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Ein reines Boulez-Programm beim zweiten „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für die Freunde Neuer Musik wird 2025 in erster Linie wohl ein Boulez-Jahr. Aus Anlass dessen 100. Geburtstags (26. März) widmete die Ernst von Siemens Musikstiftung ihr zweites „räsonanz“ Stifterkonzert am 9. Januar 2025 ganz dem großen Franzosen und präsentierte dem Publikum im Münchner Prinzregententheater endlich auch das fantastische Ensemble Les Siècles, dessen schon lange geplanter Auftritt wegen der Corona-Pandemie weit verschoben werden musste. So erklangen nun unter der Leitung von Franck Ollu zwei der Hauptwerke von Pierre Boulez: „Éclat/Multiples“ und „Pli selon pli. Portrait de Mallarmé“. Für die anspruchsvolle Sopranpartie konnte Sarah Aristidou gewonnen werden.

Sarah Aristidou und Franck Ollu mit dem Ensemble Les Siècles ©BR/Severin Vogl

Pierre Boulez (1925–2016) zählt noch immer zu den wichtigsten Komponisten der Nachkriegsavantgarde – völlig zu Recht, wie man am Donnerstag schon zur Pause des zweiten „räsonanz“ Stifterkonzerts im so gut wie ausverkauften Münchner Prinzregententheater feststellen durfte. Unter den meist in einem Atemzug genannten Zeitgenossen Xenakis, Berio, Nono, Ligeti und Stockhausen gilt Boulez vielleicht als der am verkopftesten agierende Intellektuelle, der zwar typische Techniken der 1950er Jahre wie den Serialismus aufgreift, jedoch zugleich mit geschickt gelenkter Aleatorik seine Musik sehr offen hält, zudem vielen Werken nie eine endgültige Fassung gab – Stichwort: work in progress –, sondern immer wieder daran weiterbastelte. Als Dirigent war Boulez spätestens ab Mitte der 1960er nicht nur einer der präzisesten Interpreten neuester Musik – seine manchmal als „Karate“ verspottete Schlagtechnik erwies sich als ungemein effektiv. Bei vielen modernen „Klassikern“ wie der Neuen Wiener Schule, Bartók und Strawinsky, insbesondere jedoch Ravel und Debussy wirkte er als Klangsensualist allererster Güte.

Die oft sehr vom instrumental hochdifferenzierten Schlagzeug dominierte, schon deshalb über Strecken leicht exotisch angehaucht klingende Musik Boulez‘ vermittelt sich dann auch dem Hörer überhaupt nicht über ihre oft mathematisch akribisch angelegten inneren Strukturen, sondern durch Raum, Resonanz, Hall und eben äußerst subtile und fantasievolle Farbmischungen. Éclat/Multiples (1970) entstand zunächst in zwei Etappen, wobei Multiples eine Art Erweiterung des ursprünglich für 15 Instrumentalisten geschriebenen Éclat (1965) darstellt, von der Besetzung her um 10 Bratschen erweitert. Sonst gibt es nur noch ein Cello in den Streichern. Abgesehen davon kann das Publikum schon optisch die beiden Abschnitte gut unterscheiden. In Éclat existieren weder durchgängige Metren noch Takte oder ein fixierbares Tempo, so dass der Dirigent – Franck Ollu, bereits in einem Konzert der musica viva 2023 mit dem BRSO ein überragend souveräner Leiter – hier wirklich jedes (!) einzelne Klangereignis dezidiert anzeigen muss. Bei Multiples gibt es streckenweise dann wieder Takt und Tempo: Der ungemein farbige, aber eben punktuelle Klang weicht dank der Bratschen stark auf und erscheint so insgesamt flächiger. Faszinierend sind die sich gegenseitig bespiegelnden Momente zwischen den einzelnen Orchestergruppen. Und kein Mensch merkt, dass Boulez dieses Werk ebenfalls nie wirklich beendet hat. Das von François-Xavier Roth gegründete, stets auf historisch korrekten Instrumenten spielende Orchester Les Siècles bewältigt all dies mit größter Konzentration, enormer Einigkeit mit dem Dirigenten, gerade was die Länge und den Nachhall einzelner Töne betrifft, und echter Sinnlichkeit – von wegen verkopft! Hier sind praktisch alle Musiker Solisten; besonderen Dank für eine gelungene Darbietung zollen Dirigent und Saal jedoch dem Pianisten, dem Bassetthorn sowie den Spielerinnen von Celesta und Cimbalom.

