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[Rezensionen im Vergleich:] Beispielhafte Klanglichkeit mit Tiefenwirkung

Im Rahmen der Reihe »Winners & Masters« gab Lucy Jarnach am letzten Samstag (24.9. 2016) einen Klavierabend mit Werken von Schubert, Grieg, Jarnach und Greif und überzeugte durch hochdifferenzierte Klanglichkeit, die den an Fallstricken reichen Werken die nötige Tiefenschärfe verlieh.

So unprätentiös wie die Pianistin Lucy Jarnach die Bühne betritt, so wenig benötigt ihr Klavierspiel irgendwelche „Mätzchen“, um ein äußerst anspruchsvolles Programm mitreißend zu bewältigen. Einen Klavierabend mit Schuberts sperriger, großer G-Dur-Sonate (op.78, D. 894) zu beginnen, erfordert Mut und Konzentration. Bei allem Gefälligen, das bei Schubert streckenweise das Ohr des Zuhörers als Oberfläche umschmeichelt, ist die eigentliche Herausforderung, die vielen versteckten Untiefen, die uns der Komponist immer fast gleichzeitig unterjubelt und die oft in kleinsten Details stecken, klanglich deutlich herauszuarbeiten. Und zwar ohne dass die Formkonzepte – in diesem Falle der Sonate – in ihrem Fluss zu absichtlich gestört werden, was dann zudem die berüchtigten schubertschen „Längen“ in Einzelereignisse, auf die quasi mit dem Finger gezeigt wird, zerfasert. Am Tag zuvor hatte ich mir noch die 1987er Aufnahme von Alfred Brendel angehört (der von 2003 bis 2009 mit Lucy Jarnach arbeitete), und war überrascht davon, wie schwer ihm dies anscheinend ausgerechnet bei dieser Sonate gefallen ist. Hatte ich Brendel mit den drei letzten Sonaten (D. 958-960) mehrfach begeisternd im Konzert gehört, so irritierten mich bei der G-Dur-Sonate merkwürdige, allzu „demonstrative“ Rubati, unklare Akzente und eine nicht konsequent abgestufte Dynamik – bereits im wirklich langen Kopfsatz. Bei Lucy Jarnach ist nach der ersten Seite klar, dass sie Schubert völlig vertraut und allein durch ihre makellose Anschlagskultur und eine diskrete, aber vollkommen adäquate Pedalbehandlung auch die kleinsten Differenzierungen, nicht nur harmonischer Art, bewältigt. Sie überzeugt mit einem warmen, auch noch im Pianissimo homogenen Klang, der weder vulgär basslastig noch spitz in der Höhe ist, dort je nach Anforderung luzid oder brillant. Ihr Artikulationsspektrum reicht vom gesanglichen Legato bis zu trockenem, detailreichen Stakkato, ohne jemals zu verschmieren oder den melodischen Zusammenhang zu verlieren. Das erklingt alles so natürlich und dabei spannend, dass der Verzicht auf alle Wiederholungen, die die Partitur anzeigt, vielleicht nicht nötig gewesen wäre. Die ersten beiden Sätze werden hier zu staunenswerten Klangwundern. Im Menuetto scheint sich Jarnach anfangs ein so langsames Tempo zuzutrauen, dass man es richtig „auf drei“ hätte empfinden können. Das hält sie nicht wirklich durch; immerhin kann sie das Trio aber im gleichen Tempo nehmen – Brendel bremst im Trio und macht es dadurch in seiner Simplizität geradezu lächerlich. Auch die oft überraschende Dynamik versteht die Pianistin richtig. Beim Finale bringen sie einige kleinere Unsicherheiten beim Auswendigspiel dann leider etwas aus dem Konzept – aber insgesamt ist dies eine Schubert-Interpretation auf allerhöchstem Niveau.

Nach der Pause folgen drei höchst interessante Werke, denen allen jeweils ein Lied als Grundsubstanz dient – und die von der Künstlerin kurz anmoderiert werden, was wegen des fehlenden Programmhefts dankbar aufgenommen wird. Die leider viel zu wenig gespielte Ballade g-moll, op. 24 von Edvard Grieg – eigentlich ein Variationssatz – erfordert enorme Virtuosität, mehr als seine Sonate oder sogar das Klavierkonzert. War Komponieren als Therapie die Initialzündung für dieses Werk, kann man die Krise, in der sich der Komponist um 1875 befand, geradezu nachempfinden: Hier ist alles auf wackeligem Boden, gewagt, aber dabei unkonventionell und innovativ. Gegen Schluss gibt es eine wahnwitzige Steigerung ins Delirium bzw. Nirgendwo, die auf einer herausgemeißelten Es-Oktave als lang ausgehaltenem Vorhalt endet, bevor nochmals ganz verhalten das Thema wiederkehrt. Gerade bei solchen Kontrasten ist Lucy Jarnach in ihrem Element und kann deren Wirkung durch kluge Disposition des Vorausgehenden souverän aufs Publikum übertragen. In den auch rhythmisch schwierigen, schnellen Variationen gewahrt sie völlige Durchsichtigkeit.

Dass die Künstlerin eine ganz besondere Beziehung zum heute fast vergessenen kompositorischen Werk ihres Großvaters Philipp Jarnach hat, verwundert nicht. Die Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 erweist sich als höchst intelligente, keineswegs rückwärtsgewandte und pianistisch anspruchsvolle Komposition, mindestens auf dem Niveau etwa eines Paul Hindemith, die auch beim Publikum offensichtlich gut ankommt. Hier passt jedes Detail. Lucy Jarnach endet dann aber noch mit einem Schocker: In Deutschland immer noch völlig unterschätzt, hat der viel zu jung verstorbene französische Komponist Olivier Greif (1950-2000) ein beachtliches pianistisches Oeuvre hervorgebracht, darunter einige großformatige Sonaten. Man kann diese Musik getrost der musikalischen Postmoderne (eh‘ ein Passepartout-Begriff) zurechnen. Jedenfalls vertraut Greif noch der Tonalität, auch wenn er sie regelmäßig durchbricht – dann aber bedingt durch musikalischen Ausdruck, weniger durch kaltes Kalkül. Ein krasses Beispiel ist der Satz Wagon plombé pour Auschwitz aus der Sonate «Le rêve du monde» (1993). Die schrecklichen Assoziationen, die schon der Titel evoziert, werden hier musikalisch überzeugend mit recht einfachen Mitteln – wie man sie eigentlich schon aus dem Schluss des Trauermarsches von Beethovens Eroica kennt – zur gnadenlosen, apokalyptischen Gewissheit. Das ist aber eben nicht plump-plakativ, sondern absolut berührend. Lucy Jarnach scheut sich hier nicht vor extremen dynamischen Kontrasten, die nötig sind, um die Brutalität, mit der das zugrunde liegende Synagogenlied – und offensichtlich nicht nur das! – vernichtet wird, zwingend zu verdeutlichen. Ergriffenheit beim Publikum nach dieser Darbietung, die auch mit „Fast zu ernst“ aus Schumanns Kinderszenen als Zugabe nicht mehr zu relativieren ist. Dafür dann verdient großer Applaus.

Für derart beseeltes, klangschönes Klavierspiel und solch kluge und überraschende Programme jenseits ausgetretener Pfade sollte es im immer noch klavierverrückten München ein größeres Publikum geben, als in den Kleinen Konzertsaal im Gasteig passt. Sicherlich nicht nur mir wäre es eine echte Freude, diese junge Künstlerin auch hier noch öfters hören zu dürfen – vielleicht auch einmal mit einer kompletten Greif-Sonate?

[Martin Blaumeiser, September 2016]

Frauenrollen und Frauengestalten

Carattere di Donne
Frauenrollen und Frauengestalten bei Schubert, Rossini und Verdi

Cornelia Lanz, Mezzosopran

Stefan Laux, Klavier

Hänssler Classic
HC16019
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Merkwürdig! Sonst wird üblicherweise bei einer Aufnahme für Gesang und Klavier zuerst die singende Person genannt, dann der „Begleiter“ oder die „Begleiterin“. Nicht so in diesem Booklet: Hier lässt sich der Pianist Stefan Laux ausgiebig und exklusiv über die Wichtigkeit der Klavierbegleitung und des Klavier bei Schubert aus, dann kommt – nach den notwendigen Texten, denn wie üblich verstünde man den gesungenen Text ohne Beilage kaum – dazu nachher mehr! – der ausführliche Lebenslauf des Begleiters, bevor am Schluss die eigentliche Hauptperson der CD, die Sängerin Cornelia Lanz, zu ihrem Recht kommt. Wobei ihre Beschreibung wieder einmal –wie so oft – primär aus name-dropping besteht, mit wem sie schon berühmterweise zusammen sich hat hören lassen und welche Berühmtheit sie folglich eigentlich ist.  Das also ist der erste Eindruck, der sich leider beim Anhören nur bestätigt: Die Klavierbegleitung drängt sich bei fast allen Schubert-Liedern ungebührlich in den Vordergrund, obwohl sie – bei allem wohlverdienten Anspruch – doch eben der „Begleitung“ des Sängers, der Sängerin zu dienen hat; außer an den Stellen – die es natürlich gibt –, wo das Klavier fortführt, entscheidend kommentiert oder ergänzt.

Dass die sehr genauen Dynamik-Vorschriften und Tempovorgaben  – wobei zu berücksichtigen ist, dass die Musiker von damals keine höheren Geschwindigkeiten kannten als ein galoppierendes Pferd, und weder Radio noch TV noch CD oder sonstiges Entertainment hatten –  vom Pianisten und der Sängerin oft nicht oder nur teilweise beachtet werden, ist zudem fragwürdig – es gibt bei Schubert, vor allem, wenn man die damaligen Klaviere mit  berücksichtigt, vom ppp bis zum fff alle Stufen mit sämtlichen Zwischenwerten,  auch bei den Tempoangaben ist Schubert ungemein vielseitig und genau, aber das scheinen für die Aufführenden nur Marginalien zu sein. Und natürlich ist beim heutigen Gesangsunterricht die Stimme das Wichtigste, die Poesie oder das Wort sind zumindest sekundär, wenn nicht völlig ausgeklammert. Aber Musik und Poesie sind Geschwister, und vor allem beim Lied bilden  die beiden im idealen Fall zusammen einen Gipfel und nicht einen Berg, bei dem die eine Flanke, nämlich die Musik das Übergewicht haben soll, sonst entsteht statt eines Gipfels nur eine seltsame Abplattung. Hans Gal beschreibt in seinem Buch „Schubert und die Melodie“ (dem meines Erachtens besten Buch über Franz Schubert) solch ein „Gipfelerlebnis“ als Ziel jeglichen Liedgesangs. Die Sentenz „prima la musica è poi le parole“ mag bei der Oper eine gewisse Berechtigung haben, aber beim Lied ist diese Reihenfolge völlig verfehlt. Man bedenke nur, wie normalerweise vom Text die Energie zur Vertonung ausgeht, wie also das Gedicht das Primäre ist, dann gesellt sich die Musik dazu, im allerbesten Fall – wie eben bei Schubert und ähnlichen Liedmeistern – als gleichberechtigte Schwester, aber nicht als übergeordnete „Herrscherin“. Und auch heute noch machen Sänger wie Herr Gerhaher deutlich, wie solch ein Gipfelerlebnis sich anhören kann.

Im Großen und Ganzen ein zwar interessantes Thema für eine Lieder-CD, aber vom Begleiter und auch von der Sängerin kein „Gipfelerlebnis“!

[Ulrich Hermann, März 2016]

Ein Programm, zwei Dirigenten

Das erste Programm der Munich Young Classical Players wird gleich an drei kleinen Spielstätten in München dargeboten, am 6. März in der Moor Villa, am 10. März im Bürgersaal Fürstenried sowie am 17. März im Kleinen Theater Haar. Für The New Listener höre ich die zweite Vorstellung mit einem Programm bestehend aus Joseph Haydns Ouvertüre in D Hob. Ia:7 und seiner Symphonie Nr. 87 in A-Dur Hob. I:87, der Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 von Wolfgang Amadeus Mozart und der 5. Symphonie in B-Dur D 485 von Franz Schubert. In der ersten Hälfte wird das Dirigat von Sergey Lunev übernommen, die Symphonien von Haydn und Schubert leitet Maximilian Leinekugel.

Die Munich Young Classical Players wurden dieses Jahr erst gegründet von den beiden Dirigenten Sergey Lunev und Maximilian Leinekugel aus Studenten der Münchner Musikhochschule und anderen Musikern mit (beziehungsweise: in) hoher musikalischer Ausbildung. Ziel ist es, auch in kleinen Konzerthäusern Musik auf spieltechnisch hohem Niveau aufzuführen – Zentrum dabei soll vorerst München bleiben.

Spieltechnisch liegt die Qualität tatsächlich recht weit oben, die Musiker sind größtenteils auf einem beachtlichen Niveau und halten trotz der kurzen Zeit, die das Kammerorchester besteht, erstaunlich gut zusammen. Die Besetzung ist ziemlich klein, es gibt nur je drei erste und zweite Geigen, die Kontrabasssektion besteht gar aus nur einem einzigen Spieler, dafür ist ein ziemlich vollständig besetzter doppelter Bläsersatz vorhanden. Diese Ungleichheiten der Aufstellungen werden jedoch gut kaschiert, so dass das Verhältnis erstaunlich ausgewogen erscheint. Der Klang ist entsprechend recht trocken, da sich drei Geigen pro Stimme schlecht mischen, was durch große Präsenz und größtenteils reine Intonation wettgemacht wird. Besonders hervorzuheben ist zweifelsohne der grandiose Kontrabassist, der dem ganzen Streicherapparat eine solide Klanggrundlage schenkt, sein spiel ist exakt und sauber, auch gehört er zu den wenigen Streichern, die das Vibrato einmal vernünftig einsetzen (ein übermäßiges Vibrato ist bekanntlich der ständige Begleiter von vor allem hohen Violinen und Celli, letztere meist mit noch größerem und störenderem Ambitus). Auch der gesamte Bläserapparat glänzt durch Präzision und durch einen gediegenen Klang.

