verströmt meditative Ruhe und reinen Gesang. Das Stück wird auf der nunmehr dritten Solo-CD von Maceratini, die Anfang kommenden Jahres erscheinen soll, erstmals eingespielt.
Nach der Pause bietet das Orchester noch die Vierte Symphonie Mahlers dar, welche die kleinste Besetzung aller Mahlersymphonien aufweist. Die hohe Qualität der ersten Hälfte bleibt bestehen, einziger Wermutstropfen ist die dauer-vibrierende Sopranistin, die sich wohl besser als Walküre denn als Solistin eines Mahler-Liedes ausnehmen würde. Das Bruckner Akademie Orchester nimmt die Symphonie beinahe kammermusikalisch intim, bleibt selbst in den tosenden Passagen transparent. Das gesamte Konzert über präsentiert sich dieses Orchester in hinreißender Plastizität: Ober- und Unterstimmen erhalten gleichberechtigte Bedeutung, wobei jede Stimme eigenständig wirkt. Resultat ist ein wahrhaft dreidimensional gestalteter Klang, der in jedem Moment räumlich spürbar ist.
Das Bruckner Akademie-Orchester unter Jordi Mora spielt im Herkulessaal der Münchner Residenz Felix Mendelssohn Bartholdys ‚Ruy Blas’-Ouvertüre, Beethovens 3. Klavierkonzert und Gustav Mahlers 4. Symphonie. Solistin ist Ottavia Maria Maceratini.
Einige meiner wenigen wirklich glaubhaften Informanten aus München haben mich in den letzten Jahren immer wieder auf die italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini hingewiesen, haben mir von ihren seltenen pianistischen und musikalischen Gaben berichtet, und ich muss gestehen, dass ich skeptisch war. Schon wieder so ein junges Sternchen der geistig verdorrenden Klassikszene, noch so eine ‚Hoffnungsträgerin’ der jungen Generation – wie oft schon sind wir dann von der klingenden Realität bitter enttäuscht worden, wie oft hat man versucht, uns Blech als Gold zu verkaufen. Diesmal aber war ich fest entschlossen, die lange Anreise auf mich zu nehmen, denn der katalanische Dirigent Jordi Mora hatte Frau Maceratini eingeladen, mit seinem Bruckner Akademie-Orchester im Münchner Herkulessaal aufzutreten, und erstens ist Mora ein wahrhaft fundierter Erarbeiter der musikalischen Struktur und phänomenaler Orchestererzieher, und zweitens lässt er sich nach meiner Erfahrung keine gehypten Jungstars aufschwatzen und schlägt sich nicht freiwillig mit hohlen Tastenvirtuosen herum. Hier zählt die Substanz.
Um es vorweg zu nehmen: ich habe diese Reise bei keinem Ton bereut, und es dürfte im erfreulich zahlreich erschienenen Publikum kaum jemand gewesen sein, dem es anders ergangen wäre.
Das Konzert begann mit der vielleicht formal bezwingendsten – und zweifellos einer der dramatischsten, erfindungsreichsten, dichtesten und feurigsten – Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy: der 1839 entstandenen Konzertouvertüre zu Victor Hugos ‚Ruy Blas’. Mora verstand es vorzüglich, die opponierenden Charaktere charakterstark zu entfalten und dabei stets den Zusammenhang des Ganzen im Auge zu behalten, wodurch sich eine unwiderstehliche Entwicklung vom majestätisch-furiosen Beginn bis zum triumphalen – jedoch zugleich elegant und biegsam bleibenden – Ende mit einer Klarheit offenbarte, die den Hörern das Innerste der Musik offen darlegte. Die subtile Beschleunigung der Schlussphase ist dabei einer jener intuitiv überzeugenden Kunstgriffe, die nicht um des momentanen Effekts willen inszeniert werden, sondern der inneren Notwendigkeit der harmonischen Entwicklung entspringen. Das Orchester spielte mit Verve, Reaktionsschnelligkeit, fein schattierter Zärtlichkeit und gesanglicher Anmut auf – gerade auch in den strahlend-machtvollen Tuttiauftürmungen –, dass es ein Fest der organischen Gestaltwerdung war.
