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Ein Glaubensbekenntnis an die Musik

Zum Neustart der Klassikreihe im Bürgerhaus Eching spielen der Violinist Denis Goldfeld und die Pianistin Sofja Gülbadamova am 3. Juli 2021 ein hoffnungsvolles Programm fast ausschließlich in Dur. Sie eröffneten den Abend mit Schuberts Violinsonate D-Dur D 384, worauf Beethovens 8. Violinsonate in G-Dur op. 30/3 folgte. Nach der Pause fügten die Musiker ein modernes Werk, welches nicht auf dem Programm stand: Ein Andante Tragico der Komponistin Lera Auerbach, das für die Künstler ein Sinnbild der durchlittenen Coronapandemie darstellt. Als Hauptwerk des Abends spielten Goldfeld und Gülbadamova die Erste Violinsonate op. 78 von Johannes Brahms, rundeten mit dessen Scherzo aus der F.A.E.-Sonate ab.

Welch ein seltsamer Augenblick für uns Zuhörer, auf einmal wieder im Konzertsaal zu sitzen – und wie viel seltsamer noch für die auftretenden Musiker, die nun teils über ein Jahr nicht mehr vor Publikum standen. Das Erlebnis war somit in jeder Hinsicht ein Besonderes. Und dies wurde bei Künstlern wie Zuhörern spürbar: Als die Musik anhob, so waren wir wie in einer Parallelwelt, gebannt von den Klängen. Es fühlte sich zugleich vertraut an und dann fast neuartig. Denis Goldfeld und Sofja Gülbadamova rangen im positivsten Sinne um die aufsteigenden Emotionen, die gerade bei Komponisten wie Schubert und Brahms doppelbödiger kaum sein könnten. Doch gewannen sie den Kampf insofern, als dass sie sich nicht überrumpeln ließen von der geballten Macht der ertönenden Großformen, sondern es schafften, diese zu kanalisieren und dem Publikum zu vermitteln, ja zu verkünden. Denis Goldfeld schwelgte sichtbar auf den Tönen, kontrollierte sie empfindsam im Entstehen und stellte jede Zelle seines Körpers in den Dienst der Musik, was seinem Spiel größtmögliche Sinnlichkeit und Purität verlieh: Echter, ungekünstelter Ausdruck in jeder Schwingung. Sofja Gülmadamova verkörperte eine andere Herangehensweise: Sie näherte sich vom Bild auf die Gesamtform den einzelnen Passagen, um nie den Zusammenhang zu verlieren. Aller äußerlichen Virtuosität schwor sie ab, erwägte gar jede ihre Bewegungen, die nur der Tongebung gelten sollten. In der Symbiose der beiden Künstler verschwammen die unterschiedlichen Grundzüge zu einer durch und durch funktionierenden Einheit. Die Musiker gaben ihr Innerstes preis, was das Erlebnis dieses Konzerts umso intensiver und intimer gestaltete, den Zuhörer vollends in das Geschehen integrierte. Der gemeinsame Atem, der sich in 20-jähriger Kammermusikpartnerschaft etablierte, der nach dieser Pause nun wieder außergewöhnlich erschien, sprang auch auf das Publikum über.

Wohl dauerte es aus Sicht des Publikums teils noch, sich auf diese Situation neu einzustellen, aber spätestens im Mittelsatz der Beethoven-Sonate war auch der Letzte vom Alltag befreit in den Wogen der Musik gefangen. Diejenigen, die sich schon früher aus der normalen Welt zu lösen vermochten, erlebten vom ersten Ton an Großes: Die jugendliche D-Dur-Sonate Schuberts, mit 19 Jahren geschrieben, enthielt schon den Kern des späteren Melodik-Großmeisters, behielt dennoch unter den Fingern Gülbadamovas und Goldfelds die jugendliche Frische und Heiterkeit – wenngleich die scheinbare Fröhlichkeit bereits hier teils gebrochen erscheint. Der Kopfsatz von Beethovens G-Dur-Sonate brodelte und begehrte auf, konnte aber in seiner übermannenden Energie von den Musikern gebändigt werden, was uns davor bewahrte, von den Tönen überrannt zu werden. Im erwähnten Mittelsatz blieb die Zeit stehen, so dass man sprechen möchte: „Verweile doch, du bist so schön.“

Die Intimität noch gesteigert setzten Goldfeld und Gülbadamova in der zweiten Hälfte mit einem zeitgenössischen Werk von Lera Auerbach an, traten in Zwiegespräch mit den Tönen, die teils grelle Dissonanzen aufflammen ließen, dann aber auch wieder beschwichtigende Dur-Harmonien verwendeten, um den Kontrast aus Niedergeschlagenheit und Hoffnung zu extremisieren. Alles, was die Musiker über die Corona-Pandemie gerne sagen wollten: Es war in diesen Tönen. Die „Regenliedsonate“ op. 78 von Brahms folgte, die zwar in Dur geschrieben steht, wohinter sich aber ein tragisches Schicksal verbirgt, nämlich der Tod von Brahms‘ Patenkind Felix Schumann. In ihrer Ansprache nannte Sofja Gülbadamova sie ein „Lächeln durch die Tränen hindurch.“ Diese Musik zu beschreiben, entzieht sich nun doch letztendlich dem verbal Ausdrückbaren; es hätte ein Foto gebraucht vom Ausdruck auf den Gesichtern der Musiker nach der letzten Note – zutiefst betroffen, aufgerüttelt, erschüttert und doch friedlich –, um den entschwundenen Moment zu rekapitulieren.

[Oliver Fraenzke, Juli 2021]

Schubert: depressiv, lyrisch und dann doch wieder versöhnt

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 312; EAN: 4 260052 383124

Drei Sonaten in A von Franz Schubert werden durch die Pianistin Elena Margolina für die Ars Produktion eingespielt. Sie beginnt mit der Klaviersonate a-Moll D 784 aus dem Jahr 1823, kontrastiert mit der pastoralen A-Dur-Sonate D 664 (1819) und schließt mit der umfangreichen, weitschweifenden a-Moll-Sonate D 845, die Schubert 1825 den Weg wies in Richtung seiner monumentalen, bedauerlicherweise letzten Sonaten.

Wer unbefangen dem Klavierschaffen von Franz Schubert gegenübersteht, mag zunächst verdutzt sein von den weiten Formen, dem scheinbar kontrastlosen Themengebrauch und den damit verbundenen teils eigenwillig erscheinenden Proportionen. Die Noten wirken geradezu kahl, wenn man Mozart und Beethoven gewohnt ist. So verwundert nicht, dass die bedeutenden Werke dieses Meisters erst im 20. Jahrhundert voll zur Blüte kamen, im großen Stile vor allem entdeckt durch die Pianisten Eduard Erdmann und Artur Schnabel, die zudem mit die vollendetsten Aufnahmen schufen. Und bis heute werden die meisten der Werke nur selten gespielt, höchstens die Impromptus und die letzten drei Sonaten finden regelmäßigeren Einzug in Konzertprogramme; von den pianistisch größtenteils undankbaren, schwer greifbaren und noch schwieriger auswendig zu lernenden früheren Sonaten halten die meisten Abstand.

Alfred Brendel nannte Schubert einen komponierenden Schlafwandler, was die formalen Konstruktionen durchaus griffig beschreibt: anders als Beethoven, der ein architektonisches Gerüst schuf und mit den Kontrasten jonglierte, scheint sich Schubert in seinen Kompositionsprozess zu verlieren, prozessiert sein Material immer weiter durch und führt es geradlinig fort. Mit Willkür hat das Konzept dabei nichts zu tun, die Musik schreitet geradlinig und zusammenhängend voran, spannt dabei große Bögen und wirkt in der Gesamtheit doch stimmig ausproportioniert. Nichtsdestoweniger stellt eine Adäquate Darbietung dieser Werke eine enorme Herausforderung dar: schnell können die, wie Schumann es bezeichnete, „himmlischen Längen“ langatmig wirken oder die aneinandergereihten Elemente auseinanderfallen. Schuberts Werke erscheinen als epische Erzählungen, die in die Ferne blicken und doch jedes Detail würdigen. Dies pianistisch umzusetzen, geht an die Grenzen des mental Erfassbaren.

