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Meisterwerke eines Kritikers

Grand Piano, GP784; EAN: 7 47313 97842 7

Jamina Gerl spielt Klavierwerke des deutschen Komponisten Ferdinand Pfohl, der sich vor allem als Musikkritiker einen Namen gemacht hat. Auf dem Programm steht die frühe ‚nordische Rhapsodie nach einem Thema von Edvard Grieg‘ mit dem Titel Hagbart, die Strandbilder op. 8 und Pfohls spätestes Klavierwerk, die Suite Élégiaque op. 11.

Während mir der Name Ferdinand Pfohl als Autor von Biographien unter anderem über Wagner, Beethoven und Nikisch ein Begriff war, und ich auch von seiner führenden Position als Musikkritiker wusste, so hörte ich nie von ihm als Komponist. Und doch scheint Pfohl zu Lebzeiten ein nicht unbeachteter Tonsetzer gewesen zu sein, wie Aufführungen durch Reger, Nikisch, Mottl und anderen beweisen. Die vorliegende Aufnahme widmet sich seinen Klavierwerken beginnend bei der frühen nordischen Rhapsodie Hagbart von 1882 und endend bei der Elegischen Suite op. 11 (durch den Verleger der Mode entsprechend mit französischem Titel Suite Élégiaque beworben), dem bereits letzten Klavierwerk Pfohls von 1894.

Im Jahr 1892, in welchem auch die hier vorliegenden Strandbilder op. 8 erschienen, übernahm Pfohl die gefragte Stelle als Redakteur im Feuilleton der Hamburger Nachrichten und war so mit journalistischen Aufgaben eingespannt, kam wenig zum Komponieren; entsprechen große Lücken gibt es im Werkkatalog und erst nach seiner Pensionierung schuf er wieder regelmäßiger Orchesterwerke und Lieder. Das Schreiben sah Ferdinand Pfohl ursprünglich als reinen Broterwerb, nachdem er sein Studium der Rechtswissenschaften abgebrochen hatte und vor dem Einfluss seines strengen Vaters nach Leipzig floh – was auch zur Konsequenz hatte, dass er keine finanzielle Unterstützung mehr von Seiten seiner Familie erhielt.

Das große Vorbild, das durch alle der hier zu hörenden Klavierwerke eindeutig hervorscheint, ist Edvard Grieg. Noch bevor sich die beiden Komponisten kennenlernten und bevor Pfohl sich überhaupt vollständig der Musik verschrieb, komponierte er bereits die nordische Rhapsodie Hagbart nach einem Thema des Norwegers, worin er sich dessen harmonische und noch mehr melodische Sprache zu Eigen machte, sie aber mit einigen eigenen Elementen würzte. Doch auch in den übrigen Werken bleibt der Einfluss unverkennbar: Die reife Harmonik inklusive unaufgelöster Dissonanzen und Rückungen von erweiterten Akkorden, die expressive Kraft absteigender Chromatik, die Qualität der Melodien, die ihre unmittelbare Wucht aus folklorehafter Einfachheit ziehen, die treibende Macht der punktierten und triolischen Rhythmik, all das entnimmt Pfohl der Stilwelt Griegs. Manches mag schon beinahe an die früheren Werke von Debussy erinnern, doch sollte man nicht vergessen, dass auch dieser ein glühender Verehrer Griegs war und seine Tonsprache ohne die in der Forschung oft vernachlässigten Neuerungen des Norwegers undenkbar wäre. Gewiss darf Pfohl nicht als Epigone betrachtet werden, er war ein durch und durch eigenständiger Komponist. Formal überbrückt er mit einfachem Material große Strecken, ohne dass ein musikalischer Leerlauf eintritt (abgesehen höchstens einiger recht Liszt’scher Enden), und harmonisch entdeckt er manch eine neue Kombination, um die Musik über eine schwebende Fläche weiterzutragen und sich entwickeln zu lassen. Thematisch bleibt er dagegen konservativ und baut auf eingängige Melodien, die dafür ewig im Kopf bleiben und nicht zuletzt dadurch ihren Teil zur formalen Konzeption beitragen.