Nach der kurzen, aber typisch Haydn’schen Ouvertüre in D wagt sich das frisch gegründete Orchester unter Leitung von Sergey Lunev direkt an Mozarts Symphonie Nr. 40 in g-Moll, ein vielgespieltes und somit mit hohen Erwartungen versehenes Stück mit hohen technischen und inhaltlich-musikalischen Anforderungen. Dieses Werk des späten Mozart wird durch seinen dunklen und teils doppelbödig erscheinenden Charakter ausgezeichnet, es wirkt nur bei genauestem Verständnis von Dynamik, Phrasierung und Tempi. Sergey Lunev dirigiert es vor allem aus den Unterarmen heraus, dennoch mit ausladenden Gesten, und spornt das Orchester damit immer wieder an; seinem Schlag ist leicht zu folgen. Das Tempo gerät jedoch immer wieder ins Bröckeln und weist Inkonsistenzen auf, das Andante ist um einiges zu schnell, dafür fällt die Geschwindigkeit im Trio des Menuetts rapide ab. Das eh schon schnell begonnene Finale (eine Herausforderung vor allem für die Streicher) wird immer noch rasender, was es den Kammerorchestermusikern nicht einfach macht, da noch mitzuhalten. Obgleich die hohen Fähigkeiten der Musiker hier deutlich werden, macht das Stück stellenweise den Eindruck, nur auf Durchkommen geprobt zu sein. Einen schönen Klang macht dafür vor allem der Kopfsatz her, und auch das Allegretto-Menuett gerät knackig und frisch.

Nach der Pause steht Maximilian Leinekugel am Dirigentenpult. Der 1995 geborene Student, der bereits zwei Jahre Gaststudent in Dirigieren an der Musikhochschule war, leitet Schubert und erneut Haydn. Die Haydn-Symphonie avanciert zum Höhepunkt des Abends, hier wird die intensive Arbeit auch an musikalischer Struktur, dem atmenden und pulsierenden Bogen und vor allem an nuancierter Dynamikabstufung deutlich. Leinekugels Leitung geschieht hauptsächlich aus dem Oberarm, seine Gesten sind ausgearbeitet und sehr schwungvoll mit vielen kleinen Schnörkeln. Er geht viel mehr als Lunev auch aus seiner aufrechten Position heraus, mal krümmt er sich und geht in die Knie, mal bewegt er sich förmlich auf sein Ensemble zu. Die Orchestermusiker folgen gerne seiner Einladung zur aktiven Gestaltung dieser Symphonie und holen das beste heraus, was einem so frisch gegründeten Ensemble nur irgend möglich ist.

Abschluss des Abends ist die fünfte Symphonie von Franz Schubert, ein Werk von subtiler Komplexität und Vielschichtigkeit, das von den meisten leider unterschätzt und fast immer sehr oberflächlich dargeboten wird. Wahrhaftig wirkt das Werk bereits nach kurzer Übezeit, doch ein kurzer Blick in die Partitur genügt, um festzustellen, wie viel mehr doch dahinter steckt. Auch hier wird wieder viel Arbeit an Details sichtlich, wenn auch das Orchester teilweise an seine Grenzen stößt mit den hohen Anforderungen Schuberts, beispielsweise den Anfang tatsächlich Pianissimo zu spielen, die Stimmpolyphonie im zweiten Satz glaubhaft zur Geltung zu bringen oder auf kürzeste Distanz viele Sforzati einzeln aus der Melodie herauszumeißeln. Doch werden gerade die Randsätze sehr prägnant genommen, und auch das Allegro molto-Menuett hat beschwingten Charme.

Die jungen Musiker der Munich Young Classical Players sind auf einem hohen Niveau und werden sich unter guter Leitung sicherlich sehr bald zu einem Kammerorchester mit starkem Zusammenhalt und Liebe zum Detail entwickeln können. Sie schlagen bereits bei ihren ersten Konzerten einen ausgezeichneten Weg ein, den fortzuführen sich lohnen wird.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Wiener Klassik mit der Wilden Gungl

Samstag, 5. März 2016 Herkulessaal

Wiener Klassik

Marie-Luise Modersohn, Oboe
Michele Carulli, Dirigent
Symphonieorchester Wilde Gungl München

Franz Schubert (1797-1828)
Ouvertüre C-Dur op.26 D 644
zu „Die Zauberharfe“ (später „Rosamunde“)
Andante – Allegro vivace

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Konzert für Oboe und Orchester
C-Dur KV 314

Allegro aperto
Adagio non troppo
Rondo Allegretto

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Symphonie Nr. 4
B-Dur op. 60

Adagio – Allegro vivace
Adagio
Allegro vivace
Allegro ma non troppo

Beethovens „Vierte“ innerhalb eines Jahres drei Mal in München? BR-Symphonie-Orchester mit Herbert Blomstedt, Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora, und nun – im vollbesetzten Herkulessaal der Residenz die „Wilde Gungl“ unter ihrem neuen Chefdirigenten Michele Carulli.  Dazu vor der Pause Schuberts Ouvertüre zu „Rosamunde“  und Mozarts Oboenkonzert KV 314, das ganze Konzert unter dem Titel „Wiener Klassik“ Ein hoher Anspruch also, man durfte gespannt sein…
Dass Michele Carulli nicht nur ein exzellenter Solist auf der Klarinette ist, hatte er im Sommerkonzert im Brunnenhof schon glänzend bewiesen. Aber was er mit dem Orchester in den vergangenen Monaten ge- und erarbeitet hat, das war mehr als deutlich zu hören. Mit „anima e corpore“ hatte ich damals geschrieben, um sein Dirigieren zu charakterisieren. Allerdings hatte er diesmal alle Hände frei, und schon beim ersten Stück, der scheinbar allzu bekannten Ouvertüre zu Schuberts „Rosamunde“, bekam man den Eindruck, dass dieses Stück nicht nur melodienselig daherkommt, sondern eben auch sehr temperament- und kraftvoll. Schubert hatte – wie im sehr informativen Programmheft zu lesen war – sein Können schon vorher an zwei Ouvertüren italienischen Typs erprobt, kein Wunder also, dass diese Musik voller Elan und Feuer ist.
Und noch etwas war mir beim Zuhören aufgefallen: Waren die Streicher- und zwar alle von hoch bis tief –  wirklich so weich und dennoch intensiv, wie es mir vorkam? Nicht, dass sie in den vergangenen Konzerten nicht gut gespielt hätten, aber da war etwas Neues zu hören, etwas Verändertes!
Beim Mozart’schen Oboenkonzert würde man ja weitersehen!
Als die junge Solistin in ihrem langen roten Kleid die Bühne betrat, hatte sich das Orchester ein wenig auf „Mozart-Maß“ verkleinert.  Marie-Luise Modersohn ist seit 2005 Solo-Oboistin der Münchner Philharmoniker. Schon im ersten Satz, dem Allegro aperto, wurde deutlich: das Orchester – trotz seines martialischen Namens „Wilde Gungl“ – war alles andere als wild, sondern begleitete die Solistin mit der größtmöglichen Delikatesse. Es wurde eine Sternstunde. Das Spiel der Oboistin war samtweich und melodisch, nie schrill oder unangenehm näselnd, sondern klangschön und hingebungsvoll, so schön, wie Mozarts Musik eben nur sein kann. In aller aufmerksamsten Gelassenheit bescherte das Orchester unter seinem Dirigenten Michele Carulli den drei Sätzen das Silbertablett, wie eine gute Begleitung eben sein kann und sollte. Natürlich weiß Carulli als Bläser, wie sich ein Solist die ideale Begleitung wünscht und vorstellt. Das – vor allem natürlich im klangschönsten singenden zweiten Satz – gelang ausnehmend gut, dazwischen immer wieder die kleineren oder größeren Kadenzen der Solistin, einfach wunderschön. Tosender Beifall, den Marie-Luise Modersohn mit einer Zugabe – einem der fünf Stücke für Oboe solo von Benjamin Britten (1913-1976) nach Metamorphosen von Ovid, nämlich „Pan“ – „belohnte“.  Und es war wirklich etwas Neues im Klang der Streicher, wie deutlich wurde.
Nach der Pause dann die vierte Symphonie von Ludwig van Beethoven, die Schumann ja einmal „eine griechisch schlanke Maid zwischen zwei Nordlandriesen“ genannt hat.
Aber was die „Wilde Gungl“ und Michele Carulli da zu Gehör brachten, war alles andere als ein Zwischenspiel zwischen der Dritten (Eroica) und der Fünften (Schicksalssymphonie). Schon der Beginn des ersten Satzes – geteilt in ein einleitendes Adagio und ein heftiges Allegro vivace – machte klar, dass hier Beethoven und nicht etwa ein anderer Symphoniker zu hören war. Diese Energie, diese unmittelbaren Abbrüche und Aufschwünge, diese Übergänge vom Energischsten zum fast unbewegt Ruhevollen, seine ausgefeilte Melodik und die das ganze Orchester souverän einsetzende Instrumentation und Harmonik, das ist stets aufs Neue bewegend und erhebend.  Der zweite Satz schwelgt natürlich in himmlischen Gefilden, was mich immer wieder davon überzeugt, dass Beethoven eben doch einer der größten Melodiker war und ist.
Die rhythmischen Vertracktheiten des dritten Satzes sind für ein klassisches Scherzo noch immer verwirrend und Rätsel aufgebend: Ist es nun ein Menuett oder eben doch ein „Zwiefacher“? Jedenfalls entfesselte der Dirigent mit all seinem Temperament und seiner Energie das gesamte Potential an Klang und Rhythmus in diesem Satz.
Konnte noch mehr kommen? Ja, es kam ein Finale von überschäumendem Temperament, wie es im Programmheft hieß. Und das kam dann auch, Michele Carulli verdeutlichte mit all seinem Einsatz, welch eine ungeheure Energie diese Beethoven’sche Musik in sich birgt und wie man sie – das Orchester „Wilde Gungl“  und sein Dirigent  – beschwört und erlebbar macht.
Riesengroßer Beifall, Bravo-Rufe, die eine Zugabe nach sich zogen, nämlich nochmal die Reprise des vierten Satzes, mit einer kurzen Unterbrechung, in der Michele Carulli auf die Bedeutung der Beethoven’schen Musik hinwies und sich sehr eindrucksvoll bei „seinem“ Orchester bedankte. Wenn das so weiter geht, wächst da ein nächstes – nicht mehr zu überhörendes und übersehendes – großes Orchester in der Münchner Musik-Landschaft heran, und das kann dieser Stadt und ihren Zeitungen ja nur gut tun.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Klassik und Klassizistik im Prinzregententheater

Am Abend des 21. Februar 2016 spielt Jan Lisiecki im Münchner Prinzregententheater zusammen mit dem Zürcher Kammerorchester unter Leitung seines Konzertmeisters Willi Zimmermann die Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467 von Wolfgang Amadeus Mozart. Außerdem gibt das Orchester Mozarts Marsch D-Dur KV 249 sowie die fünfte Symphonie B-Dur D 485 von Franz Schubert. Der Veranstalter ist MünchenMusik.

Diese beiden Werke sind untrennbar miteinander verbunden, trotz ihres extrem divergierenden Charakters: Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467. Die zwei Konzerte wurden 1785 innerhalb weniger Wochen hintereinander komponiert und werden bis heute auf etlichen Aufnahmen kombiniert, so auch auf dem Debütalbum des damals 17-jährigen Jan Lisiecki, der heute kurz vor seinem 21. Geburtstag steht. Das C-Dur-Konzert funkelt in strahlender Ausgelassenheit, einem strukturell komplexen Kopfsatz folgen zwei durchweg inspirierte und stringente Sätze, von denen vor allem der Mittelsatz große Beliebtheit erlangt hat. Ganz anders das düstere und unheilverkündende d-Moll-Konzert, das jeden Ausbruch ins Dur sofort wieder in den Abgrund zu reißen vermag: sogar das liebliche Romanzenthema des Mittelsatzes bricht im Mittelteil ein und bäumt sich mit aller Gewalt in donnerndem Moll auf. Neben diesen beiden unvergänglichen Werken Mozarts kann das Orchester sich mit Schuberts Symphonie Nr. 5 präsentieren, die häufig als erste klassizistische Symphonie der Musikgeschichte beschrieben wird. Tatsächlich besinnt sie sich auf überlieferte, Mozart‘sche und Haydn‘sche Ideale, ist die kürzeste und ohne Pauken, Klarinetten und Trompeten am sparsamsten besetzte Symphonie Schuberts. Dessen ungeachtet enthüllt auch sie eine ganz eigene und unverwechselbare Tonsprache im klassischen Korsett und geht furchtlos eigene Wege, modulatorisch und hinsichtlich der Themenentwicklung. Diese Symphonie hat eine freundliche und beschwingte Grundattitüde und brilliert durch eine von Schubert eher ungewohnte uneingeschränkte Leichtigkeit und Heiterkeit, einmal ohne den für ihn so bezeichnenden doppelten Boden.

Es ist durchaus erstaunlich, mit wie viel Liebe zum Detail Jan Lisiecki an die beiden ausgereiften Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart geht. In einem Alter, in dem heute die meisten Pianisten lediglich auf schnelle Finger und automatisierte Perfektion achten (was – welch ein Teufelskreis! – vom Publikum peinlicherweise meist auch noch durch besonders laute Bravo-Rufe und noch tosenderen Applaus honoriert wird), nimmt Lisiecki die Musik selbst unter die Lupe. In größter Detailverliebtheit gestaltet er jede Phrase und jede Stimme farbenreich aus. Beim C-Dur-Konzert mag es dadurch noch teilweise etwas steril und gewollt wirken sowie der Bezug zum großen Ganzen etwas fragmentarisch erscheinen, doch im d-moll-Konzert geht dies voll auf. Hier beweist er ein unerschütterliches Verständnis für die Musik, was auch beim Konzert in C-Dur schon durchaus ersichtlich wurde, und kann die Zerrissenheit und Untergründigkeit der Musik dem Hörer sinnhaft vermitteln. In beiden Konzerten glänzt sein Spiel durch klare und schlichte Tongebung mit technischer Brillanz und wohldosiertem Pedaleinsatz. Die Ausfeilung der Melodieführung bringt mit sich, dass Lisiecki auch die Gesetze von Spannung und Entspannung erfühlt und die Linien dynamisch aus den ihnen innewohnenden Kräften entstehen lässt.

Ein klein wenig geschmälert wird die furiose Wirkung der Konzerte bedauerlicherweise durch die Zugabe, die Träumerei aus Robert Schumanns Kinderszenen. Zwar formt Lisiecki auch hier die Melodie plastisch aus und bringt sie durch eine außergewöhnliche Abmischung der einzelnen Stimmen zum Strahlen, doch läuft ihm die hochromantische Musik strukturell vollkommen aus dem Ruder. Er „verträumt“ sich in der Träumerei, lässt das Tempo vollständig auseinanderfallen und somit den Hörer ohne jeden Sinn für Zusammenhang oder zentrale Aussage des Stückes zurück. Mit einem weiteren Stück von Mozart oder einem seiner Zeitgenossen hätte sich Jan Lisiecki einen größeren Gefallen getan – oder mit einem weiteren Satz eines anderen Klavierkonzerts von Mozart oder auch Haydn, wo außerdem das ausgezeichnete Orchester sich noch einmal hätte beteiligen können. Trotzdem wird anhand von Mozart deutlich, welch herausragender Musiker Jan Lisiecki bereits jetzt ist – einer, der früh schon einen guten Zugang zur Musik hatte und der einzelnen Tönen und deren Verbindungen spürend nachforscht anstatt sich auf zirkushafte Fingerfertigkeit zu verlassen – ein gehaltvoller Weg, den weiter zu beschreiten wahrlich lohnt, und der zweifellos von großem Erfolg gekrönt sein wird!