Elena Margolina widmet sich schon lange dem Klavierschaffen Schuberts und brachte bei der Ars Produktion bereits mehrere Alben mit dessen Musik heraus. Entsprechend vertraut wirkt sie in dieser Aufnahme nicht nur mit den Stücken an sich, sondern mit der allgemeinen Stimmung und der doppelbödigen Aura, die Schuberts Musik umgibt. So handelt es sich allgemein um eine wirklich gelungene Einspielung der drei Sonaten in A, welche die Formen bewältigen und den erzählerischen Gestus stimmig vermitteln.

Eine bei Schubert komplexe Frage ist die nach den Expositionswiederholungen: Selbst bin ich der Auffassung, der vorwärtstragende Duktus und die melodiöse Geradlinigkeit verweigern das erneute Beginnen von vorne, unterstrichen durch die enorme harmonische Fortschreitung. (Den Extremfall stellt die letzte Sonate, in B-Dur, dar, bei welcher Schubert für die Wiederholung eine viele Takte umspannende Rückführung komponieren musste, um harmonisch zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Es darf die Behauptung aufgestellt werden, diese Takte inklusive der Wiederholung dürfen getrost weggelassen werden, da sie nur dem Formideal der auslaufenden Wiener Klassik geschuldet sind und sich Schubert schlicht nicht traute, dieses auf dem Papier zu durchbrechen, während seine Musik doch nach ganz anderen Wegen schrie. Ausschließlich in den Impromptus wagte er, angespornt von der hierin erlangten formellen Freiheit, den Ausbruch.) Die munter-spritzige A-Dur-Sonate D 664 erlaubt es durchaus, die Exposition zwei Mal zu spielen, schwieriger wird es bei der umfangreicheren Sonate a-Moll D 845, wo durch die Wiederkehr ein deutlicher Bruch entsteht. Klar erscheint es schließlich bei der Sonate a-Moll D 784, die zum Ende der Exposition so weit prozessiert ist, dass eine Umkehr wie fehl am Platz wirkt: Hier hätte Elena Margolina eher das Tempo (Moderato!) ein kleines Stück herunterfahren, vom Alla Breve auf den vorgeschriebenen 4/4-Puls zurückkehren, und dafür die Form durch Auslassen der Wiederholung straffen können.

Den Kopfsatz der Sonate D 784 nimmt Margolina rasch und lebendig, behält stets die drohenden Elemente im Hinterkopf und bringt so eine intensive Darbietung hervor. Die Kontraste lässt sie durchaus aufklaffen, ohne dabei – und dies sei besonders hervorgehoben – im Anschlag Härte zu zeigen. Zu keiner Zeit lässt sie die Akkorde und selbst die Akzente knallen, sondern behält immer eine weiche Note, die Schuberts von der menschlichen Stimme herrührender Kompositionsweise entspricht. Schubert sprach selbst aus: „[W]eil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann.“ Damals wie heute wahre Worte, und so erfreut Elena Margolinas abgerundete Tongebung umso mehr. Auch ihr Pianissimo, namentlich gegen Ende des Kopfsatzes und im Mittelsatz, überzeugt durch lyrische Klanggestaltung und vielschichtige Dynamikabwägung. Das Finale braust voran und auf, Elena Margolina nimmt es als stürmisch-unruhige Fantasie und nimmt sich einige kleine Freiheiten, die aber der Musik sehr zugute kommen. Einzig stört die durch Pausen unterbrochene Linie nach den Fortissimo-Doppelläufen: denn sie wirkt wie auf den Taktschwerpunkt komponiert und nicht, wie in den Noten steht, eben dagegen. Gleiches fällt teils in der anderen a-Moll-Sonate auf. Solch synkopische Wendungen sind freilich nur schwerlich umzusetzen, dafür frappieren sie dann umso mehr.

Die späteste der drei hier zu hörenden Sonaten, die in a-Moll D 845, besticht unter den Fingern von Elena Margolina durch unerbittlichen Zug nach vorne ohne Rast und Halt, was eine enorme Wirkung erzielt. Besonders die brodelnden Crescendopassagen seien hervorzuheben, die sich nie voll entladen, sondern in voluminöse Forti und Fortissimi münden, was den Ausdruck unterstreicht. Der Andantesatz singt förmlich und wirkt auch in den virtuosen Variationen schlicht und zärtlich. Innerlich aufwühlend braust das Scherzo auf, das uns packt und bis zum Ende nicht mehr loslässt, obgleich es mit siebeneinhalb Minuten Spielzeit ein für das knappe thematische Material recht langer Satz ist. Ein finales Rondo rundet die Sonate ab, auch dieses drängt nach vorne, basiert auf rein introvertiertem Effekt ohne jegliche Äußerlichkeit. Elena Margolina nimmt es in einem großen Zug, spannt einen einzigen Bogen.

Gegenüber den beiden düsteren Mollsonaten fungiert die A-Dur-Sonate wie ein versöhnlicher Gegenpol: eines der ganz wenigen wirklich durchgehend friedlichen Werke Schuberts. Ein unscheinbarer Moment muss an dieser Stelle erwähnt werden, nämlich die Oktavenpassage des Kopfsatzes, die selten so stringent und lyrisch zu hören ist wie in dieser Einspielung Elena Margolinas.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

Warum?

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 573; EAN: 4 260052 385739

Wir hören eine Aufnahme von Franz Schuberts Winterreise nach Gedichten von Wilhelm Müller durch den Bariton Benjamin Hewat-Craw und den Pianisten Yuhao Guo.

Ich verstehe die Begeisterung, die man für Franz Schuberts Winterreise empfinden kann – habe sie selbst am Klavier in Feuereifer erarbeitet und sogar Auszüge im Konzert vorgetragen. Die angedeutete Geschichte, die unmittelbar ansprechende Topoi behandelt und jeden Hörer gefangen nimmt, die formale Stringenz und das vielseitig auslegbare Ende, dazu eine an Perfektion grenzende Musik voll harmonischen Feingefühls, hinreißenden Melodien und gespickt von präzise abgewogenen Überraschungen, die das Hören nie verleiden lassen.

Und dennoch frage ich mich: Wie viele Aufnahmen dieses Zyklus‘ braucht es noch? Ohne Statistiken dazu gesehen zu haben, bin ich der festen Überzeugung, dass kein anderer Liederzyklus so oft eingespielt wurde; und jedem dürften wohl auf den Schlag ein halbes Dutzend überzeugender Darbietungen einfallen. So sehr ich mich im Konzert immer wieder auf eine Winterreise freue, glaube ich doch, nur die eigenständigsten und aussagestärksten Künstler sollten noch an eine Einspielung dieser denken. Ähnlich wie für Pianisten die beliebtesten Beethovensonaten für Einspielungen nahezu verübelt werden durch den gewaltigen Druck der bereits im Regal stehenden Konkurrenz (was uns gerade in diesem Jahr dennoch nicht von einer Flut absolut mittelmäßiger Aufnahmen schützt), so ist es für Sänger die Winterreise: Und dazu kommt, dass man als Pianist naturgemäß ein wesentlich größeres Repertoire pflegen kann als ein Sänger. Alleine von Schubert könnte man noch hunderte andere Lieder entdecken, von denen mindestens zwei Drittel ebenso lohnende Qualität besitzen; eine Aufzählung an selten aufgeführten Großmeistern des Liedes könnte endlos weitergeführt werden: Braunfels, Mattiesen, Grieg (schrieb hunderte Lieder, von denen höchstens zehn regelmäßig erklingen), Wetz, Erdmann (als Pianist übrigens einer der überragendsten Schubert-Spieler; übrigens markierte er in seiner kritischen Schubert-Gesamtausgabe über 400 Lieder als von außerordentlicher Qualität), Reger, Keußler, Lalo, Magnard, Weingartner, Reichardt, Sträßer und viele mehr. Warum also immer das selbst Stück bei solch einer überwältigenden Vielfalt an Repertoire, das ich teils noch nie live hörte, das teilt noch nie auf CD erschien?

Die hier vorliegende Aufnahme soll unter diesem Aspekt auch überhaupt nicht abgewertet werden. Die beiden Musiker offenbaren ein gutes Gespür für Stimmung und Abwägung der Intensität – aber gerade deshalb würde ich mir von ihnen auch einmal unbekanntes Repertoire wünschen. Teils nehmen Benjamin Hewat-Craw und Yuhao Guo die Tempi zu hektisch, um all die harmonischen Finessen hörbar umzusetzen, besonders auffällige Wechselpunkte überakzentuieren die beiden dafür, obgleich man sie auch in dezenterer Ausführung wahrgenommen und möglicherweise noch stärker mitempfunden hätte. Sehr angenehm klingt die Stimme des Baritons Benjamin Hewat-Craw, voluminös und rund im Klang, in welchem zahllose Facetten stecken, die für einen vielseitigen Vortrag gefiltert werden können.