Dann Beethovens Drittes Klavierkonzert in c-moll op. 37. Man kann das musikalisch nicht besser erfassen. Das gemessene Tempo des untergründig feierlichen Kopfsatzes mit seiner machtvollen Konfrontation der beiden opponierenden Themenwelten, der aus tiefster Versenkung sich aufbauende Largo-Mittelsatz in himmlischer Innigkeit, und das Finale diesmal nicht als grimmiger Parforceritt, sondern vor allem mit all dem Schalk und wagemutigen Humor, den die wenigsten Klang werden zu lassen verstehen! Ottavia Maria Maceratini spielt all dies nicht nur mit phänomenaler pianistischer Meisterschaft, die uns keine technische Klippe spüren lässt und den Klang sowohl im markigen Fortissimo als im delikatesten Pianissimo immer als Ganzes formt (kein Moment eindimensionaler Oberstimmendominanz!), immer Platz für plastische Phrasierung der Melodie hat (das Klavier singt unentwegt); sie ist vor allem eine unerhört reife Musikerin, deren Aufmerksamkeit der unaufhaltsamen Durchdringung des Gesamtverlaufs gilt und damit zu einer Einheit der großen Gestalt vordringt, die auf der bewusst gerichteten Mannigfaltigkeit der divergierenden Elemente beruht. Auch die fesselnde Kadenz im Kopfsatz (Original-Beethoven) dient in keinem Moment der Zurschaustellung pianistischer Attitüden und ist mit unerschütterlicher symphonischer Kontinuität durchgestaltet als Teil eines Ganzen, das so unausweichlich korreliert ist, als könne es gar nicht anders sein. Und das alles fern jedem bitteren Ernst, jeder didaktischen Gelehrsamkeit, wie ein spontanes Naturereignis, stets auf des Messers Schneide gespielt mit dem Mut zum vollen Risiko. Kein Moment interpretatorischer Willkür, nebulösen Fabulierens oder billiger Kraftmeierei findet sich in diesem Spiel, das zugleich völlig organisch dem Wechselspiel mit dem Orchester und seinen Solisten eingegliedert ist. So großartig die Solistin ihr Metier beherrscht, agiert sie doch nie selbstherrlich, sondern ist immer bewusster Teil des Ganzen, das sie ebenso begreift und gestaltet wie der Dirigent und seine Musiker. Das ist echte Hingabe von allen Seiten. Ist eine andere Stimme wichtiger, so tritt sie dezent zurück. Und doch ist das nie eine bloße Begleitung, sondern stets wache Gegenstimme, jederzeit bereit, wieder für einen Moment hervorzutreten. Das ist nicht einfach ein souveräner Auftritt, der Sicherheit, Brillanz und Kompetenz bewiese, sondern das ist wirklich Dienst am Werk, am Komponisten, an der Gemeinschaft, an der Musik, in der alle Mitwirkenden völlig aufgehen, ohne sich in Stimmungen zu verlieren, denn innere Balance und das unbestechliche Bewusstsein dafür, an welchem Punkt der musikalischen Entwicklung wir uns gerade befinden, liegen dem zugrunde. Es war ein echter Triumph nicht nur für Ottavia Maria Maceratini, sondern für alle Beteiligten, und wer dabei war, dürfte nicht vergessen, welche durchgehende Spannungslinie im ersten Satz gestaltet wurde, wie still es im Publikum wurde, welch ein erfülltes Aufatmen nach dem letzten Ton durch die Reihen ging. Solche Konzerte belohnen alle ernsthaft suchenden Hörer unverhofft für unzählige Stunden des Durchhaltens in gepflegtem Mittelmaß, in billiger Ekstase, in virtuosem Geklingel. Als Zugabe spielte sie in diesem insgesamt dramaturgisch exzellent konzipierten Programm die Miniatur ‚Persian Love Song’ von John Foulds, dem wohl originellsten britischen Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Wunderwerk, den Préludes eines Debussy oder Miniaturen eines Bartók ebenbürtig, in ganz und gar eigenem Ton, und pianistisch höchst anspruchsvoll mit den tiefen pianissimo-Tremoli und dem melancholischen Gesang, der sich darüber erhebt und uns aus dem alltäglichen Zeitempfinden in eine entrückte Welt entführt. Ottavia Maria Maceratini hat alles, um als eine der ganz Großen auf den Bühnen der Welt ein- und auszugehen.
Nach der Pause dann Gustav Mahlers Vierte Symphonie. Und auch hier: nie habe ich eine Aufführung dieses Werkes gehört, wo ein durchgehender Zusammenhang so zum Greifen nahe schien wie hier. Besonders ergreifend der unendlichem Fluss ausmusizierte langsame Satz. Alles ein unendlicher Gesang. Herrlich musiziert auch der Kopfsatz mit seiner untergründig stets vorhandenen Rubato-Geschmeidigkeit, die sich dann immer wieder in offenkundigen Tempoverwandlungen niederschlägt. Hier zeigt sich auch seltene dirigentische Meisterschaft, alles in freiem Wechselbezug bis in die feinste Detailgestaltung durchzuformen und ohne Rigidität synchron zu halten und den Rhythmus zu „atmen“, und das Orchester geht mit wie ein zusammenhängendes Wesen. Nicht weniger charakteristisch wurde die Bizarrerie des Scherzos erfasst. Das Schlusslied sang Mireia Pintó. Wohl auch hier, in der ganzen Mahler-Symphonie, kaum ein Hörer, der nicht tief ergriffen war von der Poesie und dem Drama dieser innerlich so zerrissenen Musik, die den Bogen so gerne überspannt, deren große Herausforderung darin besteht, das Episodische zum Zusammenhang zu bündeln, indem sie eben nicht auf Sicherheit getrimmt, nicht unpoetisch strikt gestrafft wird, aber auch nicht wie so oft tränenrührig zerfließt, sondern unsentimental ausgekostet wird in allen Fasern ihres vielschichtigen Daseins. Jordi Mora erwies sich hier einmal als einer der feinsten, vornehmsten und bewusstesten Meister seiner in grundsätzlichen Fragen so uneinigen Zunft. Dazu muss man kein Star sein, und das wäre auch das Letzte, was er wünscht. Besonders hervorzuheben aus dem exzellent einstudierten und mit verfeinerter Leidenschaft musizierenden Orchester ist der exzellente Konzertmeister Joel Bardolet, der ebenso an der Spitze unserer besten Orchester sitzen könnte. Eines der besten Konzerte der letzten Jahre.
