Eugène Ysaÿe (1858-1931)
Sechs Sonaten für Violine solo op. 27
Frederieke Saeijs
Linn Records CKD536
6 90162 05362 4
Als der Komponist und überragende Geiger seiner Generation Eugène Ysaÿe den jungen ungarischen Geiger Joseph Szigeti Bach spielen hörte, war das der entscheidende Impuls für die Komposition seiner sechs Solosonaten op. 27. Natürlich bezog er sich dabei auch auf die sechs Bach’schen Solo-Sonaten und -Partiten, allerdings verwendete er in den 1923-24 entstandenen Werken alle bis dahin bekannten und von ihm selber bis an die Grenzen des damals Möglichen ausgeloteten musikalischen und kompositorischen Mittel. Jede einzelne Sonate ist einem bedeutenden zeitgenössischen Geiger gewidmet und auf dessen Eigenarten zugeschnitten. So entstand ein Kosmos, der bis heute, und heute mehr denn je, Geiger aller Schattierungen herausfordert.
Noch vor kurzem war mir ein Abend mit Violine allein schwer vorstellbar – aber seit einem Konzert mit dem jungen Geiger Lucas Brunnert mit Kompositionen von Heinz Schubert, Eduard Erdmann, Eugène Ysaÿe und Sergej Prokofieff bin ich ganz anderer Meinung – auch wenn so ein Solo-Abend oder in diesem Fall eine Solo-CD eine ganz besondere Herausforderung darstellt, nicht nur an die Musikerin, auch an den Hörer.
Die holländische Geigerin Frederieke Saeijs spielte diese sechs Solo-Sonaten für Linn auf einer Guarneri-Geige von 1725 ein. (Sie schreibt auch, mit welchem Bogen – einem Eugène Sartory – sie spielt, eine Seltenheit, aber sehr begrüßenswert.) Und Saeijs verfügt über die geigerischen, aber auch die musikalischen und geistigen Möglichkeiten, um diesen gigantischen Herausforderungen adäquat zu begegnen.
Vom zartesten Pianissimo bis zum wilden Ausbruch im Fortissimo stehen ihr alle Klangschattierungen zur Verfügung, aber was noch wichtiger ist: Nie geht der Zusammenhang verloren, jede Sonate ist eingebunden in einen großen gestalterischen Bogen, das Ende ist im Anfang enthalten, der Bogen schließt sich wieder.
Zu den einzelnen Sonaten:
Sonate op. 27 No. 1 – gewidmet Joseph Szigeti in g-moll mit den Sätzen Grave (Lento assai), Fugato (molto moderato), Allegretto (amabile) und Finale con brio (allegro fermo).
Vor mir liegen die Noten, so dass neben dem Hören auch das Sehen der Strukturen hilft, diese so avancierte und ungeheuer komplexe Musik zu begreifen. Denn mit dem Hören allein – vor allem, wenn man die Sonaten zum ersten Mal hört – ist es hier nicht getan. Natürlich ist der zweite Satz, das Fugato, am leichtesten zu verfolgen, was an der polyphonen Struktur liegt, die sich leicht mitvollziehen lässt. Aber immer wieder erstaunt doch der fast grenzenlose Reichtum – und die Beherrschung der komplexen Kompositionen durch die junge Geigerin (geboren 25. Januar 1979) – der Tonsprache Eugène Ysaÿes. Wo es doch nur 12 Halbtöne in einer Oktave gibt, auch wenn der Umfang der Geige über mehr als vier Oktaven gebietet. Und jede der sechs Solosonaten ist einem anderen zeitgenössischen Geiger und seiner Art zu spielen verpflichtet.
Sonate op.27 No. 2 – gewidmet Jacques Thibaud in a-moll mit den Sätzen Prélude – Obsession (poco vivace), Maliconia (poco lento), Danse des ombres (Sarabande – lento), les furies (allegro furioso).
Diese Sonate erschließt sich – nicht zuletzt wegen der Bach’schen Zitate im ersten Satz – leichter, was sicher auch an den Titeln der einzelnen Sätze liegt. Sie deuten ja eine Art Programm an, nehmen sicher auch Bezug auf die Art des Thibaud’schen Geigenspiels, von dem im Programmheft – leider nur in Englisch, aber sehr aufschlussreich – der rumänische Geiger George Enescu (1881-1955) aufs Äußerste schwärmt: „Mir tut es leid für alle jungen Geiger, die Thibaud nie hören konnten…“
Sonate op. 27 No. 3 – gewidmet George Enescu in d-moll in einem einzigen Satz: Ballade (Lento molto sostenuto, molto moderato quasi lento, allegro in tempo giusto e con bravura, tempo poco più vivo e ben marcato).
