Schlagwort-Archive: Giovanni Guglielmi

Tartinis Violinkonzerte erstmals komplett

Dynamic CDS 7713 (29 CDs) (Vertrieb: Naxos)

ISBN: 8007144-077136

Tartini Cover CDS7713

Der Zauber Tartinis

Giuseppe Tartini: Sämtliche 125 Violinkonzerte

Giovanni & Federico Guglielmo, Carlo Lazari, L’Arte dell’Arco

Der in Padua wirkende Giuseppe Tartini (1692-1770) ist heute nicht nur als der zentral stilbildende Geiger seiner Zeit und als Komponist der nach wie vor meist in romantischen Arrangements zu hörenden ‚Teufelstriller’-Sonate bekannt. Die Kenner wissen auch, dass er die Kombinationstöne entdeckt hat, also jenes frappierende Phänomen, das zur Folge hat, dass, wenn in nicht zu tiefer Lage zwei Instrumente sauber zusammenspielen, der Stammton dieser beiden mitklingt (anders gesagt, sind die tatsächlich gespielten Töne Obertöne eines zu ihnen hinzutretenden Grundtons). Die meisten wissen auch, dass Tartini viele Violinkonzerte und –sonaten geschrieben hat, von denen allerdings kaum mehr als eine Handvoll ab und zu im Konzert zu hören sind. Was sehr bedauerlich ist, denn Tartinis Musik gehört in ihrer filigranen Sanglichkeit und dem manchmal fast schon romantisch sehnsüchtig anmutenden, intensiven melodischen Ausdruck zum schönsten, was für die Geige komponiert wurde, und auch zum dankbarsten. Das bei Vicenza ansässige Streicherensemble L’Arte dell’Arco hat seit 1996 in eineinhalb Jahrzehnten die Mammutaufgabe geleistet, sämtliche 125 Violinkonzerte Tartinis einzuspielen, und ich möchte so weit gehen, zu sagen, dass sich darunter kein minderwertiges Konzert befindet. Ich habe zwar meine Lieblinge, so ganz besonders A-Dur D 96 oder auch h-moll D 125, aber mit welchem ich mich auch beschäftige, werde ich sofort verzaubert von der nicht nur eleganten, sondern eben auch mit Innigkeit gesetzten Faktur, der gerade nicht banalen Einfachheit und Einprägsamkeit der Themen, dem glanzvollen Ausdruck, der damit eigentlich jeder Geige geschenkt wird, und auch der absoluten Balance der stimmig eingesetzten harmonischen Mittel (insgesamt auf einem vergleichbaren Level wie Corelli oder auch Veracini, und weit über der Routine eines Vivaldi stehend, und auch von insgesamt ausgeglichenerer Qualitätshöhe als Locatelli, Benedetto Marcello oder Albinoni). Zuerst und zuletzt ist es aber stets vor allem ein Fest für die Geige.

Die Soloparts haben die drei Konzertmeister von L’Arte dell’Arco gleichberechtigt untereinander aufgeteilt: Giovanni Guglielmo als spiritus rector, und die eine Generation jüngeren Federico Guglielmo und Carlo Lazari. Alle drei sind tadellose Geiger, wobei Giovanni Guglielmos Spiel in seiner Neigung zu fragil beflügeltem, vogelhaft jubilierendem Ausdruck am besten zu Tartini passt und auch die persönlichste Note transportiert. Dies soll jedoch nicht die Leistung der beiden Kollegen herabsetzen!

Stilistisch habe ich viele erhebliche Einwände gegen diese verdienstvollen und technisch respektablen Aufnahmen. So fehlt es allzu oft an der Vision, ein Grundtempo als Referenz für einen ganzen Satz im Auge zu behalten, und die merkwürdigsten Schwankungen aufgrund wechselnder Faktur sind festzustellen. Am Schluss eines jeden Satzes kommt vor dem letzten Ton der obligatorische Schluckauf: ein Stocken, Pause, Fine. Das ist lächerlich, auch wenn viele hoch angesehene Barockmusiker diese Marotte pflegen, weil sie anders zu keinem plausiblen Ende zu kommen glauben. Dabei muss man einfach nur mehr über die Kadenzspannungen wissen und verstehen, dass Betonungen nicht auf die schwere Zeit gemacht werden müssen. Dann fehlt mir, typisch für fast alle größeren Gesamtaufnahmeprojekte, der individuelle Zugang zu den einzelnen Sätzen. Da hat sich nun doch, verständlich aber bedauerlicherweise, eine Tartini-Routine eingeschlichen, die interessant zu studieren sein mag für die, die diese Musik ohnehin sehr schätzen, doch kaum in der Lage ist, einem unbefangenen Hörer wenigstens gelegentlich das Gefühl von etwas wahrhaft Außerordentlichem zu vermitteln. Viele schnelle Sätze laufen einfach in einem pauschalen Allegro-Tempo ab, das jedenfalls nicht in einmaliger Weise aus dem jeweiligen Tonsatz gewonnen ist. Und in den langsamen Sätzen wird sehr unglücklicherweise des öfteren ein viel zu zügiges Tempo angeschlagen, mit viel zu wenig Gestaltung auf den gehaltenen Tönen, so für mich ganz besonders enttäuschend im zweiten Satz des Konzerts D 96, den ich, obwohl er zu meinen Favoriten zählt, kaum wiedererkannt habe.

All diese kritischen Anmerkungen ließen sich zu fast jeder anderen Aufnahme im sogenannten historisch informierten Stil unserer Zeit machen, was also Fans dieser Spielweise in keiner Weise davon abhalten sollte, hier zuzugreifen – zumal zu einem sehr moderaten Preis und angesichts von Musik, die keinerlei leere Routine oder peinlichen Oberflächlichkeiten kennt, sondern immer von Inspiration durchtränkt ist. An mehreren unterschiedlichen Orten aufgenommen, ist das Klangbild im Durchschnitt sehr klar, reich und transparent. Der Booklettext ist auf ein Minimum reduziert, doch im Netz gibt es viel weitere Literatur, und Bücher über Tartini sind auch keine Seltenheit.

[Christoph Schlüren, September 2015]