[Oliver Fraenzke, September 2020]

Unvollendeter Schubert

Linn Records, CKD 593; EAN: 6 91062 05932 9

Das Duo Pleyel, bestehend aus den Pianisten Alexandra Nepomnayashchaya und Richard Egarr, spielt vierhändige Klaviermusik von Franz Schubert für Linn Records ein. Auf dem Programm steht das Rondo D-Dur D. 608, die Sonate in B-Dur D. 617, die Fantasie in f-Moll D. 940, das Rondo in A-Dur D. 951 und das Allegro in a-Moll D. 947 mit dem Titel „Lebensstürme“, nach welchem das Duo Pleyel ihre CD benannte.

Als ich gesehen habe, dass auf der vorliegenden CD vierhändige Klavierwerke auf einem Pleyel-Flügel eingespielt werden, war mein Interesse sogleich geweckt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert galten diese Flügel als marktführend durch ihren warmen, voluminösen und vielseitigen Klang. Als regelmäßigen Gast begrüßte der Vater Ignaz Pleyel unter anderem Beethoven, der sich begeistert über diese Klaviere aussprach – und für Schubert schließlich Vorbildfunktion hatte. Der Sohn Camille Pleyel hingegen führte intensiven Austausch mit Komponisten wie Frédéric Chopin, dessen Nocturnes op. 9 sogar Camilles Frau gewidmet sind. Hier hören wir einen Flügel aus dem Jahr 1848, also von Camille Pleyel, der dem romantischen, weichen und möglichst farbenreichen Stil angepasst ist, sonor in der Tiefe schnurrt und in den Höhen präzise, aber doch auch lieblich glänzt.

Doch all diese Vorzüge des Flügels nutzt das Duo Pleyel nicht aus. Im Gegenteil: die Aufnahme enttäuscht so sehr, dass ich mich fragen muss, ob die beiden Pianisten das Programm wirklich gründlich einstudiert haben. Selbst der Booklettext von Egarr wirkt wie im Affekt kurzfristig heruntergeschrieben.

Es beginnt bereits damit, dass Schuberts Piano und Pianissimo in der Aufnahme maximal als Mezzopiano, wenn nicht sogar als Mezzoforte zu bezeichnen ist und somit all die introvertiert-schattigen Gefühlswelten fehlen. Gerade das unheimliche Pianopianissimo in der f-Moll-Fantasie, das wie aus dem Nichts schwingen sollte, verfehlt so im deutlich hörbaren Mezzobereich jegliche Wirkung. Umso ruppiger und brutaler schmettert das Forte, dass man im eigentlich galanten D-Dur-Rondo teils beinahe hochschreckt. Die rhythmische Komponente scheint ebenso wenig erarbeitet worden zu sein: die triolischen Passagen wirken starr, gezählt und stellenweise gar errungen, die doppelten bis dreifachen Punktierungen gerade in der Fantasie schwächt das Duo Pleyel zu einfachen Punktierungen ab. Auf musikalischer Ebene herrscht ebenso Flaute, denn nicht eine Melodie wirkt wirklich gesungen, erspürt oder verstanden. Die Noten werden gleichwertig nebeneinandergereiht und manche in der Partitur geschriebene Dynamikänderung halbwegs nachvollzogen, doch abgesehen davon bemühen sich die Musiker nicht darum, die Melodien organisch entstehen zu lassen, was noch dazu für Schubert unentbehrlich sein sollte.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Zu viert auf Reisen

Solo Musica, SM 335; EAN: 4 260123 643355

Das Voyager Quartet (Nico Christians, Maria Krebs, Andreas Höricht, Klaus Kämper) präsentiert uns eine Aufnahme von Schuberts Winterreise, transkribiert für Streichquartett von ihrem Bratschisten Andreas Höricht. Zwölf von Schuberts Liedern bearbeitete Höricht und fügte ein Preludio sowie elf überleitende Intermezzi aus eigener Feder hinzu.

„Die Musik ist so ausdrucksstark und entwickelt einen solchen assoziativen Sog, dass sie auch auf den Text verzichten kann. Er schwingt ungesagt mit. So entsteht Freiheit für eigene Räume und Wege.“ So legitimiert Andreas Höricht seine Transkription der Winterreise für Streichquartett, die er mit dem Voyager Quartet auf dieser CD eingespielt hat. Inwiefern sich diese These bewahrheitet, liegt wohl im subjektiven Empfinden und hängt nicht zuletzt von der Kenntnis des Originals zusammen. Ich kann also nur für mich sprechen, den der Liederzyklus schon viele Jahre verfolgt und der ich zumindest einen Teil der Lieder selbst einstudiert habe. Für mich schwingt der Text und dessen Ausdruck tatsächlich in dieser Bearbeitung mit, so dass ich die Reise beim Hören nachvollziehen kann und meinen Fokus parallel auf die durch die Besetzung intensivierten Gegenstimmen und harmonischen Verläufe richten kann. Aber wirkt dies ebenso, wenn man die Winterreise nicht oder nur flüchtig kennt?

Andreas Höricht schuf ein kompositionstechnisch hochwertiges Arrangement, das nicht nur die erste Violine mit dem Gesang betraut, sondern die Stimme zwischen den vier Instrumenten aufteilt. Die stärksten Stellen sind gerade die, wo die tiefen Instrumente die Gesangslinie erhalten, worüber dann die hohen Streicher fragmentarische Motive anklingen lassen. Folglich handelt es sich hier nicht um eine bloße Aussetzung der Klavierstimme, sondern um eine eigenständige Fassung, in die teils neue Gegenstimmen hineinspielen.

Nach jedem der Lieder fügte Höricht ein selbstkomponiertes Intermezzo ein und greift dadurch die damalige Praxis auf, die einzelnen Stücke durch meist improvisierte Überleitungen zu verbinden. Dieses Prinzip angewandt auf die Winterreise kennt man vor allem durch Hans Zenders komponierte Interpretation des Zyklus. Die Intermezzi fallen gemischt aus: Manche schaffen einen galanten Übergang zum Folgenden und fügen sogar Fetzen aus anderen Liedern hinzu, so dass eine größere Dimension entsteht; andere aber wirken stilistisch zu fremd und reißen den Hörer zu sehr aus der einheitlichen Welt Schuberts heraus. Um die Konzentration aufrecht zu erhalten, ist dies durchaus legitim, doch stehen die stilfremden Intermezzi dafür an den falschen Stellen: so werden wir beispielsweise schon nach „Gute Nacht“ aus der Bahn geworfen, wo wir uns gerade erst in die Welt Schuberts einleben.

Durch die neue Besetzung wandelt sich selbstverständlich auch die Art der Wiedergabe. Die Grunddynamik liegt eine Stufe höher als bei einem Sänger mit Klavierbegleitung, die Tempi werden teils modifiziert und es entsteht eine größere Polyphonie, in die sich die Gesangsmelodie gleichberechtigt einordnet. Dabei vermisse ich die Fragilität einer menschlichen Stimme und den größeren Ambitus an Klangschattierungen allein durch bestimmte Vokale; außerdem fehlt mir die quälende Ruhe, die bis an den Rand der Unhörbarkeit gesteigert werden kann. Das Quartett präsentiert mehr den Fluss und das Voranschreiten, schafft dadurch allerdings eine andere Art der Zeitlosigkeit. Hervorzuheben ist die Qualität, dass die vier Musiker im gleichen Atem spielen und so wie die originale Klavierstimme als Einheit fungieren und gleichzeitig doch die Stimmvielfalt autonomer darstellen können.

[Oliver Fraenzke, Januar 2020]

Ausdruck von innen

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 562; EAN: 4 260052 385623

Bei Ars Produktion Schumacher erschien eine neue Aufnahme der Winterreise op. 89, D 911 von Franz Schubert. Es singt der Bariton Johannes Held, das Klavier spielt Daniel Beskow.