GUSTAV MAHLER (1860-1911): Das Lied von der Erde (Fassung für Gesang und Klavier)
Alexandra von Roepke, Mezzosopran; Peter Furlong, Tenor; Christian Kälberer, Klavier
Thorofon CTH 2638; 4 003913 126382
‚Das Lied von der Erde’ – heute allbekannt in der Orchesterfassung – wurde von Gustav Mahler selbst auch für Klavier bearbeitet. Allerdings kam es zur Uraufführung dieser Fassung erst 1989 und es ist ausdrücklich kein ‚Klavierauszug’ jener Orchesterfassung, die heute längst die Konzertsäle erobert hat.
Die Frage, warum es diese „abgemagerte“ Fassung gibt, was Mahler dazu bewegt haben könnte, möchte ich mit einer Hypothese beantworten: So kommt das ‚Lied von der Erde’ noch unverstellter zum Ausdruck als in der beliebten Orchestrierung.
Und genau das ist der Ansatz meiner CD-Kritik, denn hier wird nicht das ‚Lied von der Erde’ aufgeführt, sondern eine „Oper von der Erde“. Der Pianist Christian Kälberer realisiert diese Mahler’sche Musik mit bewundernswerter Klarheit, mit Musikalität und Spürsinn für die typische Klanglichkeit in Mahlers Musik. (Auch seine Biographie im Booklet ist von seltener Zurückhaltung, Selbst-Ironie geprägt, und gipfelt in dem Satz: „…wenn diese CD-Einspielung hörbar dazu beitragen kann, ist eigentlich alles gesagt.“ Ecce homo!)
Was Kälberer betrifft, ist das auch voll und ganz erfüllt. Wie er aber als Erfüllungsgehilfen diese beiden Sängern hinzuziehen konnte – er selbst ist für die Produktion verantwortlich –, ist und bleibt mir schleierhaft. Solch ein Danebengehen einer Einspielung ist mir selten untergekommen.
Dass man bei normal „verbildeten“ Sängern und Sängerinnen – vor allem, wenn sie aus dem Opernfach kommen – bei Liedern meist kein Wort versteht, ist man ja inzwischen gewöhnt, dass aber zwei Sänger aus dem Lied von der Erde eine „Oper von der Erde“ machen mit weite Strecken unkontrolliertem Vibrato, absoluter Text-Unverständlichkeit und einem opernhaft oberflächlichen Pathos, das den Texten und auch der musikalischen Aussage total zuwider läuft, das ist ein Höhepunkt der Unkultur. Dabei gibt es auch heute durchaus Sänger, die Stimme mit Textverständlichkeit – also Musik mit Poesie – verschwistern können, als Beispiel führe ich hier nur Herrn Gerhaher an. Und zitiere wieder einmal Hans Gal (1890-1987) aus seinem bis heute unübertroffenen Buch über Schubert: „…und man hat das Recht, bei der Erwägung einer solchen Frage an den vornehmsten Typ eines Interpreten, eines Hörers und an die vollkommenste Wortdeutlichkeit zu denken – , so wird für ihn eine Meistervertonung eines Gedichts von höchster Vollendung ein Erlebnis sein wie kein anderes“. (S. 86)
Schade, denn mit diesem höchst musikalischen Gestalter am Klavier und zwei adäquaten Sängerinnen und Sängern könnte die Wiederentdeckung der Klavierfassung dem „Lied von der Erde“ von Gustav Mahler neue berechtigte Begeisterung bringen. So aber muss man von einem totalen Missverständnis –ausschließlich bei den beiden Gesangs-Protagonisten – sprechen. (Was übrigens bei den Biographien der beiden bestätigend hinzukommt: Name-Dropping pur.)
Himmelfahrts-Konzert der „Wilden Gungl“ – 25. Mai 2017 im Prinzregententheater unter Leitung von Michele Carulli
Von Johann Sebastian Bach bis Richard Wagner, welch ein Bogen! Und diesen musikalischen Bogen spannte das Orchester ”Wilde Gungl” unter seinem Dirigenten Michele Carulli am Vatertag im Münchner Prinzregenten-Theater in der Matinée um 11 Uhr.
Melodienzauber! hieß das Motto des Konzerts und dem entsprach das Programm, fast alle Melodien waren sogenannte ”Reißer”. Aber diese im Augenblick des Entstehens zu erleben, ist eben doch jedes Mal etwas ganz Anderes als sie zu Hause auf CD, im Radio oder bei einer Übertragung im Fernsehen zu hören. Lebendige Musik, „live“ ist durch nichts zu ersetzen, das wurde mir wieder einmal mit aller Deutlichkeit und Eindringlichkeit vor Augen und Ohren gebracht.
Solch einen Strauß aus vielen verschiedenen Melodien aus mehreren Jahrhunderten zu einem Programm zu verbinden, bedarf nicht zuletzt einer guten und ansprechenden Moderation. Sie ist und war bei Arnim Rosenbach – wie schon öfter – in allerbesten, charmanten Händen, auch dank seiner ebenso ansprechenden Stimme wie Art der Programmführung.