Durch ihr brillantes und unprätentiöses Spiel überzeugt die Pianistin Jamina Gerl bei ihrem Vortrag des Pfohl’schen Klavierwerks. Schon die ersten Takte der Strandbilder mit den filigranen Läufen und glitzernden Trillern zeugen von ihrer technischen Lupenreinheit, die sie nicht zum Selbstzweck nutzt. Selbst in den üppig befrachteten Schlussstellen gibt sie sich nicht dem Sog der Musik hin, sondern kontrolliert ihr Spiel zu einer dadurch noch packenderen Darstellung, welche die Spannung ins Unermessliche steigert und kontinuierlich oben hält. Auch den lyrischen Stücken gibt sich die Pianistin nicht haltlos hin, sondern bewahrt wohltuende Distanz, um den Kern der Musik zu erfassen und dem Hörer zu präsentieren.

[Oliver Fraenzke, November 2019]

Skurrile Entdeckungen

Tangos for Yvar – Hanna Shybayeva (Klavier)

Label: Grand Piano, Art.-Nr.: GP794; EAN: 747313979424

Was für eine verrückte Idee: Der amerikanische Pianist Yvar Mikhashoff (bürgerlich Ronald McKay, *1941, †1993) muss ein Tango-Besessener gewesen sein, denn er hat zwischen 1983 und 1991 nicht weniger als 127 zeitgenössische Komponisten beauftragt, Tangos für ihn zu schreiben. Geplant war laut dem sehr interessanten Interview mit der hier zu hörenden Pianistin Hanna Shybayeva im Booklet zu dieser Veröffentlichung eine Notenausgabe aller eingesandten Kompositionen. Leider verstarb Mikhashoff jung im Alter von 53 Jahren und konnte sein Projekt nicht zu Ende bringen. Nach seinem Tod fanden sich 70 Tango-Kompositionen in seinem Nachlass. Ob die anderen beauftragten Komponisten keine Stücke eingesandt hatten oder ob die Kompositionen irgendwie verloren gegangen sind, ist aktuell noch nicht aufgearbeitet und wäre wahrscheinlich eine schöne Aufgabe für angehende Musikwissenschafts-Doktoranden.

Jedenfalls hat Hanna Shybayeva für ihr hochinteressantes Album aus diesen 70 Tangos 17 ausgewählt, die sie um eine weitere, eigene Transkription eines Piazzolla-Stücks ergänzte. Hochinteressant ist dieses Album schon alleine deswegen, weil jeder Komponist etwas völlig anderes unter dem Auftrag, einen Tango zu komponieren, verstand. Und so finden sich Tangos im engeren Sinne eines „Tango Argentino“ ebenso wie Zwölftonmusik und Serialismus, die kaum noch Ähnlichkeit mit dem „typischen“ Tango hat – und natürlich alle möglichen und unmöglichen Abstufungen dazwischen.

Die beteiligten Komponisten lesen sich einerseits wie ein „Who is who“ des 20. Jahrhunderts: (Nyman, Wolpe, Babbit, etc.), andererseits tauchen Namen auf, die selbst Kenner der Szene kaum auf dem Schirm haben. Das Album ist aber wohl auch kaum etwas für Repertoirekrämer und Spezialitätensammler, sondern vermutlich eher etwas für den Genuss in „einem Rutsch“. Die „Tangos for Yvar“ werden so zum skurrilen Gesamtkunstwerk, das als ein Kuriosum des 20. Jahrhunderts äußerst liebenswert erscheint.

Hanna Shybayeva ist eine mit allen Wassern gewaschene Pianistin, die bereits seit Anfang der 2000er-Jahre (damals startete sie blutjung ihre Karriere bei Philips Classics) für unterschiedlichste Labels Einspielungen beigesteuert hat (darunter in jüngerer Zeit Etcetéra, Ars Produktion, Brilliant Classics). Sie spielt hoch virtuos und ihre Liebe zu diesen Kompositionen, die sie persönlich für das Album ausgewählt hat, schimmert häufig durch und gibt der Einspielung eine sehr persönliche Note. Von der Interpretationsseite her betrachtet kann man sich dieses Projekt also kaum besser wünschen. Lediglich der Aufnahmeklang enttäuscht, ist viel zu undynamisch und wirkt leicht komprimiert. Die ganze Einspielung wirkt wie eine Aufnahme einer klassischen Pianistin in einem Jazzmusikstudio. Das passt zu manchen dieser Tangos zugegebenermaßen ganz gut, deckt aber die gesamte Repertoirebandbreite nicht ab.

[Grete Catus, Mai 2019]

Der Virtuose und der Jazzer

Grand Piano, GP781; EAN: 7 47313 97812 0

Roberto Esposito: Piano Concerto ‘Fantastico’; Budapest Scoring Symphonic Orchestra, Eliseo Castrignanò (Leitung), Roberto Esposito (Klavier)

 Für Grand Piano Overtone spielt Roberto Esposito seine eigene Musik: Gemeinsam mit dem Budapest Scoring Symphonic Orchestra unter Eliseo Castrignanò führt er sein Klavierkonzert Nr. 1 fis-Moll ‚Fantastico‘ auf, zudem hören wir seine Klaviersonate Nr. 1 B-Moll und Indigo Mirage.