Mit einem geheimnisvollen Rezitativ beginnt diese Sonate, die sich über eine Melodie im Fünfviertel-Takt in ein Allegro und zum Schluss in ein überschäumendes Tempo steigert. Erstaunlich, was an Klängen aus so einem „kleinen“ Instrument wie einer einzelnen Geige sich entfalten kann, wenn eine Könnerin wie Frederieke Saeijs souverän über ihr Instrument und die Komposition verfügt. In allen Bereichen, pianississimo fast an der Hörgrenze bis schnellst im Fortississimo stehen ihr und ihrer Guarneri-Geige alle Mittel aufs Überzeugendste zu Gebote – was mich beim wiederholten Hören diesem „Geigen-Kosmos“ näher und näher bringt. (Und nichts Geringeres wollte Ysaÿe mit diesen sechs Solosonaten schaffen.) Es ist die Bekanntschaft mit einer Musik, von deren Existenz ich bis dahin nur wusste, aber bis auf die vierte Sonate noch nichts gehört hatte.
Sonate op. 27 No. 4 – gewidmet Fritz Kreisler in e-moll mit den Sätzen Allemanda (lento maestoso), Sarabande (quasi lento) und Finale (presto ma non troppo).
Fritz Kreisler, auch heute noch als d e r Wiener Geigen-König bekannt und geliebt mit seinen höchst eingängigen Kompositionen, die damals oft für die Spielzeit einer Schellack-Scheibe ausgelegt waren, gab dieser vierten Sonate die Patenschaft, was sich in ihrem kompositorischen Kalkül durchaus bemerkbar und hörbar macht. Auch hier zieht Ysaÿe alle Register seines kompositorischen Könnens, schnellste Arpeggien bis in die allerhöchsten Lagen, Doppelgriffe auf allen Saiten, aber auch langsame melodische Abschnitte in der Sarabande und natürlich alle auf der Geige möglichen Stricharten geben dieser Sonate ihren Charakter.
Sonate op. 27 No. 5 in G- Dur – gewidmet Mathieu Crickboom mit den Sätzen L’aurore (Lento assai) und Danse rustique (allegro giocoso molto).
Mathieu Crickboom war der zweite Geiger im Ysaÿe-Quartett, und so ist sein Name nicht nur als Geiger, sondern auch als Widmungsträger der fünften Solosonate erhalten geblieben. Dass er als zweiter Geiger durchaus solistisch tätig war oder sein konnte, merkt man diesem Stück an, das ganz einfach mit der leeren Quinte G-D beginnt; aus dieser „Einfachheit“ entwickelt sich eine simple Melodie, die dann aber mit großen Arpeggien über den ganzen Tonumfang der Geige ausschwingt. Dem zweiten Satz – im Fünfviertel-Takt – liegt ein kleines tänzerisches Thema zugrunde, das sich ins dreifache Forte und mit vierstimmigen Akkorden steigert. Im Mittelteil, bevor das Thema noch einmal einsetzt und in einem schnellen Lauf übers gesamte Griffbrett zum höchsten g und auf der tiefen G-Saite endet, werden verschiedene Möglichkeiten auch mit dem Daumen der Bogenhand zu spielender Läufe gezeigt.
Sonate op.27 No.6 in E-Dur – gewidmet Manuel Quiroga mit dem einzigen Satz Allegro giusto non troppo vivo.
Diese Sonate, die der Widmungsträger – wie das Booklet informiert – nie selbst öffentlich gespielt hat, macht aus ihrem spanischen Einfluss – Quiroga war Spanier – keinen Hehl, selbst der Tango wird im zweiten Teil des einsätzigen Stückes „bemüht“, was das ganze Stück natürlich etwas leichter zugänglich für die Hörerin, den Hörer macht als zum Beispiel op. 27 No. 1.
Auch auf diese Art kann man etwas für seinen Nachruhm tun, denn ohne Ysaÿes letzte Solosonate wäre der hochbegabte Manuel Quiroga heute wohl längst vergessen. Terzenläufe und Läufe in Oktaven, rhythmisch Vertracktes, Anklänge an spanische Folklore oder argentinischen Tango ertönen, und im Fortissimo und mit zwei Sechzehntel-Läufen bis in die höchsten Lagen und zum tiefen e – wie sich das für einen Grundton in E-Dur gehört – geht dieses Geigen-Universum zu Ende.
Selbst wenn alle möglichen Dissonanzen die Tonalität ab und an aufzulösen scheinen, bewegen sich die Stücke alle im tonalen Rahmen, was die Tonartenbezeichnungen am Beginn jeder Sonate unterstreichen. Auch als in anderen Musikbereichen die Tonalität längst verpönt war und die Gleichberechtigung aller 12 Halbtöne gefordert und erstrebt wurde, ist es nach den sechs Solopartiten für Geige von Johann Sebastian Bach (1685-1750) dem Komponisten und Geiger-Zar (diesen Ehrennamen bekam Ysaÿe in Russland zuerkannt) gelungen, einen ebensolchen Kosmos zu komponieren, an dem sich seit seiner Entstehung Geigerinnen und Geiger aller Schattierungen messen und wie im vorliegenden Fall die holländische Geigerin Frederieke Saijs in souveräner Gelassenheit dieses Riesenwerk vor unseren Ohren und Augen entstehen lassen kann. Wie schön, dass diese wunderbare Musik damit für mich kein unbekanntes Neuland mehr ist.
[Ulrich Hermann, Januar 2016]