Egal, in wie vielen Konzerten und Aufnahmen man Schuberts Winterreise bereits gehört hat, dieses Werk verliert niemals seine unmittelbare Wirkung. Noch immer fühlt sich der Hörer mitgerissen, verlassen, isoliert, verrückt und todesnah, wenn die gewagten Harmonien der Klavierstimme ertönen und die für damalige Zeit extravagant komplexen Linien des Gesangs uns den Halt verlieren lassen. Wir wollen die Lyrik von Wilhelm Müller ergründen und stoßen doch immer wieder auf Rätsel, denen man zwar Lösungsvorschläge beigeben kann, aber die doch ungelöst erscheinen. Müller und Schubert waren beide jung und schrieben über einen jungen Protagonisten, und doch ist dieser so alt, welterfahren und zermürbt, sehnt sich nach der anderen Seite. Verlassen von der Liebsten zieht er ziellos in die winterliche Landschaft; immer neue Bilder kommen auf, ohne wirklich zusammenzuhängen, und man fragt sich, ob die darin geschilderten Wahrnehmungen echt sind, Traum oder Verwirrung. Im 20. und 21. Jahrhundert könnte man das entstehende Geflecht als impressionistisches Seelengemälde bezeichnen, tief psychologische Traumata entschlüsseln. Am Ende geht der Protagonist ins Unbekannte, folgt dem Leiermann und singt mit ihm seine Lieder. Stellt es den Tod dar, den auch Müller und Schubert 1927 und 1928 früh ereilte (Müller starb noch vor der Fertigstellung der Vertonung und es bleibt unsicher, ob er um sie wusste), oder bildet der Leiermann den Wahnsinn ab, oder fungiert er als Tröster und gibt neue Hoffnung?

Johannes Held und Daniel Beskow legen eine tief emotionale und ergriffene Darbietung dieses gewaltigen Liedzyklus‘ vor. Die mitreißende Wirkung erzielt die Aufnahme nicht durch äußere Effekte, sondern durch inniges Teilhaben am Geschehen. Mit unprätentiös schlichtem Spiel ergründen Held und Beskow die Lieder von innen heraus und legen die wahren Emotionen dieser Lieder frei, anstatt durch aufgesetzten Impetus welche in sie hineinzugeben. Ohne gewollte Rubati, übermäßige Vibrati oder überspitzte Akzente lassen sie die Musik von sich aus wirken, präsentieren sich selbst nur als Medien der Übertagung – und genau dadurch entwickelt sich der unentrinnbare Sog der Töne. Die Musiker behalten eine klare Linie und nehmen den Hörer mit auf eine imaginäre Reise, die eine durchgehende Struktur aufzeigt und beim Leiermann enden „muss“, der sich eisig und in seiner Fragilität angsteinflößend vor uns aufbäumt und in der Klaviereinleitung sogar die Zeit beinahe zum Stillstand zwingt. Mit diesem Schock lassen uns Johannes Held und Daniel Beskow zurück und wir erkennen, dass der gesamte Zyklus als große Einheit bereits vorübergegangen ist.

[Oliver Fraenzke, September 2019]

Motto „Sommermärchen“

Sonntag, 21. Juli 2019 Konzert der „Wilden Gungl“ im Brunnenhof der Residenz

Musik von W.A. Mozart, Carl Reinecke und Franz Schubert.

Solistin: Ivanna Ternay, Querflöte; Dirigent: Michele Carulli

Foto (c) M. Hallersleben

     Wenn Engel Musizieren, spielt auch Petrus mit! So konnten alle Besucher – anders als im Vorjahr – in den Genuss des Sommerkonzerts im Freien kommen, was die „Wilde Gungl“ in diesem Sommer unter dem Motto „Sommermärchen“ in der lauen Sommernacht ertönen ließ. Mit Mozarts Ouvertüre zur „Zauberflöte“ begann – nach der glücklicherweise üblichen, sehr informativen, stimmigen und anregenden Anmoderation durch Konzertmeister Arnim Rosenbach – die „Klangrede“ zur wohl bekanntesten Oper Mozarts. Ein gelungener Auftakt, der doch immer wieder überrascht, wenn die berühmten drei Akkorde ertönen.

     Zum zweiten Stück, dem Flötenkonzert in D-Dur des Komponisten Carl Reinecke (1824-1910), das er mit 84 Jahren  komponierte, erschien die Solistin Ivanna Ternay auf der Bühne. Dass dieser Komponist 30 Jahre lang das Leipziger Gewandhausorchester geleitet hat und als Lehrer von vielen bekannten Musikern wie Grieg oder Janacek (und vielen anderen) als Komponist genau wusste, wie ein Solokonzert zu sein hatte, wurde auch in diesem Werk sehr eindrücklich vermittelt: Nie übertönt das Orchester die Flöte, wenn es in den drei Sätzen übrigens hervorragend und behutsam begleitet; hat es selbst etwas Wichtiges im Forte zu sagen, ist es federführend ohne die Solistin. Der wunderbare Flötenton von Frau Ternay kam also mit einer Vielzahl von erlesenen Melodien genau so zum Tragen wie der Klang der „Wilden Gungl“ unter der Stabführung seines Dirigenten Michele Carulli. Eine Begegnung mit einem selten gespielten Flötenkonzert, das im Sommerabend genau die richtige Stimmung verbreitete.

     Nach der Pause war die Musik von Franz Schubert federführend, wieder einmal wurde klar, wie sehr Schuberts Musik durchaus auch opernhaft dramatisch klingen konnte, neben der Melodienseligkeit, die immer wieder entzückt und begeistert. Es stand neben der Ouvertüre zur verschollenen Oper „Die Zauberharfe“ einiges aus „Rosamunde“ auf dem Programm. All die leisen und lauten Töne, immer wieder überraschend in ihrer Klanglichkeit und der teilweise kühnen, sogar in einem Stück schon auf Bruckner hinweisende Harmonik, machten wieder einmal klar, was für ein Genie dieser jung verstorbene Musiker war. Gerade auch im Wettstreit mit dem damals in Wien zu Superstars emporgejubelten beiden Italienern Rossini und Paganini, der Schubert durchaus bewusst war. Die Atmosphäre ließ Orchester und Dirigent zu Hochform auflaufen, großer Beifall, den der Dirigent selbstverständlich mit den verschiedensten, besonders hervorgehobenen Musikerinnen und Musikern teilte und der mit zwei Zugaben von Edvard Grieg belohnt wurde:  Aus Peer Gynt „Anitras Tanz“ und „In der Halle des Bergkönigs“. In diesen beiden Stücken zeigte sich auch das enorme komödiantische und tänzerische Talent von Maestro Michele Carulli, der sich der Musik mit der ihm eigenen Begeisterung, mit Leib und Seele hingab. Blumen und gute Wünsche für die Zeit bis zum September.

    Im Übrigen: Ceterum censeo, aber das ist ja inzwischen leider Usus beim Münchner Feuilleton…

[Ulrich Hermann, Juli 2019]

Anspruchsvolle Musik statt Salon-Romantik

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 267; EAN: 4 260052 382677

Gemeinsam mit der Pianistin Iryna Krasnovska spielt die Flötistin Sofia de Salis Arrangements bekannter Werke des 19. Jahrhunderts. Auf dem Programm steht die Sonate a-Moll für Arpeggione und Klavier D 821 (Arr. Konrad Hünteler) von Franz Schubert sowie dessen Ständchen aus Schwanengesang (Arr. Sofia de Salis) und zwei Klavierwalzer (Arr. Tatiana Smirnova), nämlich der Atzenbrugger Tanz Nr. 3 D-Dur D 265 Nr. 29 und Valse sentimentale A-Dur D 779 Nr. 13. Den Mittelpunkt der CD bildet die große Violinsonate A-Dur op. 120 von César Franck (Arr. Douglas Woodfull-Harris). Außerdem hören wir noch Robert Schumanns drei Romanzen für Oboe und Klavier op. 94 (Arr. Jacques Larocque).

Der optische Eindruck dieser CD mag so gar nicht zum musikalischen Inhalt passen. In grünem Kleid steht die Flötistin Sofia de Salis in einem reich verzierten Schloss, auf dem Cover sehen wir sie vor dem Fenster mit Blick auf Berge und einen See. Dazu kommt der schnulzige Titel „Shades of Love“. Es fehlt nur noch sanft-melancholische Musik voller Kitsch und Klischee, und der Eindruck wäre perfekt – doch statt dessen bekommen wir hoch anspruchsvolle Musik inklusive zweier großformatigen Sonaten von Schubert und Franck!