Von Bachs „Air“ aus der Orchestersuite BWV 1038 über Mozarts Klavierkonzert-Thema des zweiten Satzes KV 467 , das durch den Film „Elvira Madigan“ weltbekannt wurde, über Verdi, Mascagni, Smetana hin zu Puccini, Mahler, Morricone, Böttcher, Tschaikowsky bis hin zu den beiden Zugaben von Nino Rota und der Ouvertüre zu „Rienzi“ von Wagner zog sich der Melodien-Zauber.
Die Konzerte der „Wilden Gungl“ verfolge ich nun schon seit ein paar Jahren, aber auch diesmal fiel mir besonders auf, dass die Gruppe der Streicher durch Michele Carulli noch homogener geworden ist, noch sensibler spielt, was man bei einigen Stücken, in denen die Streicher die Hauptrolle spielen, besonders hören konnte. Bei Mahlers „Adagietto“ aus seiner 5. Symphonie fiel das natürlich speziell auf. Aber auch die „Nichtstreicher“ – von denen mir besonders die Harfenistin und die Holzbläser gefielen – geben dem Orchesterklang die Farbigkeit, die diese Musik überhaupt so zum Klingen und Blühen bringt. Und das Publikum, jung und vor allem natürlich die älteren Semester, die der „Wilden Gungl“ – ihrer „Wilden Gungl“ – schon seit Jahren die Treue halten, war begeistert und brachte das entsprechend zum Ausdruck.
Dass Michele Carulli ein Dirigent mit Leib und Seele unter Einsatz voller Energie ist, der das Orchester befeuert und die Musik sich in melodische Höhenflüge aufschwingen lässt, ist bei jedem Konzert begeisternd zu erleben. Auch der Beifall, den er wie selbstverständlich den entsprechenden Solisten-Kollegen weitergibt, gehört dazu. Und nicht zuletzt seine eigene Moderation, mit der er die beiden Zugaben ansagt und das Publikum nach gewaltigem Beifall entlässt.
Ein Stück möchte ich allerdings gesondert erwähnen, nicht nur, weil es mir unbekannt war, sondern weil es als „Jugendstück“ von Giacomo Puccini schon alles erkennen und hören lässt, was uns später in seinen Opern so mitnimmt und beglückt. Das „Preludio sinfonico“ von 1882 – aus seiner Zeit am Mailänder Konservatorium – ist eine wunderbare Überraschung in diesem ambitionierten und doch so unterhaltenden Programm.
Ich freue mich schon auf das Sommerkonzert im Brunnenhof und auf das Wiederhören der „Wilden Gungl“.
Ceterum censeo: Auch wenn es Perlen vor die Säue gleich zu sein scheint, ich werde nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die Münchner Zeitungskritik, das sogenannte Feuilleton, gut daran täte, aufzuwachen und dieses Orchester – das schließlich schon seit 150 Jahren existiert – und seine wunderbaren Programme endlich zur Kenntnis zu nehmen. Ganz einfach.
Quer durch drei Jahrhunderte erstreckt sich das Programm der Württembergischen Philharmonie unter Leitung von Chefdirigent Ola Rudner am 24. April 2016 im Herkulessaal der Münchner Residenz: Von Haydns Trompetenkonzert Es-Dur Hob.VIIe:1 von 1796 und Beethovens F-Dur-Symphonie, der Pastorale, über Mahlers Symphonischen Satz C-Dur mit dem Titel „Blumine“ bis zu dem As-Dur-Trompetenkonzert von Alexander Arutjunian, geschrieben 1941. Solist ist der norwegische Trompetenvirtuose Ole Edvard Antonsen.
Wagnerisch wird es direkt zu Beginn des Abends mit der „Blumine“ von Gustav Mahler. Der Satz, welcher ursprünglich Teil der ersten Symphonie werden sollte, weist solch signifikanten Parallelen zum Komponisten des Ring-Zyklus auf, dass man stellenweise fast meinen möchte, im Programm stehe ein falscher Name. Es ist ein beschauliches Stimmungsgemälde, in aller intendierten Bedeutungslosigkeit unfassbar schön und träumerisch. Weitaus substantieller dann das Trompetenkonzert von Joseph Haydn in Es-Dur Hob. VIIe:1, welches nicht zu Unrecht das wohl meistgespielte Trompetenkonzert überhaupt ist (wenngleich sicher auch aufgrund des schmalen Repertoires). Dieses Konzert schmeichelt dem Solisten auf der Es-Trompete in den schönsten Tönen in seiner ihm ureigenen Tonart. Das Instrument erhält höchst sangliche Kantilenen, dankbar virtuose Läufe und rhythmisch prägnante Themen. Von äußerstem Gegensatz in der harmonischen Spannung ist dazu das in etwa gleichlange Trompetenkonzert des Armeniers Alexander Arutjunian, jenes Werk des damals erst 21-jährigen, welches ihm zu internationalem Durchbruch verhalf und bis heute eines der wenigen oft gespielten Stücke des Komponisten ist. Es ist geprägt von den unverkennbaren Einflüssen armenischer Volksmusik, von östlichen Tonskalen und sowjetisch bunt orchestrierter, orientalisch anmutender Harmonik sowie von problemloser Verständlichkeit und Unbeschwertheit für Spieler wie für Hörer. Das letzte Werk des Abends ist die Pastorale, die Symphonie Nr. 6 von Ludwig van Beethoven in der Tonart F-Dur. Das Schwesterwerk der Schicksalssymphonie besticht durch seine malerischen Naturbilder, durch endlose Motivrepetitionen im Kopfsatz, durch unendliche Melodien im folgenden Andante sowie die fast erzählerische Abfolge der kommenden drei Sätze, die unmittelbar miteinander verbunden sind. Eine besondere Schau ist natürlich der mitreißende Sturm-Satz mit ungebändigten Läufen, tiefem Grummeln in Streichern und Pauken sowie der stürmisch zischenden Piccoloflöte, die einen ihrer ersten solistischen und für das Werk substanziellen Einsätze in der Musikgeschichte erfährt.