Die Musik von Roberto Esposito beruht auf der romantischen und post-romantischen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts. Die klassischen Formmodelle spielen ebenso eine zentrale Rolle wie das Virtuosentum, das den Solisten ins Zentrum rückt. Esposito vermengt diese Musik mit Einflüssen aus dem Swing und Jazz, Duke Ellingtons Nachhall wirkt in jedem Satz des 1984 geborenen Italieners. Das Klangresultat schwankt zwischen Rachmaninoff und Ellington – uneinig, wohin die Reise nun gehen soll. Esposito arbeitete vor allem den Klavierpart aus, in welchen pianistische Anforderungen aus mehreren Jahrhunderten der Musikgeschichte einfließen. Somit gibt diese Stimme große Kenntnis über die bekannten Klavierkonzerte der Romantik preis. Das Orchester hingegen wirkt abgesehen einiger klangschöner Momente beiläufig behandelt, es dient dem Effekt und der Begleitung. Anders als im Klavierkonzert hören wir in der Klaviersonate auch modernistische Eindrücke, insgesamt ist der Jazz hier präsenter. Improvisatorische Elemente finden sich hingegen in beiden Stücken. Esposito besetzt Indigo Mirage mit Orchester und schreibt auch Live Electronics vor, der Eindruck erinnert an ein Stück Filmmusik: Nett anzuhören, wenngleich ohne wirkliche Substanz.

Die Musikgeschichte bietet Einblick in zahlreiche Versuche, Klassik und Jazz zu verbinden, man denke allein an Milhauds Creation du monde, an Debussy und Ravel, an Strawinski und Antheil oder von der anderen Seite aus an Duke Ellington oder George Gershwin. Gemeinsam haben die Werke dieser Komponisten, dass die beiden Welten in ihnen nahtlos ineinander überfließen und eine Symbiose bilden, sowie, dass die einzelnen Teile kaum mehr voneinander zu trennen sind. Dies vermisst man noch bei Roberto Esposito: Der Virtuose und der Jazzer in ihm mögen sich nicht so recht vereinen, abrupt nimmt der eine dem anderen das Wort. Doch wenn es Esposito gelingt, den Jazz subtil in die Welt des 19. Jahrhunderts einzubeziehen und die Musik damit zu würzen, wird sich das spürbare Potential in dieser Musik entfalten können.

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

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Wie Dr. Clockwork Orange die Fuge liebte

Anthony Burgess (1917-1993): The Bad-Tempered Electronic Keyboard: 24 Preludes and Fugues (Stephane Ginsburgh: Klavier)

 

Grand Piano, GP 773: EAN 7 47313 97732 1

 

Wie bitte? Anthony Burgess? Das ist doch der von “Clockwork Orange”, diesem  ‚strangen’ Film aus den frühen 80ern, oder? Was hat denn der mit Musik zu tun, doch, obwohl, in dem Film spielte Musik – vor allem von Beethoven – eine große Rolle, aber Burgess als Komponist?

Doch, doch, bevor der sich nämlich der Literatur zuwandte und diesen Erfolg mit seiner Schreiben und der daraus resultierenden Filmadaption durch Stanley Kubrick verbuchen konnte, war er Musiker und vor allem auch Komponist. Das Booklet (nur auf englisch und französisch) gibt umfassend Auskunft über Werdegang und Weg des Anthony Burgess. Und dass es einen Pianisten und Komponisten reizt, sich auf die Spuren von Johann Sebastian Bach zu begeben und einen andAlternativzyklus zum ‚Wohltemperierten Klavier’ zu kreieren, teilt er mit vielen anderen Komponisten, wie z.B. Dimitri Shostakowitsch, Hans Gal – oder sogar Mario Castelnuovo–Tedesco mit ‚The well-tempered Guitar’! Immer wieder hat diese Aufgabe Komponisten gereizt, und so eben auch Anthony Burgess. Auch wenn die Literatur die Hauptfrucht seines sehr spannenden und interessanten Lebens war, das ihn von Manchester – seiner Geburtsstadt – bis nach Brunei und wieder zurück nach Europa führte, und seine letzte Lebensjahre verbrachte er in Monaco: er hörte doch nie auf zu komponieren, unter anderem drei Symphonien, Konzerte, Kammermusik und Lieder.