Der Querflöte ist im 19. Jahrhundert nur spärlich bedeutsame Literatur zuteil geworden, wenn man von Schubert und Hummel absieht; erst in der französischen Musik um die Jahrhundertwende blühte das Instrument als Solist voll auf (dieser Musik widmete Sofia de Salis ihr erstes Album). So ist es durchaus legitim, dass sich Flötisten an Werken für andere Besetzungen bedienen und diese für ihr Instrument umdeuten. Oft liest man über solche Bearbeitungen, die Flöte könne dem Charakter des Originals durch gewisse dynamische und phrasierungstechnische Einschränkungen nicht gerecht werden. Doch wer verlangt das? Viel eher sollten wir uns den prächtigen Facetten hingeben, welche ausschließlich eine Flöte aus den Werken herausholen kann; so hören wir die Werke einmal in ganz neuer Beleuchtung.

Sofia de Salis erleben wir hier als phantasievolle Flötistin, die auf eine besondere Farbenpracht in ihrem Spiel Wert legt. In den Arrangements versucht sie, die Charakteristika der Originalinstrumente auf die Flöte zu übertragen und kann dabei in Francks Sonate sogar die Robustheit der Violine gegenüber ihrem Instrument übernehmen, weiß jedoch auch um die Vorzüge ihrer Flöte und gestaltet manche Linien noch sanglicher und feiner, als wir sie vom Original her kennen. Abgesehen kleinerer Ausbrüche in übermäßige Freiheit bei den kleinen Solo-Einwürfen der Schubert-Sonate und im Recitativo der Franck-Sonate verzichtet de Salis darauf, sich in der Musik zu verträumen.

Die klangliche Abstimmung zu ihrer Partnerin Iryna Krasnovsky funktioniert leider trotz der hervorragenden Aufnahmetechnik der SACD überhaupt nicht. In der Arpeggione-Sonate Schuberts geht das Klavier vollkommen unter: Ich vermisse das Wechselspiel des Sechzehntelnoten-Motivs im Kopfsatz und die thematischen Einwürfe des Klaviers im Finale, allgemein die harmonische Stütze, die bei Schubert so dringend notwendig ist. Bei dieser Sonate finde ich im Übrigen auch schade, dass die Musiker das Adagio viel zu schnell nehmen und auch aus dem Allegretto-Finale ein Allegro machen, statt dass sie die Musik atmen lassen und die Ruhe auskosten. Bei Franck ist klanglich das Gegenteil der Fall, hier übertönt das Klavier mitunter die Flöte. Selbst bei einem Geigenpartner muss der Pianist darauf achten, nicht zu sehr zu donnern, umso mehr bei einer Flöte. Doch Iryna Krasnovska beachtet ihre Mitstreiterin wenig, schenkt dem Wechselspiel zwischen Klavier und Flöte keine Aufmerksamkeit und kann selbst die eigenen Stimmen nicht stimmig zusammenfügen, wodurch viele thematischen Motive untergehen, vor allem im berüchtigten zweiten Satz. Die Pianistin scheint zu sehr mit den technischen Herausforderungen beschäftigt zu sein, um anderes zu bemerken. Erst im Finale dieser Sonate finden de Salis und Krasnovska klanglich zusammen und musizieren gemeinsam. Die restlichen Werke der CD sind dankbarer für das Zusammenspiel und musikalisch leichter zu durchdringen, entsprechend stimmigere Resultate hören wir. Im abschließenden „Ständchen“ bemerken wir vielleicht sogar einen kleinen Rückbezug auf den Titel der CD.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

Wiener Klassik und Raritäten

Samstag, 23. Februar 2019 Herkulessaal

Symphonieorchester Wilde Gungl München , Michele Carulli Dirigent

Franz Schubert (1797-1828): Ouvertüre im italienischen Stil C-Dur D 591

Louis Spohr (1784-1859) Symphonie Nr.6 G-Dur op. 116 „Historische“

Ludwig van Beethoven (1770-1827) Symphonie Nr.2 D-Dur op.36

Geärgert soll er sich haben über die Begeisterung seiner Freunde nach einer Rossini-Oper: So eine Ouvertüre könne er auch schnell mal schreiben. Topp, die Wette galt, und „inert kurzem“ waren die beiden Ouvertüren D 590 und D 591 fertig. Mit großem Orchester (ohne Posaunen aber mit Pauke) war Letztere das Einleitungsstück dieses Abends. Durchaus Anklänge an Rossini hörte man, aber natürlich war es ein „echter“ Schubert. Auf ein langsames Einleitungs-Adagio folgt ein schnelleres Allegro. Auf dieses Stück – die beiden italienischen Ouvertüren sind ja nicht völlig unbekannt – folgte eine echte Rarität. Die Frage ist, ob diese sechste Symphonie des damals europaweit bekannten und geschätzten Ausnahme-Geigers, Komponisten und Dirigenten Louis Spohr in München jemals in den vergangenen 150 Jahren zu hören war. In den letzten Jahrzehnten jedenfalls stand sie wohl bei keinem Münchner Orchester auf dem Spielplan. Dabei bietet sie mit ihren vier Sätzen einen durchaus spannenden Einblick in die Musik-Geschichte, so wie der Komponist sie erlebte und hier geschickt verarbeitete.

Der erste Satz greift zurück auf Bach und Händel, die allerdings nur die Vorlage liefern für Spohrs eigene, sehr eigentümliche Musik-Sprache. Natürlich sind Fugen und Pastorale von den beiden Altmeistern abgeleitet, aber durchaus mit Spohr’scher Melodik und Harmonik. Der zweite, langsame Satz greift auf Mozart und Haydn zurück, doch ist auch hier des Komponisten Handschrift eigenständig und kein Plagiat oder bloßes Zitieren. Genau wie im dritten Satz, der sich an Beethoven orientiert. Allerdings war Spohrs Verhältnis zum damals noch nicht so berühmten Kollegen durchaus gespalten, der „Neunten“ konnte er nicht allzu viel abgewinnen. Im letzten Satz geht Spohr „in die Vollen“, – sogar die „gran cassa“, die große Trommel kommt dabei zum durchaus nicht gedämpften Einsatz – allerneueste Periode 1840 steht da. Nun gut, das Orchester ist in allen Stimmen gefordert, es ist nicht unbedingt etwas erschreckend „Modernes“ zu hören, jedenfalls ist die Bekanntschaft mit dieser Symphonie durchaus spannend und hörenswert.

Nach der Pause dann die leider zu selten gespielte zweite Symphonie von Ludwig van Beethoven, für die sich das Orchester – gegen die berühmte dritte, die „Eroica“ – entschied. Und das war ein wunderbarer Griff, denn da konnten wir vom ersten Einsatz des Orchesters hören, „wo der Bartel den Most holt“, um es flapsig auszudrücken. Denn von der Melodik, der Harmonik, der rhythmischen Energie, der ganzen Anlage her ist diese zweite Symphonie ein Wunderwerk, dem die Wilde Gungl mit ihrem Dirigenten Michele Carulli nichts schuldig blieb. In allen Stimmen, bei den wunderbar samtenen Streichern, den intensiven und sehr oft federführenden Bläsern bis hin zum energiegeladenen Paukisten, es entfaltet sich unter dem enormen leiblichen und seelischen Einsatz des Dirigenten eine Musik, die vor allem im himmlischen Larghetto-Satz einfach so schön und mitnehmend erklingt, dass der ganze Saal nicht nur atemlos lauschte, sondern zum Schluss seiner Begeisterung mit lauten Bravo-Rufen Ausdruck verlieh. Diese Begeisterung und Freude gab Michele Carulli dann höchstpersönlich an viele einzelnen Orchester-Musiker*innen weiter, was den Abend sehr persönlich abrundete.

Ceterum censeo… aber das sagte schon der alte Cato, als er auf Miss-Stände seiner Zeit angesprochen wurde. Ich sage jetzt nur: Münchner Feuilleton…?

[Ulrich Hermann, Februar 2019]

Fallhöhe

Genuin classics, GEN 18620; EAN: 4 260036 256208

Sich in verborgene emotionale Tiefen hinein fallen lassen, innerste Seelenregungen aufspüren, darin verweilen und diese zum schonungslosen Ausbruch bringen –  all dies ist Sache der Pianistin Natalia Ehwald, wenn sie das musikalische Erbe der Romantik in ihrer eigenen persönlichen Sichtweise erfahrbar macht. 