Über die Darbietung lässt sich kurz und knapp sagen, sie war ausgesprochen gelungen und überzeugend. Vor allem bei Beethovens Pastoral-Symphonie war sie direkt frappierend gut. Diese Symphonie ist bekannt dafür, als endlos sich dahinziehender Einheitsbrei aus thematisch in sich kreisenden Motiven zu erscheinen, welcher banal und entwicklungslos vor sich hinplätschert, wie es sogar bei den Spitzenorchestern gerne der Fall ist. Es ließ also sehr aufhorchen, wenn an diesem Abend endlich einmal die großen Spannungsbögen entfaltet werden und die Musik die Kraft der befreiten Entwicklung erleben darf. Ola Rudner lässt die Musik aus ihrer Natürlichkeit und Schlichtheit entstehen, verleiht ihr nicht zu viel Härte – auch nicht im Sturm – und sorgt doch für einen ansteckenden Schwung und prächtige Ausdrucksvielfalt. Dass manch hörenswerte und thematisch bedeutsame Stimme dabei nicht ganz zum Vorschein kommt, ist wie stets hauptsächlich der teils etwas schwer zu strukturierenden Instrumentation des Werks geschuldet, welche die Hauptstimmen teils sehr effektiv überdeckt. Der schwedischstämmige Dirigent Ola Rudner zeigt hier eindrucksvoll, dass man mit tiefergehendem Verständnis für das Werk es schaffen kann, aus dem Trott der ewig gleichen Wiedergaben herauszukommen und der Symphonie wieder neues, frisches und unverbrauchtes Leben einzuflößen.
Auch in den anderen Programmpunkten überzeugen Orchester und Dirigent auf hohem Niveau, vermitteln Anmut und feinen Glanz in Mahlers Blumine und geben dem Solisten Ole Edvard Antonsen einen flexiblen Widerpart zu seinen Solostimmen. Außergewöhnlich anzusehen für so große Hallen sind die Gesten von Ola Rudner, die sehr innig, kompakt und komplett ohne Schielen auf außermusikalischen Effekt erscheinen, anstatt das von den meisten Dirigenten praktizierte publikumshascherischen Show-Gehabe zu präsentieren.
Einen wahren Star an der Trompete hat sich die Württembergische Philharmonie an das Solistenpult geholt, Ole Edvard Antonsen. In den zwei so verschiedenen Konzerten demonstriert er die verschiedenen Facetten seines Könnens und ist auch, wie seine pittoreske Zugabe „Fanfare“ zeigt, ebenso für zirkushaften Spaß und Hochseilartistik zu haben. Hervorzuheben ist sein unbeschreiblich ausgereiftes Spiel mit Distanzwechseln, sein Klang kann quasi direkt beim Hörer sein, aber auch in der Nähe vor der Bühne stehenbleiben oder gar wie hinter dem Podium befindlich erscheinen – zwischen diesen Ebenen kann er ohne Luft zu holen changieren. Im Haydn behält ein sanglicher und offener Ton in sprühender Farbigkeit und Lebendigkeit die Oberhand, bei Arutjunian differieren die diversen Tongebungen natürlich viel mehr und er stellt unter Beweis, auch zerbrechlich-zurückgezogen oder extrem auftrumpfend-anstachelnd spielen zu können. Mit technischer Makellosigkeit ausgestattet brilliert Antonsen in Lockerheit und bewusst gesetzter wie angenehmer Distanz zu den Stücken, die er zwar von seiner inneren Beteiligung her auskostet, aber emotional nicht in ihnen zu versinken droht.
Die Württembergische Philharmonie unter Ola Rudner zeigt sich herausragend auch als Begleiter, mit ausgereiftem musikalischen Verständnis – hieran sollte sich manch eines unserer A-Orchester ein Vorbild nehmen!
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 3
Dallas Symphony Orchestra, Dallas Symphony Chorus, Children’s Chorus of Greater Dallas
Kelley O’Connor (Mezzosopran)
Jaap van Zweden
Label: DSOlive
Art.-Nr.: DSOlive007, LC: fehlt, EAN: 844667036053
Zwar spät, dann aber mit umso mehr Trara, ist die deutsche Presse darauf aufmerksam geworden, dass die New Yorker Philharmoniker mit dem Niederländer Jaap van Zweden einen aufsehenerregenden neuen Chefdirigenten bekommen haben. Nun erscheint eine neue Einspielung van Zwedens beim Label des Dallas Symphony Orchestra: ausgerechnet Mahler! Wie spannend!