Das Zürcher Kammerorchester unter Willi Zimmermann, der nebenbei noch als Konzertmeister die ersten Violinen anführt, zeigt sich von seiner besten Seite. In der kleinen Besetzung begeistert das Ensemble durch seinen enormen Farben- und Artikulationsreichtum, durch Durchhörbarkeit und spürbare feinsinnige Abstimmung. Es ist offenkundig, wie wach sich die Musiker gegenseitig zuhören und ihren eigenen Klang in das Gewebe einpassen können. Das intime Gefühl, das durch die Nähe des Publikums zur Bühne ohne einschüchternde Erhebung oder großen Abstand im Münchner Prinzregententheater entsteht, kommt dem Kammerorchester zusätzlich zu Gute, in Kombination mit seinem warmen und frischen Klang wirkt alles sehr vertraut, gar heimisch. Die Begleitung der beiden Klavierkonzerte gerät hinreißend (abgesehen von der kurzen Panne, als die Musiker nicht genau zu wissen scheinen, wann denn die Kadenz im Kopfsatz des KV 466 nun endet und wann folglich ihr Einsatz folgt – was aber angesichts der doch recht eigenwillig gewählten Kadenzen in diesem Konzert im Gegensatz zu den angenehmen und sich gut einpassenden Kadenzen in KV 467 nicht allzu sehr zu verwundern vermag) und auch der eher unbekannte Marsch zu Beginn des Konzerts ist bereits ein musikalisches Erlebnis. Doch am meisten können die Musiker des Zürcher Kammerorchesters mit der fünften Symphonie von Franz Schubert verzaubern, die eine besonders schillernde Lebendigkeit erhält und stets atmend pulsiert. Zu keiner Zeit entstehen lähmende Längen und die Zeit verfliegt wie im Flug. Eine höchst bemerkenswerte Leistung dieses renommierten Schweizer Ensembles.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Spätwerke zweier Romantiker

Anlässlich seines zweiten Semesterabschlusskonzerts für den Winter 2015/16 am 1. Februar 2016 in der Großen Aula der Ludwig Maximilians Universität führt der UniversitätsChor München unter der Leitung Verena Eggers späte Chorwerke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Es sind die Kantate „Hör mein Bitten“ WoO15 (1844/47) sowie der Psalm 42 „Wie der Hirsch schreiet“ op. 42, MWV A 15 (1837/38) von Felix Mendelssohn-Bartholdy, gefolgt von der Messe in Es-Dur D 950 von Franz Schubert. Begleitet wird der Chor vom Collegium Musicum München; Solisten sind Katja Stuber (Sopran), Florence Losseau (Alt), Roman Payer und Philip Carmichael (Tenöre) sowie Manuel Adt (Bariton).

Die größeren Chorwerken der beiden Komponisten Schubert und Mendelssohn- Bartholdy aufzuführen erfordert nicht nur eingehendes musikalisches Verständnis und Qualifikation von Chor, Solisten und Orchester, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, aus der Masse der vielen Aufführungen und Tonträger-Einspielungen der genannten Werke hervorzustechen. In dieser Hinsicht haben der über 250 Mann starke Chor der LMU München und sein Stammorchester, das aus Orchesterakademisten bestehende Collegium Musicum München, im Großen und Ganzen beträchtliche Arbeit geleistet.

Sowie das posthum veröffentlichte „Hör mein Flehen“ von Mendelssohn-Bartholdy den Abend eröffnete, erlebte man zunächst eine souveräne Katja Stuber, deren Stimme sich einfühlsam und mit vielseitigem Timbre in den Text fügte. Das Orchester spielte von Beginn an sauber und mit großenteils ausgewogener Balance. Besonders hervorzuheben sind die Streicher, die mit dem Vibrato sehr sparsam umgingen und eine daher umso tragfähigere Klangbasis schufen. Spätestens in der zweiten Textstrophe („Die Feinde sie droh´n und heben ihr Haupt“) kam es allerdings zu leichten Problemen in der Textverständlichkeit, nicht wegen des Chores, der sich trotz seiner Größe zu beherrschen wusste und immer sehr genau artikulierte, sondern aufgrund des von der Dirigentin nicht im Zaum gehaltenen Orchesters, das die Sänger streckenweise glatt übertönte. Insgesamt aber fällt dies trotzdem nicht übermäßig ins Gewicht bei dem schnörkellosen und stringenten Dirigierstil von Anna Verena Egger.

Im populären Psalm 42 konnten sich alle Musiker noch mehr entfalten. So zählten der Eingangs- und Schlusschor („Wie der Hirsch schreiet“, „Was betrübst du dich, meine Seele“ (Reprise)) zu den schönsten Darstellungen des Abends. Vor allem ersterer dürfte durch das sehr harmonische Zusammenwirken von Chor und Orchester bei vielen Zuhörern gar für Gänsehaut gesorgt haben. Das Schlussstück überzeugte in den wohlgemessenen Achtelläufen des Orchesters, welche den Chorhymnus polyphon begleiten. Diese klangen weder gehetzt noch an den Rand der Spielbarkeit getrieben. In den Nummern dazwischen glänzte immer wieder Frau Stuber, die es nach wie vor verstand, zwischen lyrischen Tonfällen und einer dem geistlichen Werk angemessenen Dramatik der Situation zu wechseln. Gerade die Arie „Meine Seele dürstet nach Gott“ erhielt durch ihre Stimme und dank dem ihr angepassten Orchester viel Leben und glaubwürdigen Ausdruck. Die einzelnen Stimmen des Chores bekamen nun auch Gelegenheit, die Früchte der Probenarbeit eines ganzen Semesters zu präsentieren. In erster Linie waren es die Soprane und Altistinnen, die ein intonationssicheres, dynamisch ausgewogenes und homogenes Klangbild ermöglichten und zumal in „Denn ich wollte gern hingehen“ die Solistin trefflich begleiteten. Die Männerstimmen waren insgesamt weitgehend zufriedenstellend, hätten aber hie und da etwas mehr aus sich herausgehen können. Vor allem die Tenöre hatten in hoher Lage einige Male ihre Probleme, was allerdings weniger in den Werken der ersten Konzerthälfte als danach in der Schubert-Messe auffiel.

Jedoch bestach die Darbietung dieses im Todesjahr Schuberts entstandenen Werkes durch sorgfältige Einstudierung und auch dadurch, dass man die musikalischen Raffinessen dieser Messe keineswegs unterschätzte. Der Programmhefttext, worin Katharina Smiatek, Johannes Harth-Kitzerow und Felix Klossek solide über Entstehung und wesentliche musikalische Elemente der Werke informierten, hob gelegentlich die düsteren Stellen dieser Messe hervor. Ebenso erfuhr man auch, wie verhältnismäßig umfangreich die Schlussfugen des Glorias und des Credos im Kontext der damaligen Zeit geraten sind. Jedoch entstanden nie die von Robert Schumann anhand des Finales von Schuberts großer C-Dur-Symphonie konstatierten „himmlischen Längen“, da jeder einzelne Messeabschnitt dramaturgisch schlüssig und mit Hingabe musiziert wurde. Das liegt nicht nur an der eigenwilligen, symmetrisch intelligenten Wiederholungstechnik Schuberts, über die das Programmheft auch aufklärt, sondern auch an der konsequent straffen, aber niemals akademisch langweiligen Leitung Frau Eggers.

Die Fuge des Gloria enthält viele chromatischen Linien, die jede Chorstimme wohldosiert vortrug, ohne die Artikulation zu verschmieren. Ein geringer Wermutstropfen ergab sich im Mittelteil des Gloria, Andante con moto, in den Blechbläsern, denen trotz ihrer verhältnismäßig kleinen Größe von je 2 Hörnern und Trompeten sowie 3 Posaunen wiederholt unterlief, den Chor an einigen Stellen zu übertönen. Hier muss Frau Egger mehr auf der Begleitfunktion bestehen. Im „Et incarnatus est“ des Credos treten erstmals zwei solistische Tenöre zur Sopranistin hinzu, in diesem Fall Roman Payer und Philip Carmichael, was ein stimmiges Terzett ergab, wobei Herr Carmichael, der hier seinen einzigen Auftritt hatte, im Vergleich zu seinem Kollegen um einiges ausgereifter sang. Als weniger glücklich erwies nach einem schönen Sanctus das Solistenquartett im Benedictus. Während Manuel Adt eine passable Baritonstimme vorweisen kann, hörte man von Florence Losseau als Mezzosopran schlichtweg recht wenig bis gar nichts (zumindest im hinteren Teil der Aula). Es mag daran liegen, dass sie hier von den anderen Solisten zugedeckt wurde, zumal sich ihre Lage im Agnus Dei zwar nur geringfügig, aber merklich besserte und auch sie eine durchaus sichere Stimmführung bewies. Hingegen boten der Chor und das Orchester ein ausgezeichnet vorbereitetes „Dona nobis pacem“, das sie bis zum Schluss intensiv musizierten, wobei sie gerade in dem Moment besonders diszipliniert blieben, als ein Chormitglied kurz vor Konzertende kollabierte.

Glaubt man dem Applaus und der allgemeinen Begeisterung, so hat der Chor, der seit 65 Jahren besteht und mit ähnlich ausgerichteten Ensembles international sehr gut vernetzt ist, zusammen mit Solisten und Orchester ein stimmiges und ereignisreiches Konzert gegeben, das trotz einiger Schwächen überzeugte und die Messlatte für das kommende Semester hoch legt.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

Damrosch entsteigt in Azusa der Mottenkiste

Leopold Damrosch
Symphonie A-Dur (1878)
Fest-Ouvertüre C-Dur (1871)
Franz Schubert/orchestr. Damrosch: Marche militaire D 733 Nr. 1

Toccata Classics TOCC 0261
ISBN: 5060113442611

Lucien0001

Diese Kritik schreibe ich nicht nur, weil die vorliegende Aufnahme wertvoll ist, sondern auch ganz bewusst geschärft als eine Art ‚Gegendarstellung’ zu einer peinlich überheblichen, freundlich vernichtenden Besprechung in einem viel gelesenen deutschen Klassik-Online-Magazin. Hier spielt ein Studentenorchester – das Azusa Pacific University Symphony Orchestra – unter dem so engagierten wie gewissenhaften und feinfühligen Dirigenten Christopher Russell, und natürlich können wir nicht die Studio-Perfektion internationaler Glanz-Klangkörper vom Schlage London Symphony oder Los Angeles Philharmonic erwarten – aber das erwarten wir auch nicht von einem gelungenen Konzert, und überhaupt erwarten wir das heute nur, weil Perfektion die einzige hörbare Messlatte für musikalische Ignoranten ist, die nichts von musikalischen Kriterien des Zusammenhangs verstehen. Und es ist unbedingt zu betonen, dass man hier zwar hin und wieder nicht ganz sauber ausgestimmte Akkorde hören kann, dass dies jedoch auf einem Niveau stattfindet, dem wir auch in vielen Livekonzerten renommierter Profiorchester begegnen. Also: Entwarnung an alle, die mein Vorgänger abgeschreckt hat – man kann es sich gut anhören, und mit immensem Gewinn und Vergnügen. Denn: hier spielt ein Orchester, das so intensiv an der Musik gearbeitet hat, dass man sofort merkt, dass alle Musiker das Stück kennen und sich nicht, wie ansonsten in Orchesteraufnahmen seltenen Repertoires üblich, im zufälligen Irgendwo eines Schaltplans befinden, dessen Funktionsweise ihnen unbekannt ist, sondern genau wissen und erleben, was dem, was sie gerade tun, vorausging und wohin es weiterführt.

Leopold Damrosch (1832-85), ein halbes Jahr vor Johannes Brahms geboren, ist Kennern vor allem bekannt als der Vater und Lehrer des Dirigenten Walter Damrosch (1862-1950), der 1885 mit dem Tod seines Vaters die Leitung der New York Symphony Society übernahm und bis 1928 innehatte. Die Musik Leopold Damroschs ist gekennzeichnet von vollendeter Beherrschung der Mittel in der Tradition der avancierteren Linie der klassizistischen deutschen Romantik, die einerseits wie Brahms von Beethoven und Schumann herkam und andererseits begierig die unwiderstehlichen Einflüsse von Berlioz, Liszt und Wagner in sich aufsog. Er war Geiger und hatte in Berlin bei Siegfried Wilhelm Dehn Komposition studiert. Außerdem promovierte er 1854 als Mediziner und trat dem Freimaurer-Orden bei, in welchem er später in den USA in prominenter Funktion wirkte. Dann spielte er unter Liszt in der Weimarer Großherzoglichen Kapelle. Ab 1858 wirkte er als Dirigent in Breslau. Obwohl wie auch Felix Draeseke zunächst neudeutsch revolutionär eingestellt, ist bei Damrosch als Komponist doch zusehends eine Fusion mit den gemäßigteren Elementen der Beethoven-Nachfolge festzustellen. 1872 ging er nach New York, wo er 1873 die Oratorio Society und 1878 die New York Symphony Society gründete.