Nach einem vielbeachteten CD-Debut mit Franz Schuberts G-Dur-Sonate 894 und Robert Schumanns Kreisleriana opus 16, setzt sie auf ihrer zweiten CD die eingeschlagene Richtung fort. Aktuell geht es um Franz Schuberts späte A-Dur-Sonate D 959 und die Humoresken von Robert Schumann op. 20. Natalia Ehwalds Spiels auf diesem Tonträger zeugt von einer Herangehensweise, die das inszenierte Coverfoto im Booklet spielerisch versinnbildlicht: Hier strebt eine Künstlerin die gemeinsame Augenhöhe mit diesen beiden Komponisten aus dem 19. Jahrhundert an, die auf dem Foto zusammen mit der heutigen Interpretin an einem gemeinsamen Tisch sitzen.

Auf Augenhöhe sein heißt hier, die Seelenpsychogramme hinter den Notentexten zu erkennen und ihnen ohne manirierten Egotrip Respekt zu erweisen. Wer hier einfühlsam hinhört, dem eröffnet sich die Ambivalenz zwischen Genie und Wahnsinn, der darf auch mal erschüttert sein, wie unberechenbar vor allem Schubert jene vordergründige Oberfläche von „Biedermeier“ zugunsten des schonungslos Elementaren durchstößt. Aus einem scheinbar freundlichen Ton heraus entstehen immer wieder Abstürze, denen Natalia Ehwalds flexible spielerische Diktion die notwendige,  schonungslose Fallhöhe verleiht.

Noch relativ kontrolliert beginnt es im  Allegro-Satz. Hier geht Natalia Ehwald betont nachforschend zu Werke, wo noch das Erbe von Beethoven durchschimmert. Der nachfolgende Andantino-Satz bekommt unter ihren Händen eine starke Aura von Zerrissenheit. Aus einem scheinbar liedhaften Gesang heraus dringt aufgestaute Verzweiflung in wütenden Sforzato-Schlägen hervor. Natalia Ehwald weiß immer wieder, solch wechselhaften Dramaturgien zu erzeugen und damit –  vor allem im langsamen –  Satz Raum und Zeit vergessen zu lassen. In raschem Tempo und mit jähen Dynamikwechseln stürmt ihr Spiel ins ruhelose Scherzo hinein, wirft mit Tönen um sich, so dass vor allem die Doppelschläge der Anfangsphrase wie wütende Pinselstriche auf dem Papier anmuten. Alle Ruhepole sind hier trügerisch, wie Schuberts Kreisläufe aus Genie und Wahnsinn unentrinnbar scheinen. Bei aller Zerissenheit meistert Natalia Ehwald den großen, dramaturgischen Bogen, was für das Finale, vor allem ein bestechend präzise artikuliertes Schlussrondo nicht minder gilt.

Da überrascht es dann auch kaum, dass danach Roberts Schumanns Humoreske zu viel mehr als einer solchen wird. Auch hier werden Erwartungen durchkreuzt und das scheinbar Vordergründige ohne Umschweife in äußerst subtile, intime Seelenregungen mündet. „Einfach“, „hastig“, „zart“, „innig“ und „sehr lebhaft“ – die Interpretin auf diesem Tonträger demonstriert, dass dies nicht einfach nur Tempobezeichnungen sind, sondern bei Robert Schumann jeweils komplexe emotionale Haltungen dahinter stehen.

Natalia Ehwald wurde 1983 in Jena geboren und hat eine denkbar internationale Sozialisation erfahren. Unter anderem mit einem Jungstudium an der Sibelius-Akademie in Helsinki, später einem vielbeachteten Solo-Debut in den USA und schließlich einem Konzertexamen in der Meisterklasse von Evgeni Koroliov an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

[Stefan Pieper, Januar 2019]

Schuberts Vollendung

Hyperion, CDA68213; EAN: 0 34571 28213 8

Franz Schubert: Sonate B-Dur D960, Vier Impromptus D935; Marc-André Hamelin (Klavier)

Späte Klavierwerke von Franz Schubert hören wir auf der neuesten CD von Marc-André Hamelin. Knappe 82 Minuten dauert das Programm mit der letzten Klaviersonate in B-Dur D960 und den vier Impromptus D935.

Oft werden die letzten drei Sonaten Franz Schuberts mit denen Ludwig van Beethovens verglichen: Nicht nur, dass Schubert seinen Wiener Kollegen zeitlebens zutiefst bewunderte, nein, sondern wie auch dieser schrieb er drei umfangreiche Klaviersonaten, die in einen Band zusammengehörten. Die Vermutung liegt nahe, Schubert sei sich seines baldigen Todes bewusst gewesen und wolle aktiv den Bezug zu Beethoven suchen. Dagegen spricht, dass sich gerade die letzte der Sonaten Schuberts, B-Dur D960, sichtlich von seinem Idol distanziert, sie beschreitet harmonisch wie auch strukturell ganz eigene Wege. Tatsächlich entstehen kann jedoch der Eindruck eines Epitaphs für sich selbst; die Musik wirkt derartig abgeklärt und vollkommen, dass ihr nichts mehr hinzuzufügen wäre – Schubert hat mit gerade einmal 31 Jahren alles gesagt, was einem Menschen möglich ist, auszudrücken.

Den Begriff Impromptu prägte der tschechische Komponist Jan Voříšek, der ihn für relativ kurze und auch für Liebhaber realisierbare Klavierstücke verwendete. Schuberts zwei Bände mit jeweils vier Impromptus greifen die formale Geschlossenheit auf, doch gerade der zweite Band erschließt pianistisch neue Wege.

Das Spiel Marc-André Hamelins verströmt Tiefe und Innerlichkeit. Die Dramatik besonders in den ersten beiden Sätzen der Sonate verlagert er in die menschliche Innenwelt, trumpft nicht durch äußerliche Effekte auf. Allgemein wendet Hamelin seine Mittel ökonomisch an, verteilt sie auf die gesamte Form und schafft so eine miterlebbare Zusammengehörigkeit. Einzig unverständlich bleibt mir die Wiederholung im Kopfsatz der Sonate: Die Musik ist so weit fortgeschritten und hat sich weit vom Ausgangspunkt entfernt, der Sprung zurück unterminiert den gesamten energetischen Ablauf. Bei den Impromptus hingegen verzichtet Hamelin auf einige der längeren und gegenstandslosen Wiederholungen. Selbst in den rhythmisch treibenden Impromptus, vor allem im letzten, behält Hamelin die Kontrolle über jede einzelne Note und lässt sich zu keiner Zeit von der enormen Gefühlswelt übermannen. Fein abgestimmt sind die kleinen Tempowechsel, die Hamelin besonders in der Sonate gebraucht, um sie formal zu gliedern.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

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Wie der Vater, so der Sohn

Alpha classics, alpha 425; EAN: 3 760014 194252

Die „komponierte Interpretation“ zu Schuberts Winterreise aus der Feder Hans Zenders wird zum dritten Mal aufgenommen. Es spielt die Deutsche Radio Philharmonie unter Robert Reimer gemeinsam mit dem Tenor Julian Prégardien.

Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn; auch wenn das Korn eigentlich einem anderen gehört und das Huhn nur etwas an der Schale nagen darf. So geht es dem Komponisten Hans Zender mit seiner Winterreise. Mit diesem Werk kam Zender plötzlich ins Gespräch, und Kontroversen um die eigenartige Bearbeitung brachten Aufführungen, Aufnahmen und entsprechend Bekanntheit. Die meisten Kompositionen Zenders sind nicht gerade in einem Stil geschrieben, der große Popularität versprechen würde – also muss der Kern Schuberts herhalten. Und tatsächlich gelang dem Komponisten so der große Wurf, denn selbst 25 Jahre nach der Fertigstellung der „komponierten Interpretation“ diskutiert man eifrig über ihren Gehalt, die darin vorgenommenen Änderungen und die Auswirkungen auf den Affekt von Schuberts spätem Liedzyklus.

