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Écoles de Paris — Paris pour École

EDA Records, EDA 048; EAN: 8 403087 10048

Das Album Écoles de Paris – Paris pour École vereint Werke vierer Komponisten, die wesentlich vom Paris der 1920er Jahre geprägt worden sind: George Antheil, Jacques Ibert, Simon Laks und Marcel Mihalovici. Es spielen Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Leitung von Johannes Zurl. Als Solisten sind Adele Bitter (Violoncello) und Holger Groschopp (Klavier) zu hören.

Frank Harders-Wuthenow wirkt seit Jahrzehnten nicht nur im Musikverlagsgeschäft, sondern ist auch einer der beschlagensten und kenntnisreichsten Musikforscher weltweit. Hauptfeld seiner Erkundungen ist gleichermaßen die verfemte wie überhaupt die unterschätzte und vernachlässigte Musik des 20. Jahrhunderts, wo er ein sehr gutes Gespür hat, wie die Spreu vom Weizen zu trennen ist. Außerdem hat er eine ausgesprochene Gabe für die dramatisch schlüssige Zusammenstellung von Programmen, und schon alleine von daher gehört er zu denjenigen, wie weniger Wert auf enzyklopädische Vollständigkeit und Übersichtlichkeit legen als auf eine künstlerisch anregende Gesamtgestaltung. Also ist es keine Überraschung, wenn eine CD mit erlesenstem gemischten Programm der klassischen Moderne auf seinem Label EDA Records erscheint – die übrigens mit tollen Überraschungen aufwartet.

Gleich vorweg: das Album weist einen hervorragend einstimmenden und informierenden, recht umfangreichen Begleittext aus der Feder des Produzenten auf. Es handelt sich allesamt um Komponisten, die im Paris der 1920er Jahre heranreiften und es mitgeprägt haben. Natürlich könnten – gerade auch von den vielen Migranten – auch ganz andere dabei sein, wie Alexandre Tansman, Tibor Harsányi, Gösta Nystroem, Arthur Lourié, Bohuslav Martinu, Conrad Beck, Filip Lazar, Knudåge Riisager oder Uuno Klami, um nur einige wenige zu nennen. Aus dieser immensen Vielfalt sind drei Meister herausgegriffen, mit deren Werk die Welt nur sehr randständig bis überhaupt nicht vertraut ist, die in Kombination mit einem französischen Meister vorgestellt werden.

Den Anfang macht der einzige Franzose, Jacques Ibert – am besten durch seine Konzerte für Flöte und für Saxophon sowie durch seine Bläsermusik bekannt –, mit seinem so kurzweiligen wie knapp geformten dreisätzigen Konzert für Cello und Bläserdezett (doppeltes Holz sowie je ein Horn und eine Trompete) von 1925. Die Musik sprüht von trocken artikuliertem Witz, weist eine größere Nähe zu Strawinsky aus als spätere Werke Iberts und auch jene beinahe trivialen, zum Mitpfeifen einladenden Motive, wie wir sie beispielsweise aus seinen köstlichen Trois pièces brèves für Bläserquintett kennen. Alles funkelt, alles blitzt, und Solistin Adele Bitter gewinnt aus der heiklen Aufgabe, mit dem dominant kompakten Klang des Bläserensembles zu konzertieren, ein veritables Fest des unvorhersehbaren Dialogs. Natürlich ist das ‚Neoklassizismus‘, mit einer einleitenden Pastorale und einer finalen Gigue, die eine skurrile ‚Romance‘, die sich so gar nicht schwelgerisch gibt, umrahmen. Diese Romance gleicht einer unnahbar flunkernden Dame, mindestens mit Sonnenbrille, aber so was Anzügliches darf ich heute vielleicht nicht sagen.

Darauf folgt das Hauptwerk, die horrend herausfordernde Étude en deux parties für konzertantes Klavier, Bläser, Celesta und Schlagzeug von 1951. Mihalovici, rumänischer Jude und Pariser Weltbürger, engster Vertrauter George Enescus und vielleicht sein bedeutendster Nachfolger (ihm hat Enescu die Vollendung seiner späten Symphonie de Chambre, jenes grandios einsätzigen Meisterwerks, anvertraut), geht in seiner gereiften Tonsprache selbstverständlich davon aus, dass die Musiker in der Lage sein müssen, eine hohe Komplexität zu entschlüsseln und zu bewältigen. Es folgt hier auf einen langsamen Satz von mysteriös vorbereitendem Charakter in durchbrochener Faktur ein zügiger Satz mit jazzigen und rumänischen Anteilen, die auf sehr organische und unaufdringliche Weise ins anspruchsvolle Gewebe eingewoben sind. Dies ist absolut keine gefällige Musik, man muss die ständig kräftige Dissonanz-Würzung schon mögen, um Zugang zu finden, wird aber dann sehr reich belohnt. Die Energie wird lange unterschwellig gehalten, bevor sie sich gegen Ende exaltierter manifestieren darf. Zwar ist die Instrumentation sehr abwechslungsreich, wobei Mihalovici es liebt, die Klanggruppen einander opponieren zu lassen, doch ist er vor allem ein symphonischer Architekt, der alles von Anfang an auf den Schluss hin berechnet. Und ein bisschen Mysterium darf ja auch dann noch bleiben.