Von Damrosch hat das im kalifornischen Azusa nordöstlich von Los Angeles ansässige Azusa Pacific University Symphony Orchestra unter seinem Leiter Christopher Russell 2014-15 folgende Werke für vorliegende CD bei Martin Andersons Raritäten-Fishing-Label Toccata Classics aufgenommen: eine Fest-Ouvertüre in C-Dur, die 1871 vor der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten entstand; die große, dreiviertelstündige Symphonie in A-Dur von 1878, also aus dem Gründungsjahr seines New Yorker Orchesters; und sein einst beliebtes Orchesterarrangement des ersten der drei bekannten Marches militaires op. 51 in D-Dur für Klavier zu vier Händen von Franz Schubert. In seinen Originalkompositionen zeigt Damrosch sich als souveräner Meister leuchtkräftiger Orchestration mit kontrapunktischem Geschick, harmonischer Gewandtheit und klarem Sinn für einprägsame Melodik und effektvolle Dramaturgie. Die Fest-Ouvertüre ist ein gelungener, wie der Titel nahelegt nicht allzu tiefgängiger Genre-Beitrag, der sich als Eröffnung anbietet. Damroschs Herzblut ist in seine große Symphonie eingeflossen, die er selbst nicht zur Aufführung brachte. Sie blieb in der Schublade liegen bis ins 21. Jahrhundert! 2005 wurde eine kritische Edition erstellt, und am 8. Februar 2015, nach mehr als 136 Jahren, spielten jene Musiker die Uraufführung, die das Werk an den folgenden Tagen aufnahmen und nun hier als Ersteinspielung vorstellen. Ein großer symphonischer Sonatensatz eröffnet die Symphonie mit einer langsamen Einleitung von evokativer Weite. An zweiter Stelle steht das Scherzo, das als Intermezzo scherzando betitelt ist: ein knapper Satz zackig herausfahrenden Charakters mit einem geschmeidigen Trio als Gegensatz, das noch einmal wiederkehrt. Zentrum der Symphonie ist eine grandiose Marcia solenne von machtvoll pathetischer Wirkung und extremen Gegensätzen, die auch die deutlichste Nähe zu den Neudeutschen herstellt. Es folgt ein flunkernd geschwindes Finale mit klaren Kontrasten, und gegen Ende kehrt die Einleitung des Kopfsatzes wieder und verleiht dem Werk die intendierte zyklische Wirkung, bevor es zum kraftvollen Ausklang kommt. Die nachfolgende Schubert-Bearbeitung eignet sich als Zugabe, ist allerdings bei aller handwerklichen Geschliffenheit weder originell noch besonders feinsinnig, aber es muss ja auch nicht alles, was geschürft wird, gleich Gold sein.
Das kalifornische Elite-Uni-Orchester gibt unter seinem offenkundig kompetenten und musikalischen Dirigenten alles, was in seiner Macht steht. Was man technisch nicht so gut kann wie professionelle Vereinigungen, die seit Generationen eine Tradition weiterreichen, die stets auch nicht nur ihre positiven Seiten hat, macht man keineswegs nur mit Engagement und Wagemut wett. Nein, hier spielt ein Orchester, das die Werke kennt und sich in langen Probenphasen mit ihrem Gehalt verbunden hat, das an die Größe dieser Musik glaubt und ihr eine Authentizität verleiht, die den Hörer ergreifen kann. So entsteht eine Folgerichtigkeit des Ablaufs, die in routinierten Aufnahmesessions, bei denen oftmals vom Blatt gelesen wird und keines der Werke je im Zusammenhang durchgespielt, geschweige denn auch nur ansatzweise auf eine zusammenhängende Wirkung hin geprobt wurde, niemals erreicht wird. Also: weniger Perfektion, aber viel mehr Sinn, Bezug und Verinnerlichung. So ähnlich könnte die Symphonie geklungen haben, wäre sie seinerzeit aufgeführt worden, denn damals waren die professionellen Orchester noch nicht so perfektioniert wie heute, aber sie spielten beseelter, zumal nur der Augenblick des Entstehens zählte, bevor die Wiederholbarkeit durch konservierte Aufnahmen ein anderes Zeitalter einleitete, dessen Errungenschaften neben dem informellen Gewinn für jedermann auch krasse Verluste mit sich brachte. Alleine der Symphonie wegen lohnt sich diese CD, wenn man lebendig entstehende Musik hören will und nicht nur steril poliertes Einerlei. Und eines vermittelt sich in dieser durchaus berührenden Aufführung: Damrosch war kein Originalgenie, jedoch durchaus ein hörenswerter Komponist, der das Bild der Zeit in wertvoller Weise ergänzt. Aus der Mottenkiste der Geschichte ist weiterhin immer wieder Bemerkenswertes zutage zu fördern. Wie heißt es im Kino: Pradikat wertvoll.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2016]

Interview Beth Levin 2015

Die neueste CD der amerikanischen Konzertpianistin Beth Levin mit dem Titel „Inward Voice“ und Musik von Robert Schumann, Anders Eliasson und Franz Schubert wird ab 8. Januar auch in Amerika erhältlich sein. Für „The New Listener“ spreche ich mit ihr über sie, die einzigartige Art ihres Klavierspiels und ihre Neuerscheinung.

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[Zum englischsprachien Original]

[Oliver Fraenzke:]
Zunächst würde ich gerne etwas über Ihre Grundlagen sprechen sowie über Ihre Einflüsse. Ihre Art des Klavierspiels ist nicht die übliche, wie wir sie meist zu hören bekommen, Sie entwickelten einen komplett einzigartigen Stil, der eher mit den großen Meistern der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist als mit zeitgenössischen Pianisten. Was waren Ihre wichtigsten Lehrer und sonstige musikalische Einflüsse für Ihren Stil? Und wie beziehungsweise warum kamen Sie zu dem Entschluss, etwas Neues auszuprobieren, anstatt lediglich wohlbekannte und vor allem erfolgreiche Gewohnheiten des Spiels zu kopieren?

[Beth Levin:]
Ich habe das Gefühl, meine eigene Stimme am Klavier zu haben und wenn das so unverwechselbar ist, bin ich froh darum, aber ich habe mich nicht darum bemüht, anders zu sein.

Meine Lehrer Marian Filar, Rudolf Serkin und Leonard Shure und deren Klangpalette, mit der ich aufgewachsen bin, hatten natürlich einen Einfluss auf mein Spiel. Aber noch einmal, jede/r von uns hat seine/ihre eigene Stimme auf dem Instrument. Ob gut oder schlecht, wir können es nicht ändern. Ich denke, wir versuchen alle, den Anforderungen der Musik gerecht zu werden und wir nutzen dazu alles, was wir haben – Ohr, Technik, Kenntnis, Erfahrung.

Das heißt, wir sind nicht in der Lage, unseren naturgegebenen Klang zu verändern, der jedem unveränderlich gegeben ist. Aber wenn nicht daran, woran dann können wir arbeiten, um unser Spiel zu verbessern?

Also ich bin der Ansicht, dass Begierde eine große Rolle in der Entwicklung unserer Technik und Kunstfertigkeit am Klavier spielt. Je mehr wir von und für die Musik wollen, desto mehr werden wir daran wachsen.

Sei nie zu sehr zufrieden. Bemühe dich, zu erreichen, was du dir in der Musik ausmalst und erhoffst in Begriffen wie Klang, Struktur, Phrasierung, Gefühl, Farbe – und du wirst, denke ich, als Künstler daran reifen.

Leonard Shure hörte in seinen Stunden eine oder zwei Phrasen der Musik und fragte: „Warum?“. Das war oft befremdlich für den Studenten. Er erklärte niemals – du musstest selber Gründe für jede einzelne Phrase der Musik finden.

Auch glaube ich, dass Hören sehr wichtig ist – höre Sänger, Streicher und natürlich Pianisten, besonders die alten Aufnahmen. Eine einzelne Phrase einer Maria Callas kann komplett richtungsändernd für dein eigenes Spiel sein. Und lass dich von allem beeinflussen – Natur, Kunst, Literatur … Lege all dies in das Instrument.

Es ist sehr interessant, dass Sie die Meinung teilen, alte Schallplattenaufnahmen seien wichtiger als heutige Einspielungen, denn für mich wirkt Ihr persönlicher Klang auch wesentlich eher wie aus jener Zeit. Warum beeindrucken Sie die alten Aufnahmen am meisten? Was machten frühere Pianisten „besser“ als heutige Musiker?

Es mag ein Mangel an mir selbst sein, aber diese alten Aufnahmen ziehen mich sehr stark an. Für mich ist die Darbietung meist wesentlich freier im Ganzen, mit tiefem Gefühl, und auch übermitteln sie das Gefühl, dass die Werke als Ganzes aufgenommen wurden anstatt zusammengestückelt worden zu sein.

Sicherlich haben wir auch jetzt brillante Musiker, aber der Druck der Perfektion dominiert manchmal die Kunstfertigkeit.

Ist das der Grund – „Kunst“ zu machen anstelle von kopfloser „Perfektion“ – warum Sie so lange gezögert haben, internationale Konzerte und Ruhm zu erlangen? Oder ist der Grund dafür eher die Angst, neben all den weltweiten Konzertverpflichtungen kein Leben mehr für sich selbst zu haben?

Ich weiß nicht … Lassen Sie mich etwas länger darüber nachdenken …

Vielleicht bin ich einfach schon glücklich, wenn ich ein bevorstehendes Konzert oder irgendein Musikprojekt habe, auch wenn es um die Ecke stattfindet. Wissen Sie, was ich meine? Ich suche keinen internationalen Ruhm, aber bin allerdings auch beflügelt von der Aufmerksamkeit, die ich derzeit erhalte.

Ich habe das Gefühl, ein großartiges musikalisches Leben zu haben, auch wenn es in einer kleineren Dimension stattfindet. Außerdem wollte ich unbedingt Kinder und errichtete mir ein Leben, das sowohl erlaubt, in der Musik zu sein, als auch Mutter zu sein. Ich glaube, das könnte mein Musikleben ein wenig in den Grenzen gehalten haben.

Sie nannten bereits drei Namen Ihrer wichtigsten Lehrer. Ist es möglich, den Fokus einmal darauf zu legen, was Sie von diesen gelernt haben, was sie so bedeutungsvoll für Ihre Art des Spielens macht? Vielleicht können Sie etwas über sie sagen, wer sie waren und warum Sie ausgerechnet sie ausgewählt haben.

Marian Filar war seinen Studenten gegenüber wie ein Vater und ermöglichte es uns, aufzublühen. Er war so ein feinfühliger Künstler, und wenn er spielte, hatte er eine hinreißende Gesangslinie und eine besondere Finesse. Seinem Spiel zuzuhören war eine Ausbildung. Er und ich hatten denselben Geburtstag!

Er betonte Intonierung, Stil, Fingersatz und er pflegte die tiefste Musikalität in einem. Als ich am Curtis Institut vorspielte, war ich von Filar brillant vorbereitet gewesen. Außerdem führte ich mit dem Philadelphia Orchester zwei Beethovenkonzerte unter seiner Leitung auf.

Meine Zeit mit Rudolf Serkin war wie eine Art musikalische „Pubertät“, denn ich entdeckte neues Repertoire und Kammermusik. Ich veränderte mich als junge Künstlerin und war nicht einmal sicher, was ich gerade tat. Meine Technik war vollkommen natürlich, aber jetzt analysierte ich sie und wollte mehr von ihr, um einem größeren, anspruchsvolleren Repertoire zu entsprechen. Er war ein großer Inspirator am Curtis Institute und in Music from Marlboro.

Ich hörte bereits von Freunden vom brillanten Musiker Leonard Shure und wusste, dass er in Boston lehrte. Ich klopfte buchstäblich an seine Tür und bat ihn, für ihn spielen zu dürfen. Er akzeptierte und nahm mich als Studentin an. Er hatte eine ästhetische Nähe zu Serkin, aber war noch fordernder. Ich wusste von einigen, die in den Stunden niemals über vier Takte hinauskamen. Für mich war die Struktur, welche er in seinen Darbietungen errichtete, unvergesslich und eine große Lektion für uns, als wir Werke von Beethoven, Schubert, Schumann und anderen studierten. Außerdem war er ein großartiger Kammermusikcoach.

Dorothy Taubman lebte in meiner Nachbarschaft in Park Slope, Brooklyn, und ich wurde ihre Studentin, nachdem ich nach New York gezogen bin. Damals waren meine Kinder sehr jung. Sie war ein Guru mit einer Technik, zu welcher wir unsere glaube ich alle ausweiten und wachsen lassen wollen. Sie konnte ihren Studenten ein tolles Gefühl von Freiheit, Abenteuer und Neugier einflößen.

Es scheint, als hätten Sie großartige Lehrer für Ihren persönlichen Weg hin zur Musik gefunden. Ihren Ausführungen zufolge wirkt es, als hätten Sie die Möglichkeit bekommen, sowohl in Kontakt mit etabliertem Repertoire als auch mit komplett neuen und unbekannten Stücken zu kommen. Auf Ihrem neuen Album, Inward Voice, hören wir einen dieser (noch) unbekannten Komponisten, den schwedischen Meister Anders Eliasson. Wo und wann hörten Sie erstmals von ihm, war es mit Rudolf Serkin?

Der Dirigent Christoph Schlüren führte mich an Eliasson heran – ich kannte seine Musik vorher nicht. Mittlerweile habe ich zwei seiner Klavierwerke eingespielt und hoffe, ein drittes nächstes Jahr folgen zu lassen.

Mich zieht der spirituelle Aspekte dieser Musik an, die rhythmische Vitalität, die expressiven Ideen, und ihre hintergründige Qualität.

Warum war es ausgerechnet Anders Eliasson, der Sie so begeistern konnte? Was macht ihn so besonders und einzigartig?

Es bereitet mir große Freude, neue Komponisten zu entdecken, und Eliasson ist beides: sowohl einfach als auch schwierig zu verstehen. Diese Herausforderung ist die eine Sache, warum mich seine Musik anzieht. Mir gefällt es, dass seine Sprache so modern ist und trotzdem in den westlichen Musiktraditionen wurzelt, was es dem Spieler ermöglicht, sich heimisch zu fühlen, obwohl die Musik ungewohnt ist. Ich habe eine Zeit lang gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich ausdrucksstark sein kann, eine lange Linie machen kann und mir meine Zeit in den Noten nehmen kann. Eigentlich bin ich noch immer auf der Reise mit Eliasson, wenn ich an seinem Disegno 3 arbeite. Ich habe großen Respekt vor seinem symphonischen Werk und hoffe sehr, mehr von seinem Schaffen zu hören. Heute arbeite ich an seiner Musik und spüre dabei eine unausweichliche, organische, omnipräsente Qualität.

In Amerika sind Sie vor allem dafür bekannt, zeitgenössische Musik aufzuführen. Sind Sie der Ansicht, es ist alles in allem einfacher, mit dem Spiel von moderner Musik bekannt zu werden (in einem entsprechenden, speziellen Kreis)? Und welche Art der neuen Klangkunst bevorzugen Sie am meisten?

Ich habe das große Glück, viele ausgezeichnete Komponistenfreunde zu haben, deren Musik ich gerne aufführe. Es hat etwas tolles, ein neues Werk in der Post zu erhalten, bei welchem die Tinte kaum trocken ist. Und die Möglichkeit zu haben, das Werk mit dem Komponisten zu erarbeiten und die Musik von erster Hand zu diskutieren.

Erfolg ist nichts, was man vorhersagen kann oder was zu entschlüsseln wäre. Man sollte einfach nach den besten Absichten arbeiten, immer mit den reinsten Impulsen, und einige Aufmerksamkeit kann daraus folgen. Oder auch nicht. Wenn es die Musik des 21. Jahrhunderts ist, was du am meisten liebst, dann solltest du diesem Pfad folgen. Ich würde nicht sagen, dass es unbedingt Ruhm mit sich bringt.

Ich glaube, ich spiele das, was ich am besten spiele – aber experimentiere manchmal mit dem Unbekannten und sehe dann, wohin es führt.