Etwas merkwürdig war es schon, als nach der Verkündung dieser durchaus ungewöhnlichen Wahl in der gesamten Welt die Schlagzeilen nur so purzelten, während in Deutschland mehrere Wochen lang Totenstille herrschte. Im Zuge der neuesten CD-Veröffentlichung van Zwedens ist aber auch die deutsche Presse endlich aufgewacht. Dass neben den Berliner Philharmonikern, die mit Kyrill Petrenko ebenfalls einen Chefdirigenten gewählt hatten, der zumindest auf globaler Ebene gesehen nicht zur A-Prominenz zählte, nun auch die New Yorker Philharmoniker mit Jaap van Zweden einen Dirigenten in den Chefsessel gesetzt haben, der vorher fast nur durch Positionen in der musikalischen Diaspora, wie Hongkong und Dallas auffiel, sorgte nun endlich für hochgezogene Augenbrauen.
Trefflich ließe sich darüber nachdenken, ob diese beiden Orchester nicht vielleicht viel weiter sind, als das Gros der in ihrer vermeintlichen Komfortzone sanft vor sich hin schnarchenden deutschen Musikpresse. Beiden Orchestern geht es ganz offenbar kompromisslos um die Qualität der musikalischen Darbietung, und um nichts anderes. Währenddessen kleben weite Teile der deutschen Presselandschaft immer noch an den „großen Namen“. Jaap van Zweden war vielen Journalisten (trotz umfangreicher Diskografie, trotz nicht lang zurückliegender Deutschlandtournee des von ihm geleiteten Hong Kong Philharmonic Orchestra) noch nicht einmal im Ansatz bekannt. Das sagt viel aus, ebenso wie das: Seltsam leidenschaftslose Rezensionen und Artikel finden sich in der heutigen Musikpresse, sodass man sich eigentlich nicht sehr wundern muss, dass allerorten die Leser in Scharen davonlaufen.
Auch das orchestereigene Label des Dallas Symphony Orchestra war in Deutschland bislang nicht eben unter den Labels zu finden, die besonders häufig rezensiert werden. Mit der neuen Einspielung von Mahlers Dritter unter Leitung Jaap van Zwedens ist dies nun einmal anders: Grund ist eben die Berufung van Zwedens zum Chef in New York. Und dort ist er ja bei einem Orchester gelandet, das niemand Geringeren als Gustav Mahler höchstpersönlich Anno 1909 zum Chefdirigenten erkor und (viel) später dann mit Leonard Bernstein den wegweisenden Mahler-Zyklus der 1980er-Jahre vorlegte. Unter diesem Aspekt ist es natürlich äußerst spannend zu erfahren, was van Zweden aus einer Sinfonie wie Gustav Mahlers Dritter macht.
Das Endergebnis ist sehr erfreulich, viele werden sagen erstaunlich. Jaap van Zweden ist glücklicherweise kein Dirigent, dem es vor allem um Pomp und Gloria geht. Eigentlich ist er das krasse Gegenteil des bisherigen Chefdirigenten der New Yorker Philharmoniker Alan Gilbert, der ein echter „Showman“ war. Vielmehr fällt van Zwedens Mahler zunächst einmal durch eine vornehme Zurückhaltung auf. Das Fortissimo des Jaap van Zweden ist meilenweit entfernt von dem Fortissimo der Art Draufgänger, wie es sie schon zuhauf in der Mahler-Diskographie gibt. Jaap van Zweden greift in punkto Orchesterdynamik erfreulich selten zum Äußersten. Damit kommt er dem Mahler-Orchester der Jahrhundertwende vermutlich sehr viel näher als ein Großteil der Dirigenten, die meinen, bei Mahler mal “voll aufdrehen“ zu müssen.
Mit dem Dallas Symphony Orchestra steht van Zweden bei dieser Einspielung ein guter, wenn vielleicht auch nicht in allen Position exzellent besetzter Klangkörper zur Verfügung. Man darf sehr gespannt sein, wie dieser hochinteressante, elegante Dirigent ein Orchester wie das New Yorker Philharmonic dirigieren wird, das aus einem ganz anderen Holz geschnitzt ist.
Aber auch mit dem Dallas Symphony Orchestra erreicht van Zweden herausragend schöne Momente. Die grandiose Orchestrierung von Mahlers dritter Sinfonie nimmt der niederländische Dirigent zum Anlass zu einem veritablen Klangfarbenrausch.
Spielzeittechnisch ist Mahlers dritte unter van Zwedens Händen eine der längeren Einspielungen, die am Markt verfügbar sind. Das passt gut ins Bild: van Zweden hatte bei Naxos bereits ein „Rheingold“ vorgelegt, bei dem besonders gemäßigte Tempi zu Diskussionen in der Fachpresse Anlass gaben. Bei dieser Mahlereinspielung ist es ein ähnliches Bild: Ich persönlich finde das eigentlich ganz angenehm, denn hier ist ein Dirigent, der sich nicht an gängige Muster hält, sondern der wirklich aus dem Notentext eine eigene Interpretation erarbeitet. Mit seinen meist gemäßigten Tempi steht er ja auch in einer guten Tradition. Das erinnert an Knappertsbusch, an Kegel und Jochum. Dass eine solche Auffassung heute nicht modisch ist, dürfte klar sein. Dabei ist dies doch sehr erfrischend: Ein Dirigent, der sich nicht um Moden schert, wird in den nächsten Jahren die Geschicke des bedeutendsten US-amerikanischen Orchesters leiten. Wie schön!