George Antheil hat mich mit seinem humorvoll draufgängerischen Concerto for Chamber Orchestra (für Bläseroktett, wie Strawinsky) in einem Satz von 1932 überrascht. Nicht das Freche, Frische, Grelle, Schlagkräftige, das ist ja für seine frühe Musik selbstverständlich; sondern die gelassene Souveränität seiner Provokation! Es ist äußerst präzise und treffsicher geschrieben und verdankt natürlich unendlich viel dem neusachlichen Strawinsky. Und zugleich ist es eben ein amerikanischer Strawinsky, so amerikanisch, wie selbst der Großmeister der Chamäleon-Possen es nie sein sollte. Diese Musik ist unmittelbar verständlich und hat das Zeug, mit poppiger Direktheit die Zuhörer zu gewinnen.

Auch das abschließende dreisätzige Concerto da camera für Klavier, Bläser und Schlagzeug von 1963, geschrieben vom polnischen Juden und KZ-Überlebenden Simon (Szymon) Laks, ist leicht zugänglich, und überdies von einer idyllischen Fröhlichkeit (also mehr naturhaft als die großstädtische Musik Antheils) mit einem ganz wunderbar den Problemen und Forderungen der Welt entrückten langsamen Mittelsatz. Das ist musikantische Musik im besten Sinne, für den Klaviersolisten sehr dankbar, gerade auch in der an Bach’sche Inventionen gemahnenden Kontrapunktik (Finale!) – ein zeitloses Werk, das genau so auch hätte dreißig Jahre früher oder sechzig Jahre später (=heute) entstehen können. Diesem Schaffen liegt eine autonome Haltung zugrunde, die die Parteifragen der Gegenwart (fortschrittlich oder rückständig und dergleichen) vollkommen transzendiert hat. Es war Laks offensichtlich gleichgültig, wie die Fachwelt urteilte, und er hatte Schlimmeres überlebt als deren Ignoranz – und stimmte, als unmittelbar Betroffener, offenkundig nicht Adorno zu, der ja proklamiert hat, nach Auschwitz könne man kein Gedicht (bei Laks: Lied) mehr schreiben. („… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben…“ – viele haben aus diesem dystopischen Giftbecher getrunken.) Denn Laks lebte mehr im Jetzt – und in sich – als all jene, die bis heute Vergeltung, Wiedergutmachung oder Verweigerung fordern. Die Aufführungen dieser insbesondere hinsichtlich Balance und Rhythmus sehr heiklen Werke sind durchgehend von überdurchschnittlich seriöser Qualität, und herausragend ist das Klavierspiel Holger Groschopps, der sich gleichzeitig als feiner Kammermusiker und echter Virtuose vorstellt – also ganz so, wie es die somnambul verschattete, katakombisch klaustrophobische Faktur Mihalovicis unbedingt einfordert und auch der Indian-Summer-Ausgelassenheit des abgeklärten Laks entspricht.

In seiner feinziselierten Buntheit kann dieses vortrefflich zusammengestellte Album nur empfohlen werden. Strawinskys Bläser-Oktett übrigens ist nicht enthalten, wie das Cover suggerieren mag, sondern nur online zu hören – was aber keine Rolle spielt, denn dieses Werk ist ja schon viel öfter aufgenommen worden als alle vier anderen Werke dieses Programms zusammen.

[Christoph Schlüren, Februar 2024]

Der klingende Schutzschild

EAN: 9 783793 140825

0049

„Musik aus einer anderen Welt“ oder, wie die hier vorliegende überarbeitete Ausgabe heißt, „Musik in Auschwitz“, ist ein autobiographischer Bericht des Komponisten und Violinisten Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Herausgegeben von Frank Harders-Wuthenow und Elisabeth Hufnagel erschien er bei Boosey & Hawkes, Harders-Wuthenow verfasste zudem ein Künstlerportrait, welches ebenso wie ein Bericht von André Laks über seinen Vater der Ausgabe beigefügt ist.

Beizeiten fällt einem einmal ein Gegenstand in die Hände, der schon längere Zeit im Regal stand und bereits aus der aktiven Wahrnehmung verschwunden war. Doch beim Betrachten zieht er einen erneut in seinen Bann und es überkommt einen, sich auf der Stelle wieder all seinem Zauber zu widmen. Genau so erging es mir mit „Musik in Auschwitz“ von Simon Laks, welches ich Anfang 2015 in Berlin erhielt und mit großer Begeisterung regelrecht verschlang. Nun entdeckte ich dieses Buch wieder und konnte nicht anders, als es erneut ‚in einem Atemzug’ durchzulesen, mich in diese Welt zu vertiefen und das großartige musikalische Schaffen Laks‘ noch intensiver zu studieren, auf dass es seine Einzigartigkeit für mich entfesseln kann.