Neben Ihrer Ausrichtung zu zeitgenössischen Komponisten wie Scott Wheeler, Andrew Rudin, Yehudi Wyner, David Del Tredici, Mohammed Fairouz oder dem bereits genannten Anders Eliasson haben Sie auch eine Leidenschaft für einige etablierte Meister, vor allem Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts wie Ludwig van Beethoven, Franz Schubert oder Robert Schumann. Warum ist es ausgerechnet diese Epoche, die Sie so sehr gefangen nimmt?

Ich habe ebenso auch viel russisches und französisches Repertoire, aber habe es nicht aufgenommen.

Aber manchmal denke ich, ich tue am besten daran, wenn es eine großartige Struktur und Disziplin in der Musik gibt wie bei Schubert, Beethoven, Brahms und Schumann. Ich mag es, wenn persönliche Gefühle in einem strengen Rahmen funktionieren. Das Ergebnis kann ergreifend und mächtig sein. Meine Lehrer, vor allem die großen Künstler Serkin und Shure, lebten in diesem Repertoire und konnten ein Gespür für diese spezielle Epoche übertragen.

Haben Sie denn vor, auch einmal russische oder französische Musik aufzunehmen?

Hauptsächlich haben Sie außergewöhnlich lange Werke eingespielt wie Bachs Goldberg-Variationen, oder Beethovens Diabelli-Variationen ebenso wie seine letzten drei umfangreichen Sonaten. Bedeuten diese Werke ein besonderes Wagnis der Form für Sie, das Sie inspiriert und anzieht?

Ja – ich hoffe, mehr und mehr einzuspielen und französisches und russisches Repertoire einzubeziehen.

Ich glaube, ich bin unbewusst der Art der Programme meiner Lehrer gefolgt, die immer lange Werke eingeschlossen haben. – Ich mag die „Mount Everest“-Werke als Herausforderung und das allumfassende Gefühl, das man von Werken wie den Goldberg- oder Diabelli-Variationen empfängt.

Gibt es einen bevorzugten „Mount Everest“ für Sie?

Ich wage weiterhin, Beethovens Op. 106 zu studieren, die Hammerklavier-Sonate. Aber manchmal muss man einfach glücklich sein, dass andere es so gut gemacht haben und es loslassen.

Das Konzert in B-Dur von Brahms ist ein anderer „Mount Everest“ für mich – ich würde es unglaublich gerne eines Tages aufführen.

Ich halte auch einige unentdeckte neue Musik für einen Mount Everest. Ich hoffe, es wird einige bisher ungeschriebene Werke geben, die in der Zukunft auf mich warten.

Schlussendlich, nichts ist einfach. Sagen wir, eine Mozart-Fantasie – die Einfachheit und Ehrlichkeit zu erreichen, ist eine andere Art von Everest.

Das ist ein Schlüsselsatz, jedes kleine Stück Musik kann ein Mount Everest sein. Wenn es mir erlaubt ist zu fragen, was ist für Sie der härteste Gipfel, den es zu erreichen gibt, für welche Art der Technik oder des musikalischen Anspruchs haben Sie am meisten zu üben?

Generell gesprochen strebe ich nach einem musikalischen Ziel in jeder gegebenen Phrase und wenn die Technik nicht hinreicht, worauf ich aus bin, suche ich wirklich nach Lösungen. Ich denke nicht viel an Technik – das kann ein Makel sein. Ich weiß es nicht. Ich verlange nach Dingen in der Musik und strebe nach einem technischen Weg, diese zu erreichen. Niemals anders herum.

Technik ist in Wahrheit unser Diener, aber ohne sie können wir nicht viel tun. Ich bewundere Technik bei anderen Spielern, aber niemals mehr als das Erreichen eines musikalischen Ziels. Lieber höre ich falsche Noten, wenn jemand offensichtlich nach etwas Göttlichem strebt.

Das ist natürlich eine gute Position. Könnten Sie mir bitte ein Beispiel dazu geben: Also wenn Sie an Beethovens Sonate Op. 111 arbeiten, was macht es so schwierig und so besonders? Was wäre denn Ihr musikalisches Ziel beim Spielen der Sonate?

In Op. 111 von Beethoven beispielsweise ist die Musik mehr ein Entwurf. Du musst darauf hinarbeiten, die Gesamtheit der Noten zu erreichen oder seine Ansprüche zu treffen. Schaue hinter die Noten (nimm die vollen Hände im Finalsatz) hin zu Farbe, Bewegung und Struktur, die die Noten erzeugen.

In einem Werk wie Op. 111 reist Beethoven an einen besonderen Ort und der Pianist muss ebenfalls die Reise auf sich nehmen.

Es ist eine große Herausforderung und eine Freude.

Ich bin der Überzeugung, in Werken wie Op. 111 führt die Aufführung selber zu neuen Ideen und öffnet neue Türen zum Klang …

Heute dachte ich, eigentlich nichts Bestimmtes betreffend, was für eine wichtige Idee die Eloquenz doch in der Musik ist. Sehr wie beim Schauspiel – wenn du einem großartigen Schauspieler zuschaust, wie eloquent er oder sie eine Seite umblättert, aufsteht oder seine/ihre Stimme und Mimik benutzt. Und wie er/sie etwas abbildet.

Auch in der Musik müssen wir etwas abbilden – nimm die Noten und Phrasen und sage etwas. Ich erinnere mich, wie ich die Appassionata von Beethoven als junge Person gespielt habe und mich ihr so nahe fühlte – ich wusste, ich konnte sie abbilden, weil ich diese Gefühle in mir hatte. Wir müssen ein großes Repertoire an Emotionen haben, denke ich, um ein Stück Musik abzubilden.

Wie auch immer, wie wir eine Musikphrase spielen, ist wichtig – wie eloquent wir sie aussagen.

Gerade sprachen wir über eine technisch wirklich schwierige Sonate von Beethoven, aber was ist mit einem technisch wesentlich einfacheren Werk von Mozart? Schlagen Sie den selben Weg ein, solch ein Stück zu lernen, oder ändert das etwas – oder alles?

Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied gibt – Du hältst danach Ausschau, was die Musik macht, nach Richtung, Gefühlskontext, Struktur. Einfaches führt einen üblicherweise in die Irre, ist trügerisch einfach.

Das letzte Stück auf „Inward Voice“ ist Franz Schuberts Sonate Nr. 19 in c-moll D 958. Es ist eine der drei letzten großen Sonaten des früh verstorbenen Komponisten, die eine Art Zyklus bilden, obwohl jede Sonate für sich schon sehr lange ist. Warum haben Sie diese Sonate aus der Dreiergruppierung ausgewählt? Und würden Sie dem zustimmen, dass die Sonaten eine besondere Verbindung untereinander und eine bezwingende zyklische Form aufweisen? Oft kann man lesen, der letzte Satz von D 958 sei viel zu lang, eine zehnminütige Hetzjagd ohne Sinn, die den Hörer verwirrt über das Geschehen zurücklässt – würden Sie dieser Anschuldigung zustimmen? Was sehen Sie hinter dieser Hatz und was ist Ihre Aussage?

Ich arbeite derzeit an D 959 – vielleicht werde ich die Erfahrung machen, alle drei zu spielen und die Verbindung klar zu sehen. Wie Sie wissen, habe ich die drei letzten Beethovensonaten aufgenommen und dies wäre für mich ein perfekter nächster Schritt, ein perfektes Gegenstück.

Der Einfluss Beethovens scheint stark – bis hin zur Tonart c-Moll. Vielleicht beeinflusste der Tod Beethovens Schubert tief und öffnete ihm den Weg, diese drei Sonaten so zu schreiben, wie er es tat. Ich denke, hier ist der meiste Kontrast – hell und dunkel – und der letzte Satz geht im Galopp. Die richtige Tempowahl könnte den Schlüssel darstellen, Erfolg in dieser Tarantella zu haben. Ich stimme nicht zu, dass er zu lang sei.

Schubert starb vier Monate nach der Fertigstellung dieser letzten drei Sonaten – eine Dunkelheit durchdringt D 959, also vielleicht wusste er, dass er nicht mehr lange auf dieser Erde hatte.

Neben Schubert und Eliasson gibt es ein drittes Werk auf „Inward Voice“, Robert Schumanns zyklische „Kreisleriana. Fantasien Op. 16“. Mit diesem machten Sie etwas, was wirklich besonders und ungewöhnlich ist: Sie nahmen den ganzen Zyklus in einem langen Take auf, anstatt ihn in die einzelnen Sätze aufzuteilen. Was war der Grund dafür?

Ich glaube, wenn du beginnst, die Kreisleriana zu studieren, fühlst du, dass bestimmte Stücke zusammengehören und dass das Timing zwischen den Sätzen ausschlaggebend für die Aufführung ist. Als ich Kreisleriana live aufführte, war das Timing die Quintessenz und ich wollte versuchen, dies in der eingespielten Version zu behalten.

Vielen Dank für all Ihre Antworten, Frau Levin. Als letztes möchte ich noch fragen, was Sie gerne Künstlern von heute sagen möchten. Gibt es etwas, was Sie kritisieren wollen in unserem Musikleben, haben Sie Ratschläge für aufsteigende Künstler und für ihren Weg oder gibt es etwas, das Sie gerne einfach aussprechen möchtest?

Verliere niemals deinen Sinn für Besessenheit und Bescheidenheit. Ich bin der Ansicht, heutige junge Musiker suchen meist ausschließlich Ruhm und Geld und enden schnell darin, vom Geschäftsleben gefangen genommen zu werden. Als ich mit Shure und Serkin studiert habe, waren unsere Vorbilder anders. Wir gingen nach der Kunst und danach, großartige Musik zu machen, und weniger nach äußerlicher Belohnung. Sei immer ein guter Beobachter und Zuhörer. Befrage die Musik und nutze jeden Einfluss in Natur, Kunst und Leben, um als Musiker besser zu werden.

Die Musiker, die ich am meisten mag, sind die demütigsten. Ich meine, ich sah Rudolf Serkin ein Rezital geben und dann in einen Proberaum gehen, um an den Sachen zu arbeiten, von denen er fühlte, sie hätten besser gehen können. Stellen Sie sich das vor!

Vor allem am Klavier – entwickle dein Ohr! Hören ist fast alles, und auf etwas Hören ist gar noch besser – die Sehnsucht!

Interview und Übersetzung: Oliver Fraenzke
Alle Antworttexte: Beth Levin

Beth Levin: Inward Voice
Aldilà Records ARCD 005
EAN: 9 003643 980051
[zur Rezension der CD]

[The New Listener international:] Interview Beth Levin 2015

The CD „Inward Voice“ with music of Robert Schumann, Anders Eliasson and Franz Schubert of the American concert pianist Beth Levin will be published in America on the 8th of January. For „The New Listener“ I’m asking her about herself, the way of her unique style of playing and her new CD.

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[Oliver Fraenzke:]
First of all I would like to talk about your origin and your influences. Your way of playing the piano is not the usual way we hear mostly, you developed a completely unique style that is more comparable with great masters of the early second half of the 20th Century than with contemporary pianists. Who have been your most important teachers and what have been other significant musical impacts? And why did you come to the decision of trying something new instead of just copying the well-known and fashionable habits of playing?

[Beth Levin:]
I feel that I have my own voice at the piano and if it is distinctive I am glad, but I haven’t set out to be different.

Having Marian Filar, Rudolf Serkin and Leonard Shure as teachers and growing up with the sound-palette they created naturally impacted my own playing. But again, each of us has his/her own voice at the instrument. For better or worse we cannot change it.
I think we all try to meet the demands of the music, and we use everything we have – ear, technique, knowledge, experience – to fulfill it.

So we can’t change our natural given sound, that everybody has unalterably. But what is it than we can work on to improve our playing?

Well I think that desire plays a large role in developing our technique and artistry at the piano. The more we want for the music the more we will grow.

Don’t be too satisfied. Reach for what you imagine and hope for the music in terms of sound, structure, phrasing, emotion, color- and you will grow as an artist I think.

In lessons Leonard Shure would listen to a phrase or two of music and ask „why?“. This was often disconcerting to the student. He never explained – you had to come up with reasons for each phrase of music.

Also I think that listening is so important- listen to singers, to strings and of course pianists especially the vintage recordings. One phrase of a Maria Callas can be life changing for your own playing. And let everything affect you- nature, art, literature…put it all into the instrument.

It is very interesting that you share the opinion that vintage recordings are more important than contemporary recordings, because for me your personal sound is also much more as if it were from that time. Why is it the vintage recordings that impresses you most? What do earlier pianist play „better“ than today’s musicians?

It may be a flaw of my own, but I am very drawn to the old recordings. I find the performances much freer on the whole, deeply felt and also that they relay a sense that the works are being recorded as a whole rather than pieced together.

Of course we have brilliant musicians now but the pressure to be perfect sometimes overtakes the artistry.

Is this the reason – to do „artistry“ instead of mindless „perfection“ – why you hesitated so long to reach fame and become an international concert star? Or is it more the fear of not having any life left beneath giving concerts all over the world?

I don’t know….let me think about this more…

Maybe I’m just happy when I have a concert coming up or any musical project, even if it’s happening around the corner. You know? I didn’t seek international fame, but I’m certainly thrilled at some of the attention I’m currently receiving.

I feel I have a great musical life, even if it is on a smaller scale. Also I wanted children very much and fashioned a life that would allow me to be in music and be a mother. I think that might have kept my musical life in check a bit.

You already mentioned three names of your most important teachers. Is it possible to focus the most important things you learned from them, what made them so significant for your own way of playing? Maybe you can say something about them, who they were and why you chose exactly them.

Marian Filar was like a father to his students and really allowed us to blossom. He was such a sensitive artist and when he played he had a gorgeous singing line and a special refinement. Listening to him play was an education. He and I shared the same birthday!

He stressed voicing, style, fingering and he fostered one’s deepest musicality. When I auditioned at Curtis Institute I had been brilliantly prepared by Filar. Also I performed two Beethoven concerti with the Philadelphia Orchestra under his guidance.

My time with Rudolf Serkin was almost a kind of musical adolescence because I was discovering new repertoire and chamber music. I was changing as a young artist and was not at all sure of what I was doing. My technique had been totally natural but now I was analyzing it and wanting more from it to match the larger, more demanding repertoire. He was a great inspiration at Curtis and at Music from Marlboro.

I had heard about the brilliant musician Leonard Shure from friends and knew he was going to be teaching in Boston. I literally knocked on his door and asked to play for him. He agreed and took me on as a student. He had an aesthetic close to Serkin’s but was even more demanding. I know many people who never got beyond four bars of music in lessons. I think the structure he built in a performance was unforgettable and a great lesson to us as we studied works of Beethoven, Schubert, Schumann, et cetera. And he was a great chamber music coach.