Hans Zender hat die Lieder nicht einfach nur für Orchester arrangiert, sondern hat sie auf seine eigene Weise interpretiert. Hinzugefügte Vor-, Zwischen- und Nachspiele verbinden die einzelnen Lieder und legen den Fokus auf die Stimmung der Lieder, zu denen hingeführt wird oder von denen sich der Reisende entfernt. Neu eingearbeitete Klangeffekte heben einzelne Worte oder Passagen hervor, so muss der Sänger beispielsweise drei Mal ansetzen, wenn der Schnee ihm ins Gesicht fliegt, bis er ihn herunterschütteln kann, da das Ensemble ihn immer wieder mit neuen „Schneeverwehungen“ attackiert. Andere Effekte lassen das Eis wirklich klirren oder die Tränen erstarren. Dabei belässt Zender die meisten Noten gleich, teilt nur die einzelnen Stimmen der Klavierbegleitung zwischen den Instrumenten auf und fügt in seltenen Fällen ein paar Noten hinzu. Der findige Hörer wird darüber hinaus minimale Änderungen in der Gesangspartie wahrnehmen, manche Änderungen Schuberts im Text von Müller wurden rückgängig gemacht (beispielsweise „mein Herz ist wie erstorben/erfroren“).
Eine Meinung über solch eine Vorgehensweise zu fällen, würde den Rahmen jedes Rezension sprengen, würde den Platz einer gesamten Abhandlung in Anspruch nehmen. In aller Kürze ließe sich zusammenfassen: Schuberts Liederzyklus ist vollendet und bedarf weder Aktualisierung, noch Interpretation, denn alles steht perfekt in den Noten. Dennoch spricht nichts gegen eine persönliche Stellungnahme oder eigene Anschauung auf den Liederzyklus, die – wie es Zender tut – den Hörer auf bestimmte Aspekte aufmerksam macht und den Fokus auf manche Details lenkt. Viele der Effekte in der Winterreise kratzen nur an der Oberfläche und nicht an der Substanz der Lieder, doch manche treffen auch den Kern und verstärken einmalige Klang- und Gefühlswelten, welche die Winterreise birgt.

Zum 25-jährigen Jubiläum der Komposition erscheint auf Alpha classics die nunmehr dritte Aufnahme von Zenders Winterreise mit Julian Prégardien als Tenor. Prégardien, hat der den Zyklus nicht schon einmal aufgenommen? Nicht ganz, aber sein Vater, Christoph Prégardien, sang 1999 die zweite Aufnahme mit dem Sylvain Klangforum unter Sylvain Cambreling (die erste Aufnahme sang Hans Peter Blochwitz mit dem Ensemble Modern unter Leitung des Komponisten). Julian Prégardien gelingt eine emotionale und zeitgleich reflektierte Aufnahme der Lieder, wobei er besonders auf den langsamen Prozess der Entfremdung und des Verrücktwerdens eingeht. Die Deutsche Radio Philharmonie hingegen erkundet nicht die Tiefsinnigkeit der Stücke, lässt manch einen zentralen Effekt völlig unter den Tisch fallen und holt nur wenige der wichtigen Stimmen hervor. Dem Orchester fehlt die bildliche Vorstellungskraft, die Farbe und die Kontur, welche erst die treibende Kraft durch die Lieder darstellt. Zudem stören mich manche Entscheidungen, bewusste Änderungen in Zenders Partitur wieder rückgängig zu machen und zu Schuberts Original zurückzukehren – denn eben diese Änderungen geben gewissen Reiz. Vielleicht war es auch Zender selbst, der die Anweisung gab, manche Änderungen zu verwerfen? Doch in jedem Fall hätte ich als Dirigent nicht darauf gehört.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Geisterwerke

Helbling CD 2016, EAN: 9783990351819

Anselm Hüttenbrenner (1794-1868): Geisterszenen; Robert Schumann (1810-56): Geistervariationen; Julia Rinderle, Klavier

„Nachruf an Schubert in Trauertönen am Pianoforte“ (Anselm Hüttenbrenner, 1829) heißt ein Stück im Heft 8 „Das Charakterstück“ der Reihe DAS MUSIKWERK aus dem Arno Volk Verlag von 1955. Jahrelang unbeachtet von mir bis zum Beitrag von Christoph Schlüren über Anselm Hüttenbrenner in der NMZ. Darin erwähnt er auch die Neueinspielung, nein, die Ersteinspielung von Hüttenbrenners Klavierstücken „Geisterszenen“ von 1850.  Nun ist dieser Nachruf in F-Moll gerade mal eine Seite lang und durchaus auch für „normale“ Klavierspieler zu spielen, aber natürlich machte er Lust auf mehr von diesem Komponisten, der ja mit Schubert nicht nur befreundet war, sondern mit ihm zusammen auch bei Antonio Salieri Unterricht hatte, wo sich beide begegneten.

Diese „Geisterszenen“ (Tongemälde für Klavier) sind nun alles andere als eine leichte Kost, sie erfordern höchstes Niveau, wenn sie adäquat realisiert werden sollen. Nicht nur von den pianistischen Schwierigkeiten her, auch vom großen Bogen und der Poesie, die es zu erfassen gilt.

Julia Rinderle stellt sich dieser Herausforderung auf überzeugende und berührende Weise, es entsteht ein echter „Meilenstein“ des Klavier-Repertoires. Sowohl vom Meistern aller technischen Schwierigkeiten als auch vom klanglichen und poetischen Erfassen und Vermitteln ist alles höchst gelungen, hingerissen und staunend lauscht man dieser bis heute so vergessenen Musik. Dieser Komponist – bisher nur als Schuberts „Beiwerk“ geschätzt – harrt dringend der Entdeckung. Denn was da an Musikalischem zu sichten ist, ist weit mehr als Beiwerk. Wovon auch das äußerst umfangreiche und informative Beiheft Zeugnis gibt, denn in solcher Ausführlichkeit ist sowohl von Michael Aschauer, dem Verfasser, als auch von der Pianistin selbst selten ein Booklet dieser Qualität zu lesen gewesen. Und dass der Verlag natürlich auch für alle Interessierten die erste Notenausgabe dieser „Geisterszenen“ im Programm hat, rundet die sehr gelungene Präsentation dieser CD ab.
Den Klang des modernen Flügels betreffend bleiben keine Wünsche offen, auch wenn die Pianistin selbst auf die andersartigen Möglichkeiten auf einem damaligen Hammerflügel hinweist.

Wir dürfen gespannt sein, was von Anselm Hüttenbrenners Musik in Zukunft entdeckt und aufgeführt wird, schließlich ist sein Werkverzeichnis durchaus umfassend:

  • 27 Geistliche Werke: darunter 6 Messen,
  • 3 Requien
  • 4 Opern: darunter „Lenore“ und „Oedip zu Colonos“ vollständig erhalten
  • 258 Lieder
  • 133 Männerquartette
  • 159 Männerchöre
  • 20 Orchesterwerke: darunter 2 Symphonien
  • 13 kammermusikalische Werke: darunter 2 Streichquartette,
  • 1 Streichquintett
  • 60 Werke für Klavier zu 2 Händen
  • 23 Werke für Klavier zu 4 Händen
  • 8 Bearbeitungen fremder Werke

Und auch wenn er in seinen späteren Jahren kaum mehr komponierte und ihn spirituelle Themen – wie übrigens schon immer – mehr interessierten – neben seiner Familie mit seinen neun Kindern –, so wird es nun doch höchste Zeit, neben Schubert auch seinem komponierenden Zeitgenossen und Gefährten nachzuspüren und dieser Musik die nötige „Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen. Jedenfalls ist vorliegende CD ein schöner Meilenstein auf diesem Weg.

Als passende „Ergänzung“ spielt Julia Rinderle die Geistervariationen von Robert Schumann, dessen letztes Klavierwerk und überaus  gelungen als Ausklang und Weiterleitung in die Gefilde der romantischen Musikkultur, die mit dieser CD ein weiteres Meisterwerk aus der Taufe gehoben hat.

[Ulrich Hermann, September 2018]

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Unbeschwert, skizzenhaft und doch vollendet

Bergen Festspiele: Troldhaugen, Grieg Villa; Franz Schubert, Franz Liszt, Edvard Grieg, Fritz Kreisler, Sergei Rachmaninoff; Ah Ruem Ahn (Klavier)

[Alle Rezensionen zu den Festspielen in Bergen im Überblick]


Festspiele in Bergen: Griegs Villa, Troldhaugen um Mitternacht (Foto von: Oliver Fraenzke)

Die koreanische Pianistin Ah Ruem Ahn spielt in Griegs Villa in Troldhaugen. Auf dem Programm ihres Konzerts vom 25. Mai 2018 stehen Franz Schuberts Klaviersonate c-Moll D. 958, Ricordanza aus den Transzendentalen Etüden von Franz Liszt, Edvard Griegs Poetiske tonebilder op. 3 und Liebesleid von Fritz Kreisler in einem Arrangement von Sergei Rachmaninoff.

