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Mustergültiges Martin-Requiem mit Leif Segerstam

Capriccio C5454; EAN: 8 45221 05454 4

Vom immer noch stark unterschätzten Requiem des schweizerischen Komponisten Frank Martin gab es bislang lediglich zwei Aufnahmen aus Kirchen. Nun brachte Capriccio die immerhin schon 43 Jahre alte, musikalisch ganz vorzügliche Produktion des ORF mit Leif Segerstam aus dem Wiener Musikverein auf den Markt, gekoppelt mit Janáčeks ebenfalls selten zu hörendem „Vaterunser“.

Frank Martin (1890–1974), der gerne auch seine eigenen Werke dirigierte, gehörte bis zu seinem Tode durchaus zu den meistgespielten zeitgenössischen Komponisten in Europa. Leider teilt er mit etlichen anderen Kollegen das etwas unverständliche Schicksal, danach relativ schnell aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten zu sein – trotz des ungemein hohen Niveaus seines Schaffens. Als einer der wenigen Komponisten vermochte er, noch aus der Tradition der Spätromantik und des Impressionismus kommend, ein relativ stabiles harmonisches Fundament mit teils zwölftönigen Techniken in Einklang zu bringen. Die expressive Kraft von Martins Musik kommt vor allem in seinen Vokalwerken zum Tragen. Das 1971/72 entstandene Requiem hat der Komponist 1973 noch selbst in Lausanne zur Uraufführung gebracht (der Mitschnitt ist auf Jecklin nach wie vor erhältlich). Martin schreibt zu seinem Alterswerk: „Was ich hier versucht habe auszudrücken, ist der klare Wille, den Tod anzunehmen, den Frieden mit ihm zu machen.“ Mit relativ sparsamen Mitteln – etwa nur 2-faches Holz – wird dennoch ein eindrucksvolles Bekenntnis von enormer Energie abgelegt, das sich mühelos mit den bedeutendsten, dabei doppelt so langen Requiem-Vertonungen messen lassen kann.

Über Strecken dominiert – sowohl bei den Solisten wie im Chor – eine monodische Behandlung des Gesanges mit deutlichster Textverständlichkeit und empathischer Ausdeutung: Man höre nur den Beginn des Dies irae, wo nach dem bedrohlichen Einschleichen eines unheimlichen Schauders, der offensichtlich nicht von dieser Welt stammen soll (Schlagwerk plus Glissandi in Posaunen und Streichern), der Chor zunächst nur sprechend den „Tag des Zorns“ artikuliert; erst ab dem Tuba mirum bricht der Schrecken so richtig los. Dass Martin ebenfalls kontrapunktische Komplexität virtuos beherrscht, zeigt er uns im Kyrie. Ungewöhnlich, wie das abschließende Lux aeterna durchgehend im Fortissimo gehalten wird: alles in allem ein höchst persönliches Meisterwerk.

Die CD ist sicher als Hommage an den ehemaligen Chefdirigenten (1975–1982) des ORF Radio-Symphonieorchesters, Leif Segerstam, gedacht – dessen immer berstend zupackendes Musizieren sich auch hier wieder direkt auf die Zuhörer überträgt. Seine Solisten sind ausgezeichnet, neben der belgischen Altistin Ria Bollen, die schon bei der Uraufführung dabei war, vor allem ein stimmlich überzeugender Claes H. Ahnsjö und ein kraftvoller Robert Holl. Lediglich Jane Marsh neigt in der Höhe ein wenig zur Schärfe. Der Wiener Jeunesse Chor ist hochpräzise, aber letztlich zurückhaltender als die Kräfte aus Lausanne, die sich teils die Seele aus dem Leib zu singen scheinen. Die sorgfältig ausgearbeiteten Details erscheinen bei Segerstam und seinem Orchester mustergültig, was natürlich so nur im Konzertsaal gelingen mag. Deswegen ist für das Stück die neue CD ab jetzt musikalisch erste Wahl. Interessant, dass sich die Dirigenten aller drei nun verfügbaren Einspielungen bei der Tempowahl sehr einig sind und sich ziemlich exakt an die Vorgaben der Partitur halten. Aufnahmetechnisch übertrifft der Wiener Mitschnitt zwar nicht die für eine Kirche erstklassige Leistung von Jecklin aus der Kathedrale in Lausanne, ist jedoch um Klassen besser als einige leider – nur technisch! – recht misslungene Dokumente mit Segerstam von den Salzburger Festspielen. Klanglich bleibt für das Martin-Requiem allerdings die digitale Aufnahme aus der Kirche St. Georg, Stein am Rhein, unter Klaus Knall der Geheimtipp.