Dorothy Taubman lived in my neighborhood in Park Slope, Brooklyn and I became her student after moving to New York. I had young children at that point. She was a guru with technique which I think we always want to see to widen and grow. She could instill a great sense of freedom, adventure and curiosity in her students.

It looks like you have chosen splendid teachers for your way towards the music. After your explanation it seems you had the possibility of getting in contact as well with standard repertoire as with completely new and unknown pieces. On your latest cd, Inward Voice, we can hear one of the (yet) unpopular composer, the swedish master Anders Eliasson. Where and when have you heard of him first, was it with Rudolf Serkin?

The conductor Christoph Schlüren introduced me to Eliasson- I hadn’t known his music before. Now I’ve recorded two of his works for piano and hope to record a third next year.
I’m drawn to the spiritual aspect of his music, the rhythmic vitality, expressive ideas and its enigmatic quality.

Why was it among all composers Anders Eliasson that could enthuse you so much? What is it that makes him so special and unique?

I enjoy discovering new composers and Eliassson is both easy and difficult to understand. So the challenge of it is one thing that attracts me to his music. I like that his language is modern and yet there are roots to the western musical traditions which enables a player to feel somehow grounded even when the music is not familiar. It took me a while to see that I could be expressive and make a long line and could take my time inside of the score. I’m actually still on that journey with Eliasson as I work on the Disegno 3. I’m awed by his symphonic work and little by little hope to hear more of his output. I am working on his music today I also feel an inevitable, organic quality always present.

In America you are especially known for performing contemporary music. Do you think, all in all it is easier to become famous (corresponding in a special circle) by playing modern music? And what kind of the new art of sound do you prefer most?

I’ve been fortunate to have many fine composer friends whose music I like to perform. There is something great about receiving a new work in the mail with the ink barely dry. And to be able to work with the composer and discuss the music first hand.

Fame isn’t something to really predict or to try to decipher. One should simply work from the best intentions, always from the purest impulses and some notice may follow. Or it may not.
If 21st-century music is something you love most then you should follow that path. I wouldn’t say it necessarily brings fame along with it.

I think I play what I play best- but sometimes experiment with the unknown and see where it leads.

Beneath your steering towards contemporary composers like Scott Wheeler, Andrew Rudin, Yehudi Wyner, David Del Tredici, Mohammed Fairouz or the already mentioned Anders Eliasson you also have a passion for some etablished masters, especially for composers of the early 19th century like Ludwig van Beethoven, Franz Schubert or Robert Schumann. Why is it this epoch that draws you so much into it?

I have played much Russian and French repertoire as well, but have not recorded it.

But I think sometimes I do best when there is a great deal of structure and discipline to the music as in Schubert, Beethoven, Brahms and Schumann. I like when one’s emotions can work inside of a strict framework. The result can be very poignant and powerful. My teachers, especially the great artists Serkin and Shure, lived inside that repertoire and could relay a sense of that particular epoch.

And are you going to record the Russian and French music one day?
Mainly you have recorded extraordinary large works such as Bach’s Goldberg Variations or Beethoven’s Diabelli Variations as well as his last three and extensive Sonatas. Do those works mean a special challenge of the form for you, that inspires and attracts you?

Yes- I hope to record more and more and include French and Russian repertoire.

I think I have unconsciously followed my teacher’s kind of programming that always included large works- I like the „Mt. Everest“ works for the challenge and the all-encompassing feeling one receives from working on say the Goldberg Variations or Diabelli Variations.

Is there one favourite „Mount Everest“ for you?

I keep daring myself to learn Op. 106, Hammerklavier, of Beethoven. But sometimes you just have to be happy that others have done it so well and perhaps let it go.

The B flat piano concerto of Brahms is another „Mt. Everest“ for me- I’d love to perform it some day.

I think of some of the unexplored modern music as Mt. Everests. I hope there will be as yet unwritten ones waiting for me in my future.

In the end, nothing is easy. A Mozart Fantasy, say- to reach its simplicity and honesty is another kind of Everest.

This is a very true sentence, that also a little piece of music can be a Mount Everest. If I’m allowed to ask, what is the hardest peak to reach for you, on what kind of technique or musical demand do you have to practice most?

Generally speaking I’m aiming for a musical goal in any given phrase and if the technique doesn’t achieve what I’m after I really search for solutions. I don’t think about technique very much- that may be a flaw. I don’t know. I desire things in the music and reach for a technical way to create them. Never the other way round.

Technique is truly our servant, but without it we can’t do much. I admire technique in other players, but never above reaching for a musical goal. I’d rather hear the wrong notes if someone is obviously aiming for something divine.

Could you please give me an example: So if you are working on Beethoven’s Sonata Op. 111, what makes this one so difficult and so special? What is your musical goal playing this sonata?

In Op. 111 of Beethoven for example the music is almost more of a blueprint. You have to aim to meet the fullness of score, or match its demands. See behind the notes (take the fistfuls in the final movement) to the color, motion, and structure that the notes create.

In a work such as Op. 111 Beethoven is traveling somewhere special and the pianist must take that journey.

It’s a great challenge and a joy.

I think in works such as Op. 111 the performance itself leads to new ideas and opens new doors to sound…

I was thinking today, apropos of nothing really, how eloquence is such an important idea in music. Much like acting- when you watch a great actor and see how eloquently he or she turns a page, or stands up or uses his/her voice and facial expressions. And how he/she portrays something.

In music too we have to portray the music- take the notes and phrases and say something. I remember playing the Appassionata sonata of Beethoven as a young person and feeling so close to it- I knew I could portray it well because I had those emotions in my being. We have to own a large repertoire of emotions I think to portray a piece of music.

Anyway, how we play a phrase of music is important-how eloquently we state it.

Now we have been talking a little bit about a technically really difficult sonata by Beethoven, but what about a technically more easy work by Mozart? Do you take the same way to learn such a piece or is there anything different – or everything?

I don’t think there is a difference- you’re looking to find out what the music is doing, its direction, emotional context, structure. Easy usually winds up being deceptively easy.

The last piece of „Inward Voice“ is Franz Schubert’s Sonata No. 19 in C minor D 958. It is the first of the great three last sonatas of this short-lived composer, they build like a cyclical entirety even though each of these sonatas is very long. Why have you chosen this sonata out of the three? And would you agree that these sonatas have a special connection and a compelling cyclical form? Often you can read that the last movement of D 958 is much too long, just a ten minutes hunt without purpose that leaves the listener irritated and confused about what just occured – would you agree with this allegation? What do you see behind this coursing and what’s its message?

I’m working on D 959 now- perhaps I’ll get to experience playing all three and see the connections clearly. As you know I recorded the final three piano sonatas of Beethoven and for me this was a perfect next step, a perfect foil.

The influence of Beethoven seems strong – even down to the key of C minor. Perhaps Beethoven’s death affected Schubert deeply and opened the way for him to write these last sonatas in the way he did. I think there is the most contrast here – light and dark- and the final movement does gallop. Picking the right tempo might be the clue to succeeding in the
Tarantella. I don’t agree that it is too long.

Schubert died four months after completing the last three piano sonatas – a darkness permeates D 959 so perhaps he knew that he was not long for this earth.

Apart from Schubert and Eliasson there is another great work on „Inward Voice“, Robert Schumanns cyclical „Kreisleriana. Fantasien Op. 16“. You made something with this that is really special and unusual: You recorded the whole cycle in one long take instead of splitting it up in its movements. What was the reason for this?

I think when you study Kreisleriana you begin to feel that certain pieces belong together and that the timing between movements is very crucial to the performance. When I performed Kreisleriana live the timing was at the essence of the thing and I wanted to try to keep that in the recorded version.

Last but not least I would like to ask what you want to say to today’s artists. Is there anything you’d like to criticize in our music life, are there any advices you want to give to upcoming artists on their way, or is there something else you just would like to say?

Never lose your sense of obsession or your humility. I think young musicians today seek only fame and fortune and get caught up too soon in the business end of things. When I studied with Shure and Serkin our role models were different. We went after the art of making great music and less the outward reward. Always be a great observer and a great listener. Question the music, and use every influence in nature, art and life to better yourself as a musician.

The people I like most in music are the humblest. I mean I used to watch Rudolf Serkin give a recital and then go into a practice room to work on things he felt could have gone better. Imagine!

Specifically at the piano – develop your ear. Listening is almost everything and listening for something is even better – the desire!

Beth Levin: Inward Voice
Aldilà Records ARCD 005
EAN: 9 003643 980051
[to the German review]

Pfiffige Bläser auf Pionierreise

Arcana A 391, ISBN: 3 760195 733912

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Das Bläserensemble Zefiro spielt unter Leitung seines Gründers Alfredo Bernadini Werke von Michael und Franz Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Friedrich Witt, Gioacchino Rossini, Gaetano und Giuseppe Donizetti, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Schubert und Louis Spohr.

Nicht ohne Augenzwinkern wird man schon den Titel der vorliegenden CD des Labels Arcana, nunmehr Teil des Outhere music-Imperiums, zur Kenntnis nehmen. Dabei ist es ein durchweg seriöses Anliegen, welches der versierte Oboist Alfredo Bernadini mit einigen Gleichgesinnten hier zum Ausdruck bringen möchte. Es handelt sich, wie man dem sehr ausführlichen und historisch fundierten Booklettext Bernadinis entnehmen kann, um zweierlei: Zum einem um die Tatsache, welch eigenständige, aber gerne unterschätzte Rolle Bläserensembles und -orchester in der Musikgeschichte spielten; zum anderen um die Faszination des neuzeitlichen Europa für morgenländische Exotismen in der Kunst, die generell als „Türkerien“ bezeichnet wurden. Beide Phänomene, sowohl an und für sich als auch in der Symbiose, interessierten diverse namhafte Komponisten, und die daraus resultierenden künstlerischen Ergebnisse haben nun Bernadini und dessen Zefiro-Ensemble zu einem Konzeptalbum vereinigt.

Den Start dieser Pioniertat, die im Januar diesen Jahres in der Gustav Mahler-Halle in Toblach mitgeschnitten wurde, macht Michael Haydn mit einem Türkischen Marsch für Bläser. Dafür, dass dieser Meister oft auf die Rolle des Salzburger Dommusikmeisters eingeschränkt erscheint, beweist der Marsch erstaunliche Frische und Einfallsreichtum, was die Zefiri mit Neugier und Spielfreude direkt umsetzen. Einen angenehmen Kontrast dazu bietet die Introduzione zum zweiten Teil der Sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuze von Franz Joseph Haydn in einer Fassung für Bläser. Sehr zu loben ist bei den authentischen Instrumenten und deren Nachbildungen das Wiener Kontrafagott von Augustin Rorarius, welches Maurizio Barigione rein und stimmig beherrscht, was gerade bei historischen Instrumenten und deren Stimmung nicht selbstverständlich ist.

Insgesamt ist es der reizvolle Wechsel zwischen Wiederentdeckungen und „Altbekanntem“ (in neuem Gewand), was die CD so lohnenswert macht. Hierzu trägt ein weiterer Komponist im Schatten seines prominenten Bruders bei: Giuseppe Donizetti. Zwar musste Bernadini dessen Marsch für Mahmud in F-Dur entsprechend bearbeiten, doch ist dies eine von zwei Ausnahmen auf der CD, zumal es sich hier um Musik handelt, die sich nicht hinter dem Werk Gaetanos zu verstecken braucht.

Vor allem jedoch ist es der musikalische Anspruch, den Bernadini und seine Musiker bei aller Liebe zu historischen Details verfolgen. Besonders beim Concertino für Oboe und Harmoniemusik von Friedrich Witt – lange fälschlicherweise Carl Maria von Weber zugeschrieben – beweisen die Mitwirkenden, dass sie mehr können als nur musikalische Baisers zu bieten. Mit Leichtigkeit, Ernst und Sinn für das Konzertante geben sie dieses Kleinod wieder.

Auch ein Nocturno in C-Dur MWV P.1 Felix Mendelssohn-Bartholdys, das dieser mit gerade 15 Jahren schrieb, weist eine ähnliche Großanlage auf. Wenn hier das Allegro vivace eintritt, macht sich der Begriff „Harmoniemusik“ auf andere Art bemerkbar: Mit stetem klanglichen Zusammenhalt präsentieren die Zefiri einen symphonischen „Frühwurf“ des Komponisten, der trotz seiner großen Anlage keineswegs überladen, sondern transparent und durchdacht wirkt. Lediglich an einigen leisen Stellen vergreift sich die Flöte mal, doch wäre es kleinlich, daraus ein großes Manko zu konstatieren.

Gelegenheit zur solistischen Gestaltung erhalten die Hornisten Dileno Baldin und Francesco Meucci in den ersten zwei Minuten der Kleinen Trauermusik Franz Schuberts D 79. Gerade für alte Hörner ist es nicht leicht, einen sauberen und musikalischen Duktus zu finden, zumal in einer Tonart wie es-Moll. Das gelingt den beiden Musikern hier jedoch tadellos. Im gemessenen Grave-Rhythmus und unsentimental formen sie diese Trauermusik, auch zusammen mit anderen Bläsern, als schönen Gegenpol zum vorhergehenden Nocturno. Nichtsdestoweniger ist es die eher heitere Seite, die das Ensemble Zefiro insgesamt hauptsächlich vertritt, so auch beim großen Abschluss der CD, dem Notturno Op. 34 von Louis Spohr. Nicht umsonst erinnert der erste Satz in C-Dur dieses sechssätzigen Werkes wiederum an Haydns Türkischen Marsch. Umso differenzierter komponiert ist das folgende Menuetto allegro, in c-Moll stehend, zugleich auch beschwingter. Ganz im Stile seiner Zeit klingt das Thema des dritten Satzes, eines Andante von variazioni. Und gerade hier zeigen die einzelnen Musiker, wie viel Leben, Virtuosität und Facettenreichtum sie aus ihren Instrumenten hervorlocken können, zumal man nicht unbedingt den Eindruck bekommt, es handle sich hier um radikale „historische Aufführungspraxis“.

Keine Türkerie, aber sehr wohl ein historischer Exotismus ist die folgende Polacca mit Trio, und auch hier fehlen niemals die Spielfreudigkeit und klangliche Ausgewogenheit des Ensembles. Geht man davon aus, dass ein Nocturno eher ruhig und dunkel zu klingen habe, so erfüllt diesen Stereotyp am ehesten das darauffolgende Adagio, welches die Zefiri mit gleichmäßigem Fluss sowie mit Ernst ohne Schwere zu spielen vermögen. Doch schließt Bernadini seinen Booklettext nicht umsonst mit folgendem Satz: „Es mag überraschen, dass so viele laute Instrumente für eine Nocturne vorgesehen sind… Aber wer sagt denn, dass die Zeit der Nacht beständig ruhig sein soll?“ Die Antwort liegt im letzten Track der CD, dem Finale vivace, einem Rondo. Darin offenbaren die Musiker, vor allem die Klarinetten, nochmals ihr ganzes technisches und musikalisches Können, ohne dabei zu eilig oder gar lärmend zu klingen, und beschließen somit ihre pfiffige Pionierreise durch die Zeit, die zugleich ein kleiner Beitrag zum eher vernachlässigten Repertoires ist, würdevoll ab.