Der 1986 entstandene Zyklus unter dem ironischen Namen „The Bad-Tempered Electronic Keyboard“ zeigt schon Burgess’ nichtakademische Herangehensweise an diese Aufgabe.

Das erste, was mir beim Anhören auffiel, ist die quasi improvisatorische Musizierlust, die allen Stücken eignet. Als hätte der Komponist sie zu allererst einmal für sich selber geschrieben, zu seiner eigenen Vergnügung und Freude, ohne das so übliche Schielen nach Aufführung und Ruhm, also ähnlich wie Charles Ives, der ja sein Geld auch nicht mit seiner Musik verdiente, sondern als Mitinhaber einer großen Versicherung. So konnte er schreiben, was er wirklich wollte ohne Rücksicht auf den Musikbetrieb. Bei Burgess war nach der Ablehnung eines Musikstudiums der Lebensunterhalt und damit auch der „Ruhm“ durch seine Literatur und seine pädagogische Tätigkeit mehr als gesichert. Er sagte sogar einmal, am liebsten hätte er sein ‚Clockwork Orange’, das ihn unsterblich machen sollte, nie geschrieben, denn darauf würde er meistens reduziert. Auch bei den Stücken aus diesem Zyklus  – mit großem Enthusiasmus gespielt und lebendig gemacht vom belgischen Pianisten Stephane Ginsburgh –  ist die Freude am Komponieren durch alle 24 Dur und Moll-Tonarten deutlich zu spüren. Welches der Stücke besonders gut gefällt, ist eine so subjektive Frage, dass ich selber  keine Aussage machen kann und möchte, allerdings ist die Fuge über das Weihnachtslied „Good King Wenceslas“, ein besonders wunderbares Meisterstück, das den ganzen großartigen Bogen des gar-nicht-’bad-tempered keyboard’ grandios abschließt.

Natürlich sind die Stücke tonal und bewegen sich gekonnt und überzeugend im Rahmen des Tonartenkreises, man erwarte also keine Morton Feldman’schen oder Cage’schen Experimente, sondern eher das, was sich sicher mancher Klavierspieler selber schon vorgenommen hat: In allen 24 Dur und Moll-Tonarten einfach mach à la JSB selber loszuspielen und zu erleben, was dabei rauskommen kann und will.

[Ulrich Hermann, Februar 2018]

Eine klingende Schatztruhe

Grand Piano, GP753-55; EAN: 7 47313 97532 7

Auf drei CDs stellt das Label Grand Piano eine große Auswahl an Klaviermusik aus drei Jahrhunderten im Schnelldurchlauf vor, vom 18. Jahrhundert bis zum heutigen Schaffen.

Ausschnitte aus 73 CDs sind auf der „Key Collection“ von Grand Piano zu hören, gleichsam ein klingender CD-Katalog für dieses Label, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, unbekannte Klaviermusik systematisch wiederzuentdecken. Meist ist „Complete Works for Piano“ auf den CDs zu lesen, womit diese einen allumfassenden Blick über das Klavierrepertoire von zu Unrecht nicht etablierten Komponisten liefern. Der Fokus liegt hauptsächlich auf Musik des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, doch auch einige Perlen aus früheren Zeiten konnten geborgen werden.

Die Key Collection lädt zum lockeren Entdecken ein, zu hören sind einzelne meist kurze Sätze oder Einzelstücke aus dem Repertoire des Labels. Die über dreieinhalb Stunden lange Reise geht von 1773 bis zu Werken der letzten fünf Jahre. Einige Komponisten waren mir bislang vollkommen unbekannt, was sich nach dem Hören als dringend zu schließende Lücke erwies. Auch von etablierten Komponisten gibt es Hörstoff, wenngleich ebenfalls kaum gespielte Lektüre wie etwa eine Sonate für Klavier vierhändig von Beethoven oder die Fragmente eines zweiten Klavierkonzerts von Edvard Grieg (sowie deren Ergänzung durch Evju). Quer durch sämtliche Sparten der Klaviermusik geht die von Grand Piano getroffene Auswahl bis hin zum Minimalismus und popmusikalisch anmutenden Stücken von Afshin Jaberi (geb. 1973).