Pli selon pli. Portrait de Mallarmé (1957–1962) – vielleicht das wichtigste Werk des Komponisten – ist ebenso wieder in Boulez-typischer Manie mehrfach umgearbeitet worden, teils mit einschneidenden Veränderungen, zuletzt 2010/11, wo es mit Barbara Hannigan unter Boulez so hier aufgeführt wurde. Zum Glück entschieden sich Ollu und Les Siècles doch für die Fassung von 1989 – der letzte Satz Tombeau wirkte 2011 nicht nur nach Meinung des Rezensenten arg kastriert, worunter die symmetrisch angelegte Gesamtform spürbar litt. Wie der Komponist mit den revolutionär erratischen, hochästhetischen Texten des Dichters Stéphane Mallarmé (1842–1898) arbeitet, soll hier nicht erörtert werden. Nur so viel: Das gut 65 Minuten dauernde Werk besteht aus 5 Sätzen. In allen wirkt auch eine Sopranistin mit, die jedoch in den beiden großbesetzten Ecksätzen – Don und Tombeau – eher eine untergeordnete, in den drei mehr kammermusikalisch angelegten Improvisations, die allerdings minutiös ausnotiert sind, klar die Hauptrolle spielt. Es gibt nur wenige Künstlerinnen, die dies so überzeugend schaffen wie Sarah Aristidou – seit erst wenigen Jahren eine der profiliertesten jungen Koloratursopranistinnen und wegen ihres besonderen Engagements für Neue Musik da längst ein Star. Ihre Stimme ist bis auf wenige tiefe Töne – Boulez‘ Partie hat einen irrwitzigen Umfang – immer tragfähig, dabei jedoch nie grell, verströmt stets Wärme und bringt vor allem ein gewaltiges Charisma herüber, wodurch Aristidous Gesang eben nie nur instrumental wirkt, sondern menschlich und überraschend natürlich. Der Hörer klebt quasi an ihren Lippen, die von sirenenhaftem Schmelz bis zum aggressiv Hässlichen quasi sämtliche Schattierungen hervorbringen, die man einer Stimme überhaupt zutrauen mag. Eine absolute Glanzleistung, obwohl dieses Stück die erste Begegnung der aus Paris stammenden Sängerin französisch-zypriotischer Herkunft mit Boulez‘ Musik ist. Zwar enttäuschte der berühmte erste Zwölftonakkord von Don etwas – der sollte eigentlich wie der Urknall reinhauen –, doch danach klangen die Musiker von Les Siècles schlicht überwältigend: egal, ob solistisch-kammermusikalisch oder als Teil des faszinierenden Gesamtklangs agierend. Ollu hat dies natürlich perfekt im Griff: Ohne Allüren dient er der Musik und hält die Spannung über das gesamte, tief beeindruckende Werk, das wieder mit besagtem Zwölftonakkord endet, diesmal mit durchschlagendem Effekt. Mehr kann man als Dirigent für Pierre Boulez nicht leisten. Riesiger Beifall für Aristidou, Les Siècles und Ollu. Und entgegen verbreiteter Meinungen in einigen Medien: Boulez‘ Musik ist nicht tot. Man muss nur ihre Schönheiten entdecken.

[Martin Blaumeiser, 10. Januar 2025]

Die Rückkehr orchestraler Opulenz – Werke von Lim, Verunelli und Dusapin bei der musica viva

Liza Lim und Franck Ollu © Astrid Ackermann/BR

Anschließend an die – für 2021 nachgeholte – Verleihung der „Happy New Ears“ Preise in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste spielte am 12.5.2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal bei der musica viva den 2. Teil des Annunciation Triptychs: „Mary / Transcendence after Trauma“ der Preisträgerin für Komposition, Liza Lim. Anschließend erklangen die Uraufführung von Francesca Verunellis „Accord, chord and tune“ für Akkordeon und Orchester (Solist: Krassimir Sterev) sowie „Morning in Long Island“ von Pascal Dusapin. Es dirigierte Franck Ollu.

Auch die Verleihung der im 2-Jahres-Turnus vergebenen Happy New Ears Preise der Hans und Gertrud Zender-Stiftung für 2021 konnte coronabedingt erst jetzt in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste nachgeholt werden. Wolfgang Rathert hielt die Laudationes und betonte bei der Preisträgerin für Komposition, der Australierin Liza Lim, die Weltbezogenheit und das politische Engagement ihrer Musik. Der Preisträger für Publizistik zur Neuen Musik, der italienische Musikwissenschaftler Gianmaria Borio, wurde für sein umfangreiches Schaffen beiderseits des Atlantiks – darunter eine 4-bändige Geschichte der Darmstädter Ferienkurse – gewürdigt. Die kurzen, umso prägnanteren Danksagungen der Ausgezeichneten hielten diese in perfektem Deutsch – und erstmals in diesem Rahmen erklang ein kleiner musikalischer Beitrag: Matthew Sadler spielte Lims faszinierendes Trompetensolo Wild Winged-One.