Leoš Janáčeks Vaterunser (Otčenáš) für Tenor, Chor, Orgel und Harfe von 1901/06 vertont nicht etwa das komplette Gebet, sondern bezieht sich auf fünf Gemälde des Polen Józef Męcina-Krzesz, die für eine Benefiz-Veranstaltung als „lebende Bilder“ umgesetzt wurden. Für Stammgäste der Wiener Staatsoper vielleicht nichts Neues – jedoch kennt man den Tenor Heinz Zednik auf Operngesamtaufnahmen fast ausschließlich im Charakterfach. Wie herrlich lyrisch er seine Stimme auch einsetzen konnte, beweist er hier (1987) geradezu exemplarisch. Allein deshalb sollte man diese gelungene Darbietung nicht missen.

Vergleichsaufnahmen (Martin): Capella Cantorum Konstanz, Collegium Vocale Zürich, Musicuria, Bläserensemble der Basel Sinfonietta – Klaus Knall (MGB CD 6183, 1999); Union Chorale et chœur de dames de Lausanne, Groupe vocal «Ars Laeta», Orchestre da la Suisse Romande – Frank Martin (Jecklin-Disco JD 631-2, 1973)

[Martin Blaumeiser, Juni 2022]

Totentanz als Urthema

FRANK MARTIN (1890-1974)
Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943

ARMAB ORCHESTRA
SACRAMENTSKOOR
HINENI STRING ORCHETRA
BASEL DRUMS
Geofrey Madge, Piano
Bastiaan Blomhert, conductor

Cpo 777 997-2
7 61203 79972 5

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts  malte man auf die Friedhofsmauern des Dominikanerklosters zu Basel 37 Bilder, die das schon seit langem bekannte Sujet des Totentanzes darstellten. Zerstört im Jahr 1805, blieben nur wenige Stücke für die Nachwelt erhalten. (Bei Google gibt es ein Aquarell mit allen 37 Darstellungen!)

1943 bat die Pantomimin Mariette von Meyenburg ihren Onkel Frank Martin um die Musik zu einer entsprechenden Theateraufführung. Leider ist nicht die gesamte Musik erhalten, einige Stücke wurden neu komponiert, andere aus anderen Kompositionen übernommen. Das hervorragende, mit mancherlei Bildern bestückte Booklet gibt ausführlich Auskunft und enthält auch die gesungenen Texte. Die Textverständlichkeit der Chöre lässt allerdings oftmals sehr zu wünschen übrig, was bei diesem holländischen Chor ein echter Makel ist. Zumal wo die Texte oft geistlichen Ursprungs sind, oder, wie auch das von ca. 1580 überlieferte Landknechts-Lied  mit dem Text „der grimmig Tod mit seinem Pfeil“ von Balthasar Bidembach (1533-1578). Also wäre ein Coach fürs Deutsche dringend nötig gewesen. (Beispiel gefällig: Kann ihm ent-rie-nen bzw. von hie-nen, statt entrinnen und von hinnen!!) Und das ist nicht der einzige Lapsus.

Die Musik, ausgehend von noch heute in Basel lebendigen Trommelstücken bis hin zu jazzmäßigen Einschüben aus Martins Kompositionen, fußt auf entsprechenden Liedern aus diversen evangelischen Gesangsbüchern, die meist mit kleinem Orchester begleitet werden. Sie beleuchten die verschiedenen „Paarungen“, die der Tod mit den Personen eingeht, die er sich holt, oder die ihn suchen. Martin, der seinen Stil aus Zwölftontechnik und klassischer tonaler Tonsprache entwickelte, komponierte neben einer ganzen Reihe von Vokalwerken (z. B. der Messe für zwei vierstimmige Chöre von 1922 und 1926) oder einem Requiem (1971/72) auch Instrumentalkonzerte für verschiedene Instrumente, Opern wie „Der Sturm“ von 1956 und Kammermusik. Seine Musik ist ansprechend ohne je simpel zu sein, so auch auf der vorliegenden CD von cpo. Neben Malern, die sich mit dem Thema „Totentanz“ beschäftigt haben, gibt es Tonschöpfungen, z. B. Franz Liszts (1811-1886Totentanz (1847-49), den „Danse Macabre“ von Camille Saint –Saëns (1835-1921) oder „Ein Totentanz“ von Wilhelm Kempff (1895-1991), und auch von Hugo Distler (1908-1942). Wolfgang Andreas Schultz (*1948) komponierte 1986 einen Totentanz. Frank Martins 1943 entstandene Komposition, die in Basel mitten im zweiten Weltkrieg auch ihre beeindruckende Uraufführung – und abgesehen von einer Wiederaufnahme 1992 einzige Aufführung – erlebte, wie die Bilder im Booklet  ebenfalls zeigen, knüpft an eine Vorlage an, die nicht nur für Maler wie Dürer und Holbein oder für Dichter wie Gryphius und Goethe oder Rilke Anlass schöpferischer Auseinandersetzung waren, sondern auch immer wieder Musikern wie Schubert, Mussorsky, Alban Berg oder Honegger und vielen anderen als Vorwurf zu ihren Kompositionen dienten.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]