Ein kompletter Überblick über die Sammlung würde den Rahmen einer Rezension sprengen und es fällt schwer, aus solch einer reichhaltigen Schatztruhe eine repräsentative Auswahl bedeutsamer Entdeckungen herauszugreifen. Persönlich freue ich mich besonders über das Erscheinen von Dimitar Nenov (1902-53), einem durch brutale Wildheit überrumpelnden bulgarischen Klaviervirtuosen, des großen Australiers Percy Grainger (1882-1961), der durch seine maßstabgebenden Welte-Mignon-Einspielungen unsterblich bleibt, des Dänen Per Nørgård (geb. 1932), der zu den bedeutendsten Symphonikern unserer Zeit gehört, des Armeniers Alexander Arutiunian (1920-2012), Komponist eines der beliebtesten Trompetenkonzerte des Repertoires, dessen Schaffen ansonsten überhaupt nicht im Bewusstsein verankert ist, des ebenfalls aus Armenien stammenden Arno Babadjanian (1921-83), dessen Kammermusik dringend auch außerhalb seines Heimatlandes aufgeführt werden sollte, und von Alfred Cortot (1877-1962), der hier als Meister des Klavierarrangements präsentiert wird.

Nach dem Durchhören dieses CD-Katalogs würde ich mir am liebsten direkt die gesamte Kollektion – die auch künstlerisch meist auf hohem Niveau ist – zulegen. Es steht jedenfalls außer Frage, dass eine möglichst große Auswahl der hier vorgestellten Titel bald meine CD-Regale schmücken wird.

[Oliver Fraenzke, Mai 2017]

 

Und wieder ein neuer Komponist

Paul Le Flem (1881-1984): Complete Piano Works; Giorgio Koukl

Grand Piano GP 695; EAN: 7 47313 96952 4

Weder seinen Name je gehört, noch je etwas von seiner Musik! Aber das ist ja eine der allerschönsten Möglichkeiten des Mediums CD, dass sie zu immer neuen Entdeckungen Anlass bietet.

In diesem Fall Musik eines französischen Komponisten, der, in der Bretagne geboren, trotz seines biblischen Alters relativ wenige Werke hinterlassen hat. Dazu zählt seine wunderschöne Klaviermusik, die auf dieser CD vom tschechischen Pianisten, Cembalisten und Komponisten Giorgio Koukl hervorragend eingespielt wurde.

Das Booklet  gibt Auskunft über Le Flem, der zum Pariser Kreis  von Martinu, Alexander Tscherepnin, Tansman und Lourié gehörte, aber seine bretonischen Wurzeln in seiner Musik nie verleugnete und daraus viele seiner Melodien herleitete. Die frühesten Stücke stammen aus den Jahren 1896/97 und beziehen sich auf zwei bretonische Sagengestalten, die zu einer „Valse brétonne“ und zu einem „ Poème symphonique pour piano“ wurden.

Le Flems Tonsprache reicht von bretonischen Volksmelodien bis zu einem Stück für die rechte Hand alleine, das bis in fast atonale Bereiche vorstößt und 1961 geschrieben wurde.
Natürlich lässt sich der Einfluss seiner Zeitgenossen und Mitkomponisten Claude Debussy, Maurice Ravel und anderer nicht verleugnen, aber die Tonsprache von Paul Le Flem ist dennoch erstaunlich eigenständig und eine zauberhafte Bereicherung des Repertoires für Klavier.

Seine Komposition „Avril“ von 1910 lässt natürlich sofort an eine Komposition des Zeitgenossen John Foulds denken, der ein Jahr früher 1880 in England geboren wurde, dessen fulminant improvisatorisch überbordendes Stück „April- England“ allerdings 16 Jahre später entstand. Ob sich beide Komponisten später während Foulds’ Pariser Zeit kennengelernt haben? Jedenfalls klingt das Stück von Paul Le Flem mit seinen schwirrenden Bewegungen sehr viel impressionistischer als das Stück von Foulds, aber beide nehmen den Hörer unmittelbar gefangen. Wie die Klaviermusik des bretonischen Musikers mich unmittelbar anspricht, sehr bewegt ist und die Möglichkeiten der ganzen Klaviatur bravourös ausnützt. Was herauskommt, ist Klaviermusik vom Feinsten, die zu Hören enormes Vergnügen bereitet und mich neugierig macht auf sein symphonisches Werk oder auf seine Lieder. Sein kompositorisches Schaffen erlebte mehrere Unterbrechungen, auch durch den ersten Weltkrieg und dadurch, dass er jüngeren Komponisten wie etwa André Jolivet (1905-1974) Platz machte und ihnen sogar generös den Weg ebnete. Dass einer seiner Mitstudenten Edgard Varèse (1883-1965) war, sei am Rande erwähnt.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]