Die Sommertage in Norwegen sind lang, und so liegt es nahe, auch zu später Stunde noch Konzerte zu veranstalten: Um 22:30 beginnen die Auftritte in Griegs Wohnzimmer seiner Residenz Troldhaugen. Heute spielt hier Ah Ruem Ahn, die den letzten internationalen Edvard-Grieg-Klavierwettbewerb gewann. Etwa 50 Zuhören passen in das geräumige Wohnzimmer, wenn die Türen zur Veranda geöffnet sind, was zudem Licht der untergehenden Sonne hereinströmen lässt. Die Akustik besticht durch ihre Klarheit und Direktheit an jedem Ort des Raums; Grieg schuf sich einen perfekten Veranstaltungsort für Kammermusikkonzerte direkt in seiner Villa. Auch heute noch finden die Auftritte auf seinem eigenen Steinway & Sons aus den 1890er-Jahren statt, dessen Klang eine gewisse Zärtlichkeit ausströmt, dabei voluminös und voll im Klang bleibt.

Die Darbietungen Ah Ruem Ahns zeichnen sich durch ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit aus. Ungezwungen entstehen die Stücke aus sich heraus und bewahren sich beinahe eine Art Skizzenhaftigkeit, wobei sie zeitgleich Reife ausstrahlen. Dynamisch bleibt die Koreanerin zurückgehalten und intim, Höhepunkte gestaltet sie durch innere Spannung statt durch äußerliche Aufruhr. Ah Ruem Ahn besitzt ein Gespür für Kontraste und weiß genau, wie weit sie diese ausdehnen kann, ohne sie überzustrapazieren. Die viersätzige Schubert-Sonate hält sie als Einheit zusammen, schafft eine private und in der Tiefe brodelnde Atmosphäre – sie vertraut dem Hörer eine persönliche Gefühlswelt an. Ricordanza weist keine Anzeichen eines Virtuosenstücks auf, jede technische Schwierigkeit dient musikalischem Ausdruck. Es macht den Eindruck, eine Harfe spiele auf, wenn Ahn in die oberen Register gleitet: Sie transzendiert den Klavierklang zu orchestraler Vielfalt, so dass man tatsächlich denkt, man höre andere Instrumente mitschwingen. Flüchtig hingeworfen und doch vollendet erscheinen die Poetischen Tonbilder des Hauseigentümers, Edvard Griegs. Die Frühwerke deuten schon an, was Griegs spätere Kompositionen ausmachen sollte: den nordischen Ton und den subtilen Gebrauch von Anklängen an Volksmusik. Rachmaninoff arrangierte unzählige Werke für Klavier Solo, darunter auch drei berühmte Wiener Tänze aus der Feder Kreislers, dabei ergänzte er pianistisch ansprechende Passagen wie schillerndes Tonleiterspiel. Doch selbst diese verleiten Ah Ruem Ahn nicht dazu, sich zur Schau zu stellen, sie bleibt bei ihrem innigen, unprätentiösen Stil.

Das Hauskonzert ist das perfekte Umfeld für eine Pianistin wie Ah Ruem Ahn, welche die Nähe zum Hörer braucht, um sich voll zu entfalten. In dieser privaten Atmosphäre blüht sie auf und überzeugt, indem sie den Hörer direkt anspricht und in ihr Spiel integriert.

       

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Virtuosität und Romantik

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 242; EAN: 4 260052 382424

Romantic, Brilliant, Imaginative: Semenenko (Violine), Firsova (Klavier); Grieg, Tschaikowski, Castelnuovo-Tedesco, Paganini, Schubert 

Violinmusik aus der Epoche der Romantik birgt vorliegende CD mit Aleksey Semenenko und Inna Firsova. Die Eckpfeiler dieser Einspielung sind die Erste Violinsonate F-Dur op. 8 von Edvard Grieg und die Fantasie C-Dur D 934 von Franz Schubert. Dazwischen befinden sich drei Bearbeitungen von Werken für Violine und Orchester: Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, Mario Castelnuovo-Tedescos Konzertparaphrase über die Cavantine Largo al Factorum aus Figaros Hochzeit und Paganinis I Palpiti, ebenfalls über ein Thema Rossinis. Das Arrangement von Paganinis Variationswerk für zwei Instrumente stammt von Fritz Kreisler.

Die Produktion der vorliegenden Aufnahme war der Preis eines Kammermusikwettbewerbs an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, den Aleksey Semenenko und Inna Firsova gewonnen haben. Das Programm entwickelt sich ausgehend von Schuberts großer C-Dur-Fantasie von 1827, in denen er seine Eindrücke eines Auftritts von Paganini verarbeitete. So ist natürlich auch der Teufelsgeiger vertreten mit einer Paraphrase über Rossini, was den Faden weiterspinnt zu Castelnuovo-Tedesco und dessen Fantasie über ein Rossini-Thema aus Tancredi. Tschaikowski und Grieg komplettieren die Aufnahme, wobei Griegs Erste Violinsonate das erste Werk war, das Semenenko in die Welt der Kammermusik einführte. Mich verwundert, dass Inna Firsova nicht auf dem Cover erwähnt wird, ihr Name verbirgt sich auf der Rückseite und ihr Bild im Booklet: Und das, obgleich Semenenko doch Kammermusik studiert und bei Grieg und Schubert das Klavier einen mindestens ebenbürtigen Part zur Violine spielt, wenn nicht einen gewichtigeren!

Die Violinsonate Edvard Griegs gibt ein Bild frei auf zwei fleißige und detailverliebte Musiker, die minutiös darauf bedacht sind, die Noten genau wiederzugeben. Sie betrachten die Musik aus gewisser Distanz und fühlen sich trotzdem in die Welt des Komponisten ein. Ein großes Spektrum an Artikulations- und Dynamikabstufungen bringt Abwechslung und Vielseitigkeit in das Werk, immer neue Klangfarben bereichern die Sonate. Zu wenig achten sie allerdings noch auf das Schlichte, Volkstümliche, was ja gerade Grieg und seine skandinavischen Kollegen so sehr prägt. Der Mittelsatz wird zum Kunstwerk und verliert die Einfachheit des Volksliedes; die charakteristische Fidel-Passage lockt nicht zum Bauerntanz, sondern in den Konzertsaal. Gleiches gilt für Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, die unartifizielle und zutiefst menschliche Gefühle ausdrückt, auch das einfache Volk anspricht.

Es folgen zwei Virtuosenwerke, in denen Semenenko seine Brillanz und Leichtfüßigkeit unter Beweis stellt. Unglaubliches gelingt ihm in Paganinis I Palpiti, wo der Hörer kaum aus dem Staunen herauskommt. Grazil bewegt er sich zwischen all den Hürden und zeitgleich gibt er den formalen Aufbau der Stücke zu verstehen, geht auch auf die Phrasierung und den innermusikalischen Kontext ein.

Das Finale ist die 25-minütige Fantasie C-Dur von Franz Schubert, in welcher der Komponist die Errungenschaften der großen Virtuosen in symphonischen Kontext eingliedert und in reinste Musik verwandelt. Auch bezüglich der Darbietung ist dies der Höhepunkt der Einspielung, die Musiker hören einander zu und erreichen ein vollkommenes Miteinander. Inna Firsova tritt in den Vordergrund: Bei Grieg wurde sie noch von der Violine überlagert und in den Bearbeitungen weilte sie doch eher in Begleitfunktion. Nun aber trumpft Firsova auf und demonstriert ihre überlegene Meisterschaft des Klaviers, die sie zur Entdeckung macht. Ihre Läufe ragen heraus und geben den Eindruck, die Erde würde sich anheben oder absenken, wenn sie in die Höhe beziehungsweise Tiefe rauscht. Ebenso bemerkenswert ist, wie autonom ihre beiden Hände fungieren. Gerade bei großem Abstand ergänzen sich die Stimmen kontrapunktisch wie zwei nur miteinander funktionierenden Kraftfelder.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]