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

Mit Wort und Ton

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Die junge italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini spielt am 28. November 2015 im Bürgerhaus Eching ein Klavierrezital, welches aufhorchen lässt. Sie beginnt mit der hochvirtuosen Fantasie C-Dur Op. 17 von Robert Schumann und lässt die erste Ballade in g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin folgen. Nach der Pause gibt sie eine weitere Fantasie in C-Dur, nämlich die „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760, von Franz Schubert, und der Kreis schließt sich mit „Les cloches de Genève“ und „La Vallée d’Obermann“ aus „Les Années de Pélerinage“ von Franz Liszt, dem die Schumann-Fantasie gewidmet ist.

„Die Suche nach einer neuen Art des Hörens“ nimmt sich Ottavia Maria Maceratini zur Aufgabe, wie sie in ihrem kurzen, sehr inspirierenden Vorwort zu ihrem Rezital im Echinger Bürgerhaus verlautbart. Auf diesem Weg will sie experimentieren und Neues ausprobieren. So macht sie es auch an diesem Abend, wo sie neben der Musik auch die Bühnenatmosphäre stimmig ausgestaltet: Nach hinten ist die Bühne mit schwarzen Vorhängen ausgekleidet und das Licht im gesamten Saal ist extrem heruntergedimmt, dafür leuchtet oberhalb des Flügels für jedes Stück ein neues Zitat aus dem Mund des jeweiligen Komponisten auf, welches sie sorgfältig dafür ausgewählt hat.

Das Programm macht staunen, gleich zu Beginn fesselt eines der ganz großen Werke von Robert Schumann, seine Fantasie C-Dur Op. 17. Zwischen 1836 und 1838 komponiert, zählt die dreisätzige Fantasie zu den bekanntesten Werken Schumanns und verlangt neben höchster Virtuosität auch ein genauestes Verständnis des musikalischen Verlaufs und ein gewisses untergründiges Gespür für die Musik Beethovens, die er mehrfach zitiert. Ottavia Maria Maceratini beweist eine unglaublich gute Kenntnis aller einzelnen Stimmen in dieser Fantasie, die jede zum Leben erweckt wird und deren keine zur bloßen Begleitfloskel degradiert ist – besonders anschaulich lässt sich dies im Intermezzo „Im Legendenton“ des Kopfsatzes erkennen, welches mit einer überwältigenden Stimmpolyphonie in vollkommen unterschiedlichen Spielweisen aufwartet. Die Pianistin besitzt einen äußerst feinfühligen, gesanglichen Ton und lässt ihre Kantilenen in höchsten Sphären schweben, ist aber auch ebenso in der Lage, machtvoll in die Tasten zu langen und ein markerschütterndes Fortissimo hervorzubringen. Dieses wirkt zu keiner Zeit geschlagen oder gewalttätig akzentuiert, sondern folgt viel eher einer natürlichen Energieübertragung aus dem Körper, was Maceratini wohl ihrem intensiven Training von asiatischen Kampfsportarten zu verdanken hat, wo genau diese Weiterleitung der Kraft aus dem Körperzentrum oberste Priorität besitzt.

Bei dem folgenden Werk, der Ballade Nr. 1 g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin, hatte ich bereits häufiger das große Glück, es mit der dieser Musikerin hören zu dürfen. Auch spielte sie es dieses Jahr in Bild und Ton ein und ließ es auf YouTube erscheinen, womit sie geradezu einen absoluten Maßstab setzte. Nun hat die Darbietung dieses Meisterwerks direkt noch einmal an musikalischer Substanz gewonnen, es wirkt als komplette Einheit in fließender Stringenz ohne einen Moment des Spannungsabfalls. Noch nie habe ich die donnernden Schlussläufe so schreiend wild und gleichzeitig so niederschmetternd erlebt wie jetzt, so fokussiert drängten sie auf ihren Abschluss hin (ein Gestus von vergleichbar starker Wirkung findet sich auch noch in der Etüde Op. 33 Nr. 8 von Sergej Rachmaninoff, die ebenfalls in g-Moll steht). Deutlich wahrnehmbar sind auch die Walzeranklänge, die immer wieder durchbrechen und in so vielen Darbietungen komplett verlorengehen. Obwohl Ottavia Maria Maceratini vermutlich erheblich mit dem schwerfälligen Instrument zu kämpfen hatte, waren keine Einschränkungen zu spüren.

Gleich nach der Pause erklang ein weiterer Gigant der Musikgeschichte, Franz Schuberts so beliebte wie gefürchtete „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760. Es wirkt, als wäre sie nicht aus Schuberts Zeit, so fortschrittlich modern erscheint die Gestaltung und Fortspinnung des Materials. Die Themen und Motive lässt Ottavia Maria Maceratini auch inmitten des dichtesten Notenbildes noch hervorglänzen und gestaltet alles in feinster Manier aus, die virtuosesten Läufe und Figuren kommen perlend brillant und ohne den geringsten Hauch einer vernehmbaren Anstrengung, und stetig bleibt der große Zusammenhang durch diese Gesamtform in mehreren Teilen hindurch gewahrt. Zwar möchte sich auch hier der Flügel wieder wehren gegen das Donnern der mächtigen Akkordpassagen, doch wird er gebändigt und das Maximum an nur erdenklichen Klangfarben herausgezaubert. Nach dem Konzert eröffnet mir die Solistin, sie übe bereits seit einem Jahr an diesem großen Werk, doch sei ihr Weg damit noch lange nicht an einem Ende – auch wenn der heutige Abend nur eine Zwischenstation auf diesem Weg ist, so liegt auf jeden Fall ein größerer Weg bereits hinter ihr, als ihn die meisten Pianisten jemals beschreiten werden.

Zwei Werke des großen Klaviervirtuosen Franz Liszt, des Paganini auf dem Klavier, bilden den letzten Teil des Klavierrezitals. Die Nocturne „Les choches de Genève“ ist ebenso wie die Wanderer-Fanzasie komplett der Zeit voraus und wirkt eher wie ein Werk des französischen Impressionismus. „La Vallée d’Obermann“, ebenfalls aus Les Années de Pélerinage (Die Pilgerjahre), einem dreibändigen Werkzyklus bestehend aus 26 Stücken, bildet den Abschluss. Das letztere ist ein mit circa 15 Minuten Spielzeit auch recht umfangreiches Werk und wird vor allem durch Akkordrepetitionen und später auch Oktavparallelen bestimmt. La Vallée d’Obermann zu verstehen ist keine einfache Aufgabe, denn es ist sehr dicht und in einer nur schwerlich heraushörbaren Form gestaltet. Ottavia Maria Maceratini gelingt es allerdings, für beide Liszt-Stücke ein tiefgehendes Verständnis zu entwickeln und die beiden so grundverschiedenen Konzepte dahinter zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln. Auch wenn mir selber La Vallée d’Obermann noch etwas sehr donnernd und über manche Strecken recht langatmig erschien, so scheint mir das doch hauptsächlich am Stück zu liegen und nicht an der Solistin.

Als Zugabe gibt es noch Aram Khachaturians Toccata in es-Moll von 1932. Auch dieses Bravourstück nahm Ottavia Maria Maceratini vor längerer Zeit bereits auf Video auf und es ist heute auf YouTube zu bewundern. Akzentuierte Rhythmik und ständige Tonrepetitionen treiben diese Toccata einem Motor gleich an, nur unterbrochen von einem konfliktrhythmenreichen kurzen Mittelteil. Das unaufgelöste Ende auf einem stark dissonanten Akkord hinterlässt den Hörer fragend, doch eine Antwort kann es nicht geben. Ottavia Maria Maceratini nimmt die Toccata schwungvoll und fast scherzhaft, ohne zu viel Kraft in die Motorik hineinzugeben, was ihr etwas Leichtes, fast Tänzerisches verleiht. Diese Leichtigkeit verliert sie auch zum Ende hin zu keiner Zeit und lässt unvermittelt in die Schlussakorde hereinbrechen, die sie nicht auskostet, sondern vielmehr den Hörer verdutzt zurücklässt. Diese Art des Zuendekommens habe ich bei dem Stück so noch nie gehört und mir lange den Kopf darüber zerbrochen, was es so einzigartig machen konnte – doch wie das Stück selber gibt auch diese Frage keine Antwort her.

Am Ende ist wohl jeder Hörer im Bürgerhaus Eching im positiven Sinne überrumpelt, erschöpft und glücklich über einen so intensiven musikalischen Abend mit einer absoluten Ausnahmepianistin, die mit einer so freudigen und hellen Art an die Werke geht und immer voll dabei ist, ohne nur den Bruchteil einer Sekunde etwas anderes im Kopf zu haben als die Musik. Sie sucht einen neuen Weg des Hörens und diesen beschreitet sie auf ganz eigentümliche, phänomenale Weise. In einem Alter, wo sich die meisten nur an hochvirtuosen Höchstschwierigkeiten abschinden und die Geschwindigkeit ihrer Finger präsentieren, ist Ottavia Maria Maceratini bereits so gereift und ihrer selbst bewusst, dass sie all das nicht nötig hat; sie vertraut der Musik und sie vertraut ihrer Suche, die sie wohl immer weiter führen wird in das Herz der Musik. Da bleibt nur, gespannt zu sein, mit was noch allem sie uns überraschen wird, welche Pläne sie als Nächstes hat und welch einen unverwechselbar unmittelbaren Zugang sie uns noch schenken wird hinein in die wahre Musikalität.

[Oliver Fraenzke, November 2015]

Anfang und Ende eines großen Symphonikers

Sony Classical; Deutschlandradio Kultur; ISBN: 8 88751 56972 0

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Die erste und die nur fragmentarisch erhaltene letzte Symphonie, jeweils in D-Dur, des jung verstorbenen Franz Schubert bilden das kurze Programm der neuen CD-Einspielung der Kammerakademie Potsdam unter Leitung ihres Chefdirigenten Antonello Manacorda.

Es klingt eigentlich recht logisch: Die erste Symphonie eines Komponisten ist deutlich beeinflusst von dessen großen Vorbildern und die letzte schließlich ist die absolute Eigenständigkeit und vollendete Individualsprache des Meisters. So zumindest ist es immer und immer wieder zu hören und zu lesen – wie zum Beispiel auch im Booklet der vorliegenden CD, welches Albert Breier verfasst hat. Doch lauscht der Hörer einmal genau in die entsprechende Musik hinein, so dürfte er relativ schnell feststellen, dass dies auch dann nicht der Fall sein muss, wenn sich anscheinend alle darüber einig sind. Zweifelsohne lässt sich die aufgestellte These bei Franz Schubert umgehend als falsch deklarieren (übrigens nicht weniger bei Beethoven, dem in seinem symphonischen Erstlingswerk ebenfalls gelegentlich ein bisschen Haydn-Epigonentum vorgeworfen wird, und bei vielen anderen wie Niels W. Gade, Edvard Grieg, Jean Sibelius, Douglas Lilburn et cetera, denen allen ungerechtfertigterweise der unverkennbar eigene Ton in ihren Frühwerken beziehungsweise bei Lilburn oder Gade von manchem „Experten“ sogar in ihrem Gesamtwerk abgesprochen wird. Bei anderen Komponisten wie Mahler, Mozart, Bach oder Haydn ist von so etwas kaum einmal die Rede, obgleich auch sie natürlich gleichfalls Vorbilder hatten). Selbstverständlich lassen sich Anklänge an die Idole erkennen und werden teils durchaus deutlich, aber davon abgesehen liegt bei Schubert (und auch bei allen anderen genannten Namen) ohne den leisesten Verdacht eines Zweifels schon sehr früh eine große Eigenleistung vor, die sich deutlich von Vorherigem abhebt und bereits in jungem Alter einen eigenen Ton schafft. Die Behandlung des Orchesterapparats in relativ großer Besetzung ist trotz der für Schuberts bekanntere Werke ungewohnt freudig-festlichen Stimmung eine vollkommen andere als bei Haydn oder Mozart. Ironischerweise widerspricht sich bei der Aufzählung der angeblichen Vorbildwerke sogar der Booklettextautor, der den Hauptsatz gerne auf Beethovens Eroica errichtet sehen würde, aber gleichzeitig schreibt, von Beethoven seien um die Zeit allerdings nur die ersten zwei Symphonien im Repertoire des Konviktsorchesters für Schubert zu hören gewesen. Bei dem von Brian Newbould ergänzten Fragment des Andantes, welches vermutlich einer zehnten Symphonie angehören sollte, haben alle Klischeeliebenden dafür ihre Freude, es gehört tatsächlich zu den handwerklich und stilistisch vollendeten und innigen Manfestationen des unumstößlich erkennbaren Spätstils von Franz Schubert.

Die Kammerakademie Potsdam unter Antonello Manaconda nimmt die Werke insgesamt ziemlich schwungvoll und akzentuiert mit einem vollen Orchesterklang. Abgesehen von der frechen Verspieltheit im Finale der ersten Symphonie erzeugt das Spiel meist eine pathetisch-aufgeladene Wirkung mit gewissem Drang nach vorne. Im Symphoniefragment nimmt Manacorda die Scharfkantigkeit mehr heraus und vertraut eher dem lyrischen Moment, was dem Satz einen überlegenen Vorteil gegenüber dem Andante des Erstlingswerkes verschafft. All das Pompöse und Heroische ist auch nicht immer vorteilhaft für diese Musik, gerade die Adagio-Introduktion des Kopfsatzes ist dadurch ein wenig zu mächtig für die an sich erwünschte Wirkung eines durchsichtigen und beweglichen Orchesterklangs. Anstelle dessen erhält der Hörer eine durch ungebändigte Tuttischläge aufwühlende und in unglaubhaftem Pathos badende Musik, was zwar durchaus auch einen gewissen Reiz haben kann, aber hier doch ziemlich überzogen ist. Wie man eine gute Synthese zwischen diesen Gesten erhalten kann, präsentiert Manacorda selbst, und zwar im gleichen Werk: Der Finalsatz ist wesentlich stimmiger und auch alle Scharfkantigkeit der Fortepassagen wirkt mehr in den sinnvollen Kontext eingebunden. Das Finale zeichnet eine besondere Stringenz aus, die einen vom ersten bis zum letzten Ton im Bann hält – was sich vom Kopfsatz nicht behaupten lässt, da die Wiederholung zudem die ganze Angelegenheit unendlich lang erscheinen lässt, denn viel zu weit hat sich das dramatische Geschehen bereits vom Ausgangspunkt entfernt, als dass es noch einmal von Beginn an sinnträchtig abgespult werden könnte. Interessant gestaltet sich die Ausdifferenzierung des Menuetts mit seinem kontrastierenden Trio-Mittelteil. Durch eine leichte Temporücknahme gelingt es Manacorda hier, einen deutlichen Kontrast zwischen den beiden Abschnitten herzustellen, der sehr weibliche Elemente im Trio hervorkehrt und äußerst männliche im Menuett. Das ist natürlich hier etwas romantisierend übertrieben.