Der Bericht von Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von 1942 bis 1945 setzt sich durch eine Sache ganz klar vom Gros der Zeugnisse von Überlebenden ab: Er verzichtet so konsequent wie irgend möglich auf alle detaillierten Beschreibungen des Schreckens und Terrors im Lager, von Gewalt, Folter, Unterdrückung und Mord. Sein Hauptanliegen: Die Musikszene im Konzentrationslager zu beschreiben, seine Erlebnisse im Bezirksorchester mitzuteilen und allgemein eine reflektierte, nicht aus dem Trauma heraus völlig subjektiv entstandene Schilderung des Lagerlebens zu geben. Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben (obwohl er der Hauptautor ist, stand er damals noch zusammen mit René Coudy als Verfasser da) und dreißig Jahre später überarbeitet, konnte Laks mit der Revision seine Gedanken sammeln und heilende, für Autor und Publikum guttuende Distanz zu den Schreckenserlebnissen gewinnen, um so ein objektiveres und detaillierteres Bild zu vermitteln – ein Bild, das der Leser versteht, da es in Worten und Vorstellungen niedergeschrieben ist, die ihm vertraut sind, obgleich er diese unvorstellbaren Zustände nicht miterlebt hat. So ist der Leser nicht paralysierter Zuhörer eines traumatisch verstörten Schreckensberichts, sondern wird aus seinen individuellen Erfahrungen heraus in diese „andere Welt“ hinein geworfen und kann mit dem autobiographischen Erzähler mitfühlen, sich in ihn hineinversetzen und es selbst miterleben. Das macht Simon Laks‘ Buch zu einem der am unmittelbarsten wirkenden und auch verständlich-informativsten Bücher über das Leben im Konzentrationslager. Nicht nur über das Grauen erfährt man, sondern auch über die sich langsam aufbauende Gesellschaftsordnung in Birkenau, über Handelssysteme und die Wege und Möglichkeiten, innerhalb des Lagers zur Prominenz aufzusteigen. Auch Einzelschicksale einiger Leidensgenossen werden beleuchtet, doch nur um das Bild zu vervollständigen, denn schließlich war jedes Einzelschicksal in Auschwitz zugleich Kollektivschicksal.

Zentral für das Schicksal von Simon Laks ist die Musik. Der Komponist und Violinist erörtert, wie er zum Lagerorchester kam und dort zeitweise sogar zum Dirigenten avancierte, wie dadurch die Musik ihn am Leben erhielt. „Die Geige, die ich halte, ist mein Schutzschild geworden“, so heißt es bereits auf der Titelseite der deutschen Ausgabe; dieser Satz ist Programm. Durch seinen gefragten Posten als professioneller Musiker, Notenschreiber, Violinist und Dirigent nämlich konnte sich Laks schnell Kontakte aufbauen zur Lagerprominenz und gehörte schon bald dazu – sprich, er konnte sich ausreichend Lebensmittel und andere für die Verhältnisse des Lagers unermesslich wertvolle Gegenstände beschaffen. So weiß Laks auch, skurrile Geschichten zu erzählen über besondere Vorlieben einiger Prominenter und SS-Männer, über besondere Musikideale und -vorstellungen. Doch vor allem der Alltag wird detailliert geschildert, die Funktion der Musik für die Gefangenen und für SS-Leute, die von Ermutigung zu Unterhaltung bis hin zur absoluten moralischen Abgründigkeit reichte.

Die Ausgabe bei Boosey & Hawkes bietet darüber hinaus alles, was man sich nur über so einen noch immer viel zu unbekannten Komponisten wünschen kann: Ein Verzeichnis aller Kompositionen Laks‘, die Diskographie und eine Portrait-CD liegen ebenso bei wie zwei absolute Schätze an Essays über Laks. Frank Harders-Wuthenow, zweifelsohne einer der feinfühligsten Musikverständigen in Deutschland und unter anderem mit seiner CD-Reihe „Poland Abroad“ ein beispielloser Vorreiter und Verbreiter der polnischen Musik in Deutschland, verfasst ein äußerst informatives und in prägnanter Kürze umfassendes Portrait über Simon Laks, außerdem erzählt André Laks, Sohn des Komponisten und derjenige, der für die internationale Verbreitung des Buchs Sorge trug, über die lange Geschichte hinter der Entstehung und Veröffentlichung des Buches.

Seit 2014 ist diese 1979 überarbeitete Fassung nun schon in deutscher Übersetzung von Mirka und Karlheinz Machel bei Boosey & Hawkes zu erwerben, doch noch immer ist das Echo darauf allzu gering angesichts des hohen Werts der Publikation. So sei knappe zwei Jahre später dieses Buch und die Musik von Simon Laks wenigstens hier ausdrücklich empfohlen. Egal ob Musiker oder nicht, jeder Leser wird von den sensitiven Schilderungen Simon Laks‘ gefesselt und mitgeschleift durch diese Welt und am Schluss leidet man gar mit ihm, als er einige Zeit nach seiner Befreiung mit echter Empörung sieht, dass die Waffenfabrik gesprengt wird, an deren Aufbau er die letzten Monate seiner Gefangenschaft mitarbeiten musste – war es doch schließlich auch „seine“ Fabrik.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]