Ein neu aufgestelltes Projektteam begeht den Versuch, Kammermusik von bekannten Komponisten der Moderne und des Übergangs zu dieser zu rekomponieren und mit zeitgenössischen Sampletechniken aus dem Aufnahmematerial eine neue Musik zu schaffen, die die Form einer Symphonie annehmen soll. Mitwirkende Musiker der Originalwerke sind dabei Lutz Bartberger, Felix Benkartek, Esther Bürger, Anna-Doris Capitelli, Toni Ming Geiger, Carolina Große Darrelmann, Theresa Lier, Lara Sophie Schmitt und Lena Wignjosaputro. Für die Rekomposition ist Luis Reichard zuständig, der mit Patrick Leuchter die Produktion leitet und vom Schlagzeuger Moritz Baranczyk unterstützt wird, der für einen Track noch eine später als MIDI exportierte Schlagzeugstimme liefert. Der Titel des Projekts lautet Noch:Schon, ihre erste Veröffentlichung nennt sich „Musik an der Schwelle“.
Mit klassischer Musik zu experimentieren und sie in andere Formen und Dimensionen zu bringen, bringt oft sehr interessante und im positiven Sinne bemerkenswerte Versuche hervor, denn so erhält eine oft als „verstaubt“ diffamierte Musik neues Publikum und vielleicht können auf diese Art gerade junge Leute aufmerksam gemacht werden nicht nur auf die moderne Bearbeitung, sondern auch auf die Originale dahinter, und für eine offene Hörhaltung gegenüber einer solchen Musik gewonnen werden. Noch:Schon bietet exakt diese Möglichkeit: Auf der ersten CD von „Musik an der Schwelle“ befinden sich die Originalwerke, bestehend aus Gustav Mahlers einsätzigem Klavierquartett, Alban Bergs sieben frühen Liedern, Sergei Prokofjews Sonate für zwei Violinen, Samuel Barbers Nuvoletta und Bernd Alois Zimmermanns Sonate für Viola Solo; die zweite CD hingegen enthält Bearbeitungen dieser Stücke, gegliedert in vier Sätze, die zusammen eine Symphonie bilden sollen mit einem Sonatenhauptsatz (Mahler) zu Beginn, einer Kantate (Berg) in vier Teilen als zweitem Satz, einem Scherzo (Barber) und einem Finale (Zimmermann). Bedauerlicherweise wird der grandiosen Prokofjew-Sonate kein eigener Titel zugesprochen.
Die Musiker spielen allesamt auf einem hohen Niveau. Sehr stimmungsvoll ist das einsätzige Klavierquartett von Gustav Mahler dargeboten, jenes einzige vollständig uns erhaltene Kammermusikwerk des großen Symphonikers, das zwar in klassischer Sonatenhauptsatzstruktur komponiert ist, aber sich dennoch hauptsächlich monistisch aus dem Hauptgedanken a-f-e entwickelt, wodurch es im Spiel schnell zu ungewünschten Längen kommen kann. Bei den hier mitwirkenden Musikern werden die Längen erstaunlich gut kaschiert, das Zusammenspiel wirkt im Großen und Ganzen gut abgestimmt, lediglich donnert es manchmal ein wenig zu grob – wobei dies auch an der Tontechnik liegen kann. Carolina Große Darrelmann verleiht den sieben frühen Liedern Alban Bergs einen recht matten und innigen Klang mit einem leicht reibenden Timbre – leider ist der Text dabei manchmal nur schwerlich zu verstehen, was gerade bei so textlich ausdrucksstarken Liedern wünschenswert wäre. Sehr opernhaft erscheint Ester Bürger in Barbers Nuvoletta mit ausschweifenden und brillanten Koloraturen und einer strahlend hellen Stimme, die einen deutlichen Gegenpol zu der kammermusikalisch erscheinenden Sängerin der Berg-Lieder bildet, wenn auch mit der unfreiwilligen Gemeinsamkeit der oft unzureichenden Textdeklamation. Felix Benkartek accompagniert in beiden divergierenden Stilen in trefflichem Gestus am Klavier, ohne dabei sonderlich stark an der Oberfläche neben den Sängerinnen hervorzutreten. Entsprechend ist seine „Stimme“ teils nicht sonderlich sanglich ausgestaltet und wirkt zwar als solider und stimmiger Untergrund, allerdings nicht als vollwertiger Widerpart zu den Partnerinnen, vor allem bei Barber. Dabei könnte er durchaus weiter aus dem Schatten hervortreten, sein Spiel ist angenehm feingliedrig und perlig. Vermutlich ist aber auch hier wieder eher die Abmischung Ursache für die ungleiche Abstimmung als das Spiel des Pianisten, denn das Klavier wirkt im Vergleich zu der Kraft hinter manchen Tönen doch recht gedämpft und als reine Hintergrundsfarbe degradiert. Die überzeugendste Darbietung der ersten CD ist meines Erachtens die von Lara Sophie Schmitt in der Sonate für Viola solo von Bernd Alois Zimmermann, von dessen breitem Œvre die meisten nur die Oper „Die Soldaten“ kennen, die letztes Jahr in der Bayerischen Staatsoper unter Kirill Petrenko einen für ein avantgardistisches Werk unvorstellbaren Erfolg erzielen konnte. Die Violasonate erfordert unzählige minimale