Eine vollkommen neue Welt kann sich schließlich in der spät entdeckten und als solche identifizierten Symphonie Nr. 10 D 936A öffnen. Solch eine Schönheit zeigt sich in diesen Orchesterklängen und betört dazu mit fabelhaften Orchesterwirkungen, so dass der von Brian Newbould rekonstruierte und orchestrierte Satz fast zum Träumen einladen würde, wäre da nicht diese Doppelbödigkeit, die Schubert so ausmacht und einen doch aufs Neue schlucken lässt angesichts dessen, was sich hinter der Fassade verbergen mag.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Beth Levins „Gesamtkunstwerk“

Aldilà Records ARCD 005; EAN: 9 003643 980051

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Ein scheinbar unkombinierbares Programm, vereint zu einem unzertrennbar wirkenden Ganzen ist auf dem ersten europäischen Album von Beth Levin zu hören. Inward Voice heißt die CD der amerikanischen Pianistin, die Schumanns Kreisleriana, Anders Eliassons Versione per pianoforte und Franz Peter Schuberts späte Sonate c-Moll D 958 zu kombinieren vermag.

Lange Zeit in größter Bescheidenheit dem internationalem Star-Rummel fern geblieben, tritt die Amerikanerin Beth Levin endlich ans Licht mit ihrer ersten CD-Veröffentlichung außerhalb der USA und bietet in dieser direkt ein atemberaubendes Programm dar. Jedes dieser Werke mit grundverschiedenem Gestus ist für sich schon eine technische und interpretatorische Herausforderung besonderer Güte, doch Beth Levin geht noch ein Stück weiter: Sie lässt die Werke in einem einzigen durchgehenden Bogen verlaufen, so fließt Schumann ohne merklichen Bruch in die eigenwillige, 135 Jahre später komponierte Versione des schwedischen Neuerers Anders Eliasson über, welche wiederum von Schubert so aufgefangen und zurück in klassische Sphären geworfen wird, als wäre es exakt so komponiert. Somit schafft die Pianistin ein wahres Gesamtkunstwerk, verbunden durch die zum Hörer durchdringende Zuwendung zu jedem Stück und zu jeder Note.

Das Cover macht fast den Eindruck, als handle es sich bei Inward Voice um eine etwas klein geratene Schallplatte mit seinem stilllebenhaften Schattenabbild eines Baumes und dem kleinen eingerahmten Schriftzug mit dem Inhalt der CD. Dies, malerisch anzuschauen und unmittelbar an alte Vinyltonträger erinnernd, trägt – ebenso wie die von Gil Reavill verfassten Gedichte zu den einzelnen Programmpunkten – zu einer einheitlichen Gesamterscheinung bei, zu jener überwältigend konzipierten Programmdramaturgie, die die Amerikanerin kunstvoll ersonnen hat. Nicht zuletzt Teil dieser Erscheinung ist ihr Spiel, welches sich nämlich komplett von der Masse heutiger Gepflogenheiten abhebt; sie erreicht eher die musikalischen Qualitäten der großen Musiker der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile gebräuchliche Hörgewohnheiten und standardisierte Auffassungen lassen Beth Levin vollkommen kalt, sie folgt einem ganz eigenen Weg. Allgemein ist ihr Spiel äußerst feinfühlig und frei von jeder Gehetztheit, alles behält eine innere Ruhe; gerade in den sehr bewegten und lebhaften Stellen der Kreisleriana sowie dem meist zur Hetzjagd ausufernden Finale der Schubertsonate beweist sie unglaubliche Kontrolle und schafft damit absolute Referenz. Ebenso spektakulär ist das technische Vermögen der Pianistin, handelt es sich doch um eine ungeschnittene Liveaufnahme im Studio und dennoch lässt sich fast an keiner Stelle einmal eine punktuelle Unsauberkeit herausfiltern – auch bei genauer Kenntnis des Notentexts.

Beth Levin weiß genau, was sie will. Ersichtlich wird dies alleine schon durch die Tatsache, dass die Kreisleriana in dieser Einspielung ein einziger Track ist und nicht in die acht Stücke zersplittert wurde. Endlich wird man derart gezwungen, dieses Einheitswerk wirklich als Einheit zu hören! Auch innerhalb des Werkes ist exakt bedacht, welche Wiederholungen gespielt werden sollen und welche nicht, ebenso bei Schubert. Nicht vergessen sollten auch Beth Levins Notizen zur Kreisleriana im allgemein sehr lesenswerten und interessant illustrierten Booklet bleiben, die persönliche Assoziationen zu Schumanns Op. 16 und Tipps für Pianisten beinhalten. In keinem der Stücke scheute die Pianistin davor zurück, kleine dynamische Akzentuierungen vorzunehmen, um die energetische Linie herauszubringen anstatt stur zum Beispiel ein auf die Auflösung deplatziertes Sforzato übermäßig herausknallen zu lassen. Gerade bei Eliassons Versione per pianoforte, einem von nur fünf Klavierwerken des im vorletzten Jahr verstorbenen Meisters (welches im Übrigen hier als Ersteinspielung vorliegt), nutzte sie detailliert leichte dynamische Abweichungen, um die Lautstärke in ein dem Spannungsbogen entsprechendes Verhältnis einzugliedern. Dafür sind die dynamischen Unterschiede durchgehend umso beträchtlicher, in einer vollkommen ungewohnt geradezu orchestrale Kontraste schaffenden Weise. Alle rhythmischen Komplikationen meistert Beth Levin dabei spielerisch, egal ob ständige Taktwechsel oder abstruseste Positionierung kürzester Notenwerte, nichts bringt sie von einem gleichmäßigen Pulsieren ab, so dass auch die zwei Monate vor seinem Tod komponierte Sonate c-Moll Franz Schuberts mit ihren sprunghaften Wechseln von triolischem zu duolischem Denken keine Schwierigkeit, jedoch umso spannenderes Geschehen darstellt.

So bleibt nur, gespannt zu warten auf die hoffentlich bald nachfolgende nächste Einspielung von Beth Levin, für alle, die nach diesem großen Wurf sicherlich Lust auf mehr bekommen. Mit nur einem Tag Aufnahmezeit hat sie bewiesen, dass auch ohne Willkür und unreflektierte Eingriffe in den Notentext sowie ohne erkünstelte Manierismen, allerdings mit in seiner unwillkürlichen Wucht absolut fesselndem Rubato, das scheint, als könne es gar nicht anders sein, ein gänzlich eigener Stil geschaffen werden kann.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Kammermusik in Freimann

Ein mannigfaltiges Programm für Violine und Klavier war am 20. September in der Villa Mohr in München-Freimann (Situlistraße) zu hören. Der Bogen wurde dabei von Isabel Steinbach geführt und an den Tasten agierte der aus Bombay stammende Pianist Pervez Mody, zusammen treten sie als Duo Appassionata auf. Altwiener Tanzweisen von Fritz Kreisler und eine Duobearbeitung von Edvard Griegs Peer Gynt Suite Nr. 1 durch Hans Sitt standen neben Ludwig van Beethovens siebter Violinsonate in c-moll op. 30/2 und Franz Schuberts Rondeau brillant h-Moll op. 70 auf dem Programm.

Eine recht eigentümliche und doch erstaunlich stimmige Werkreihenfolge bietet der Abend in Freimann auf, Kreislers Altwiener Tanzweisen vor Beethovens ernster „Grande Sonate“ c-Moll in der ersten Hälfte und Griegs berühmte Peer Gynt Suite Nr. 1 vor dem recht selten dargebotenen Rondo in h-Moll von Schubert nach der Pause sind durchaus interessante Kombinationen von divergierenden Stilsphären. Der schnelle Wechsel zwischen so unterschiedlichen Welten ist eine wahre Herausforderung für die Musiker, die erst kurz vor dem Konzert aus Österreich eintreffen. Ganz ohne Anspielprobe, ohne Warm Up müssen sie das anspruchsvolle Programm präsentieren!

So ist es nicht verwunderlich, dass Liebesfreud und Liebesleid aus Kreislers Feder noch nicht den Wiener Schwung erhalten, wodurch der Tanzcharakter fast etwas stolpert. Pervez Mody besticht dessen ungeachtet durch eine außergewöhnlich leichtfüßige Begleitung in strahlendem Staccato, das zwar an sich viel zu kurz ist, aber in der eleganten Art der Ausführung einen sehr eigenen Charme erhält. Die Violinstimme wirkt darüber etwas statisch, ist aber auch durchgehend durchdacht und sanglich geführt. Der kühne Wechsel zu den düstereren Welten von Beethovens Violinsonate Nr. 7 gelingt tatsächlich und das schlichte Thema begibt sich auf seine Reise durch den technisch äußerst delikaten Kopfsatz, in dem beide ihre zweifelsohne brillanten Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Gerade im ersten Satz muss der Hörer unweigerlich darauf stoßen, wie eingespielt diese beiden Musiker sind, jedes Thema wird übergangslos vom jeweils anderen Spieler aufgenommen und weitergeführt, dynamisch sind sie perfekt aufeinander abgestimmt und auch in der Phrasierung herrscht große Einigkeit – was bei allzu vielen Duetts nicht wirklich anzufinden ist. Anzumerken ist hier nur, dass beide Musiker immer wieder der heute sehr beliebten Mode verfallen, gegen jede Verstellung von natürlichem Spannungsaufbau die Auflösung einer Linie ebenso wie die Taktschwerpunkt oft ungeachtet ihrer kontextuellen Bedeutung zu akzentuieren. Nach einem ziemlich unstetigen und vielerorts zu sehr nach vorne drängendem (von Anfang an bereits zu eiligen) Adagio reißt das Duo Appassionata in Scherzo und Finale mit. Pervez Mody erweist sich als so geschmeidiger Begleiter, so dass sich Isabel Steinbach vollends auf dieser hervorragenden Grundlage entfalten kann, sein Spiel ist auch in den zerklüftetsten Passagen rein und durchsichtig mit einer unerschütterlichen Lockerheit.

Nach der Pause wird das Programm durch Grieg fortgeführt, dessen erste Suite aus der Bühnenmusik zu Peer Gynt von Henrik Ibsen hier in einer Duobearbeitung von Hans Sitt erklingt. Der in Prag geborene Sitt ist heute als Komponist vollkommen in Vergessenheit geraten, abgesehen von kurzen Stückchen für den Geigenunterricht, eine Entdeckung unter anderem seiner Violinkonzerte oder seines Bratschenkonzerts (er war neben seiner Geigenlehrtätigkeit in Leipzig auch als Bratschist im Brodsky-Quartett tätig) wäre sehr wünschenswert. Zu lesen ist der Name nur auf Arrangements, viele der international berühmten Geigenvirtuosen greifen immer wieder auf seine Bearbeitungen zurück (zu nennen beispielsweise Henryk Szeryng, der Nardinis e-moll-Konzert ausschließlich in Sitts Fassung spielte). Die Version für Violine und Klavier ist erstaunlich gut gelungen, die Musik erhält eine ausgewogene Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Kräften, zwischen denen die Themen stimmig aufgeteilt sind. Die Morgenstimmung erklingt in der Darbietung des Duos Appassionata noch recht willkürlich, die kleinen Ritardandi schmälern den Eindruck der aufgehenden Sonne, wobei allerdings im späteren Verlauf das Tempo so stark beschleunigt, dass von einer Morgenidylle nicht mehr die Rede sein kann. Wesentlich gelungener sind dafür vor allem die folgenden Stücke Åses Tod und Anitras Tanz in all ihren verschiedenartigen Ausdrucksmitteln. Hier zeigt sich, wie stark sich die Instrumentalisten mit der skandinavischen Musik auseinandergesetzt haben – auch ihr letztes gemeinsames Album enthält Sonaten von Sinding, Gade und Grieg. Das Klangresultat erhält eine spielerische Natürlichkeit und schäumt nicht über vor falschem Pathos.

Das Finale bildet Schuberts Rondo für Violine und Klavier h-Moll op. 70, das wohl risikoreichste Werk des Abends; so schnell kann die komplexe Struktur zerbrechen und die dramatische Tiefgründigkeit in oberflächliche Virtuosität umkippen. Immerhin gelang es dem Duo, den Hörer hineinzuziehen in das musikalische Geschehen; dennoch können auch sie nicht verhindern, dass der große Zusammenhang und die potentielle Stringenz dieses viertelstündigen Werks teils abglitt und der Hörer kurzzeitig seinen Halt in der fragilen Welt verliert. Dennoch ist das Rondo durchwegs reflektiert dargeboten und die musikalische Leistung sehr beachtlich, gerade im Vergleich mit vielen teils großen Virtuosen, die aus dem packenden Seelengemälde weitaus weniger herauszuholen vermögen als Steinbach und Mody. Als Zugabe gibt es erneut Kreisler, diesmal wesentlich schwungvoller und wienerischer als zu Beginn des Abends, und den Brautraub aus der zweiten Peer Gynt-Suite, der durch feine Klangeffekte betört.

Das Duo Appassionata überzeugt den gesamten Abend durch ein äußerst fein abgestimmtes Zusammenspiel, das sich in vierzehn Jahren gemeinsamen Wirkens gefestigt hat. Dadurch schleichen sich allerdings auch routinemäßig willkürliche Elemente mit ein, so beispielsweise genannte Überakzentuierung von Auflösungen und Taktschwerpunkten oder auch zerfasernde Tempi, welche immer wieder treiben oder unbedacht schwanken, was allerdings angesichts der enormen Musikalität im Spiel der beiden verziehen werden kann. Isabel Steinbach präsentiert sich als technisch ausgereifte Violinistin, die ihr Programm nüchtern und distanziert betrachtet, sich also zu keiner Zeit von zu Unachtsamkeit lockenden Schwärmereien hinreißen lässt, Pervez Mody hingegen trumpft auf mit ungeahnter Klangkontrolle und -vorstellung sowie seiner entspannten Art des Klavierspiels, bei beiden ist ein feinfühliges Aufeinander-Eingehen spürbar.

[Oliver Fraenzke, September 2015]