Das Symphoniekonzert beginnt mit Liza Lims 2. Teil ihres Annunciation Triptychs: Mary / Transcendence after Trauma (2020/21), mit dem nun hoffentlich die Reihe der „verpassten“ musica viva Uraufführungen – das Triptychon wurde stattdessen 2022 in Köln von Cristian Măcelaru aus der Taufe gehoben – endet. Ganz im Gegensatz zu Lims zuletzt im Herkulessaal gespielter, hochpolitischer Performance instrumentalen Theaters Extinction Events and Dawn Chorus (wir berichteten) beschäftigt sich Lim hier mit dem Mysterium von Mariä Verkündigung und bedient sich dabei einer gewaltigen Palette orchestraler Klangfarben, deren Opulenz sie mit einer Meisterschaft beherrscht, die in jedem Detail absolut überzeugt. So gut wie nichts ist dabei konventionell oder gar ein Rückgriff in die Kiste der Neo-Romantik. Vom zarten Beginn der Spring Drums und Streicher bis zu ehrfurchtgebietenden Blechbläserglissandi – die die Komposition inspirierenden Texte schlagen von der Geschichte der Verkündigung eine Brücke bis zur Reflexion der Offenbarung – zeugt das gesamte, ca. 18-minütige Stück von tiefer spiritueller Versenkung, auch gerade in eher lauten Abschnitten. Ergreifend der kurze, zentrale Moment Her wild consent – nur mit Basstrommel, Horn und Klavier und die folgenden apokalyptischen Visionen. Lim benutzt gekonnt vierteltönige Einfärbungen und beeindruckende spektrale Klänge, besonders in den Bläsern. Dies alles kontrolliert der französische Spezialist Franck Ollu – er dirigiert ohne Taktstock und mit links – mittels klarer Impulse und genauer dynamischer Führung, bleibt dafür emotional recht unbeteiligt, vor allem im folgenden Beitrag.

Francesca Verunelli (*1979) erhielt 2020 den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung. In ihrem Uraufführungsstück mit dem technischen, neutral erscheinenden Titel Accord, chord and tune geht die Komponistin entschieden radikalere Wege: Konsequente Mikrotonalität erhält hier eine im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Bedeutung. Der Solopart wurde eigens auf das spezielle Viertelton-Akkordeon Krassimir Sterevs abgestimmt. Ein Solistenkonzert im traditionellen Sinne hören wir jedoch nicht: Die besondere Klanglichkeit wird in einen einheitlichen Organismus von Solist und Orchester integriert; das Akkordeon tritt praktisch kaum jemals in den Vordergrund. Aus den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten werden beständig neuartige Klänge synthetisiert, wo lediglich die Harfen stellenweise vertraute Akzente setzen. Mit seiner Überladenheit an instrumentalen Effekten, wodurch immerhin ein unterbrechungsloser, stimmiger Klangstrom gelingt, gehört Verunellis Stück zu den vielen „überinstrumentierten“ Orchesterwerken der letzten Jahre, die dann doch ohne jede Emotionalität irgendwie auf der Stelle treten. Das Publikum ist allerdings wohl anderer Meinung und bedenkt die Beteiligten mit großem Applaus.

Nach der Pause kommt Pascal Dusapin mit seinem gut halbstündigen „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island von 2010 zum Zuge. Dusapin (geb. 1955), Schüler u. a. von Iannis Xenakis, gehört seit langem zu den wichtigsten Komponisten Frankreichs; entsprechend groß ist seine Souveränität im Umgang mit dem Orchester. Inspiriert durch einen Spaziergang an den eiskalten Strand Long Islands im Jahre 1988 schildert Dusapin nicht etwa konkrete Naturstimmungen, sondern setzt die Erinnerungen an seine damaligen Empfindungen musikalisch um. Der stark durch Literatur – namentlich Flauberts – geprägte Komponist begibt sich auch hier auf eine Metaebene, nie simpel programmatisch. So etwas mag heutzutage dennoch altmodisch wirken – gute Musik ist es trotzdem. Nun ist Franck Ollu, höchst vertraut mit Dusapins Schaffen, endgültig in seinem Element, geht insbesondere im rhythmisch mitreißenden, positiv energetischen Schlussabschnitt (swinging) mit seinen amerikanischen Tanzrhythmen voll mit. Dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks muss man an erster Stelle aber für eine höchst gelungene Darbietung des langen, langsamen Mittelteils (simplement) danken, der farblich ungemein ausdifferenziert herüberkommt. Ollu scheint nun glücklich mit dem ganzen Abend zu sein und erhält zusammen mit dem Komponisten verdient begeisterte Zustimmung.

[Martin Blaumeiser, Mai 2023]