Farbnuancen, die ganz exakt dosiert werden müssen – was Schmitt auch zustande bringen und so die düster-depressive und für Zimmermann so typische Stimmung ohne jede aufgesetzte Verstellung vermitteln kann. Zudem findet sich noch die Sonate für zwei Violinen Op. 56 von Sergei Prokofjew auf der ersten CD, welche übrigens den Titel „Noch“ trägt, während die Bearbeitungen als „Schon“ überschrieben werden. Die Sonate, wie wohl fast alle Werke von Prokofjew, verlangt alles an Mechanik von den Musikern ab, was physikalisch irgendwie erreichbar ist. Umso schwieriger gestaltet es sich, auch die Lyrik in diesen vertrackten Sätzen herauszuarbeiten und in all den Dissonanzen und teils derben Klängen zu „singen“. In den langsamen Passagen mag das noch zu einem guten Teil gelingen, aber in den virtuosen und rhythmisch markanten Verläufen sind Lutz Bartberger und Theresa Lier zu sehr mit der rein technischen Bewältigung der komplexen Organisation beschäftigt, um für ein ausgewogenes und abgestimmtes Spiel sorgen zu können. So geht häufig auch die erforderlich akzentuierte Scharfkantigkeit verloren, besonders im zweiten Satz, dem phänomenalen dynamischen Höhepunkt, wo statt dessen entweder die entsprechenden Momente zu „harmlos“ wirken oder aber allzu kratzig rüberkommen. Nichts desto Trotz ist alleine schon die technisch so saubere Bewältigung eine hohe Aufgabe, die es zu würdigen gilt.
Insgesamt ist allerdings zu sagen, dass die Aufnahmetechnik der Stücke nicht gerade ideal getroffen ist, die Werke wirken ein wenig verloren im Raum und büßen somit an Tiefe und Präsenz ein, so dass manch einer der hier genannten Rezensionsaspekte nur nach mehrfachem Hören überhaupt eruierbar war. Zwar erklingen die Stücke besonders stimmungsvoll in dem leicht vernebelten Hall, doch ist dies den Preis nicht wert, zentrale musikalische Aspekte einzubüßen. Das ebenso wie das gesamte Album sehr innovativ gestaltete Booklet (das besondere Anhänger der Musik sogar als Plakat ausgebreitet in ihre Lokalitäten hängen können) gibt zwar weder sonderlich nennenswerte Informationen über die Originale, noch die Texte der Berg-Lieder, bietet aber ein paar interessante Gedanken vor allem über die Bearbeitungen, wobei ich mir auch hier ein wenig ausführlichere Fakten über den Entstehungsprozess und die Gedanken dahinter (die sich beim bloßen Hören schwerlich erschließen mögen) wünschen würde.
„Schon“ folgen die Rekompositionen der Stücke auf der zweiten CD, die laut beigelegtem Text komplett aus dem Aufnahmematerial gebildet wurden (abgesehen vom Schlagzeug auf Track 3). Diese Neuzusammensetzung erfolgte mit Hilfe von etlichen elektronischen Effekten, die die Originalstimmen teilweise in unkenntlich verzerrter Weise wiedergeben, so dass sie teilweise wie rein elektronisch generiert wirken. Auf diese Weise könnte das resultierende Material direkt Teil einer futuristisch anmutenden Ausstellung oder Musik für experimentelle Lokalitäten und Clubs darstellen. Das Ergebnis lässt noch immer das Original in sich erkennen, bildet aber doch etwas vollkommen Neues, und nur kurzzeitig schimmern Passagen vollkommen unverstellt durch die Elektronik durch. Alles in allem sind die Rekompositionen äußerst stimmungsvolle und kurzweilige Stücke, die eine eigene Atmosphäre verströmen und immer wieder für Überraschungen sorgen. Kontinuierlich stellt sich die Frage, was als nächstes folgt und welche Klangkombinationen und vor allem -variationen erscheinen werden. Besonders spannend sind die reinen Instrumentalstücke, so wird beispielsweise die Zimmermann-Sonate von ihrer spröden und fragmenthaften Originalgestalt aus immer weiter verdichtet, bis scheinbar ein ganzes Streichorchester spielt, was schließlich in eine melancholische Klangfläche mit sanfter Kantilene überkippt. Bei Mahler wurde versucht, auch eine Sonatenhauptsatzform zu erschaffen, allerdings mit Atmosphären statt mit Motiven – was allerdings mehr intellektuell zu verstehen als tatsächlich beim spontanen Hören offenkundig ist. So gelungen das Ergebnis auch sein mag, stellt sich nun dennoch die Frage nach dem innermusikalischen Sinn dahinter, denn keine dieser Kompositionen hat das Bedürfnis, auf irgendeine Art rekonstruiert zu werden. So handelt es sich mehr um schön zu hörende experimentelle Spiele denn um einen wahren Dienst im Sinne der Komponisten oder ihrer Werke. Ungeachtet dessen bleibt die Hoffnung, durch so eingängige und kosmische Umformungen kammermusikalischer Werke einmal mehr Besucher auch in den klassischen Konzertsaal zu locken.