Zwei einander widersprechende Aussagen bringen mich dazu, der Frage nachzugehen, wie der erste Satz des Klavierkonzerts op. 39 von Ferruccio Busoni eigentlich aufgebaut ist.
Federico Celestini: „Von einem symphonischen Konzert im Sinne Brahms[´] unterscheidet sich Busonis Werk durch das Fehlen der Sonatenform und die Verwendung zahlreicher Themen.“
(Federico Celestini: „Zu Ferruccio Busonis Poetik: Das ‚Klavierkonzert mit Männerchor‘ op. 39“, in: Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900–1945 (= Studien zu Franz Schmidt XVI), hrsg. von Carmen Ottner, Wien 2009, S. 204.)
Robert Simpson: „The large classical concerto scheme with ritornello was never attempted by Nielsen: very few composers have felt inclined to risk it since Brahms and Dvořák. Elgar’s violin concerto […] attacks the problem, and the first movement of Busoni’s enormous piano concerto, together with Reger’s hugely comprehensive works for pianoforte and violin, are perhaps the most important examples of this difficult form since Brahms.“
(Robert Simpson: Carl Nielsen Symphonist, London 2009, S. 137.)
Wer es mit dem Wortlaut genau nimmt – und warum sollte man das nicht tun! – wird feststellen, dass in beiden Zitaten unterschiedliche Begriffe verwendet werden. Der Widerspruch wird erst deutlich, wenn wir dem Begriff des „large classical concerto scheme with ritornello“, von dem Simpson schreibt, auf den Grund gehen. Dies führt uns zu den erhellendsten Texten über die Formen konzertanter Musik des 18. Jahrhunderts. Sie stammen von Donald Francis Tovey, dessen Terminologie Simpson übernimmt. Zum einen handelt es sich um den Artikel „Concerto“ in Toveys Buch The Forms of Music, zum andern um den Aufsatz „The Classical Concerto“, der als Einleitung zum dritten Band seiner Essays in Musical Analysis dient, in welchem eine Anzahl Konzerte vorgestellt wird. Der letztere dieser beiden Texte befasst sich, wie es unmissverständlich durch eine Zwischenüberschrift deutlich gemacht wird, vorrangig mit „The Sonata-Form Concerto“, was nichts anderes ist als das, was Simpson meint. Man beachte freilich, dass Tovey den Begriff „sonata form“ in diesem Kontext sehr vorsichtig gebraucht. Im Artikel aus The Forms of Music scheint er mit Absicht vermieden zu sein, und auch in der Einleitung zu den Essays III wird er, kaum aufgekommen, sofort zu „sonata forms“ und „sonata style“ erweitert, nämlich so: „The best way to avoid a tiresome abstract of ordinary sonata form will be for us to base our analysis on the difference between the sonata forms and those of Bach. The cardinal difference between sonata-style movements and those of the time of Bach is that the sonata movement changes on dramatic principles as it unfolds itself, whereas the older forms grow from one central idea and change only in becoming more effective as they procede. You cannot, indeed, displace a bar without upsetting the whole; but the most experienced critic could not tell from looking at a portion out of its context whether it came from the beginning, middle, or end of the work. Yet almost any sufficient long extract from the first movement of a sonata by Mozart or Beethoven would give a competent musician abundant indications of its place in the scheme.“ Sonatenform ist also kein starres, abstraktes Modell, sondern das klingende Resultat einer bestimmten Kompositionsweise, des Sonatenstils. Diesen beschreibt Tovey stets als ein „dramatisches“ Prinzip in dem Sinne, dass der Wechsel von einer Tonart in die andere wie ein dramatisches Ereignis herausgestellt wird, sodass der Weg zurück zur Ausgangstonart nicht anders als durch weitere dramatische Ereignisse erreicht werden kann: „Johann Christian, the ‚London‘ Bach, initiated the all-important method of emphasizing a change of key so that it became a dramatic event irreversible except by other dramatic developments“, heißt es in The Forms of Music. Das klassische Konzert, wie wir es in vollkommenster Ausprägung bei Mozart finden, ist mithin das Ergebnis der Einwirkung des neuartigen Sonatenstils auf die ältere Konzertsatzpraxis, Orchesterritornelle und solistisch dominierte Passagen einander abwechseln zu lassen. Das „large classical concerto scheme with ritornello“ übernimmt vom barocken Konzertsatz die orchestrale Einleitung, welche in der Haupttonart verbleibt. Der Sonatenstil kommt in dem Abschnitt zum Tragen, der mit dem Einsatz des Soloinstruments anhebt. Hier entwickelt sich ein tonales Geschehen wie in der Exposition eines Sonatensatzes, welches zum Wechsel in die Kontrasttonart führt. Die anschließenden Abschnitte des musikalischen Verlaufs entsprechen dem zweiten Teil eines Sonatensatzes mit Durchführung und Reprise. Die Anfangsabschnitte eines solchen Konzertsatzes werden zuweilen als „doppelte Exposition“ bezeichnet. Dies mag dadurch gerechtfertigt erscheinen, dass das thematische Material des Tutti-Ritornells mit dem des Solos weitgehend übereinstimmt, ist letztlich aber doch irreführend, denn für den harmonischen Verlauf des Satzes erfüllen beide Abschnitte verschiedene Funktionen. Die Ähnlichkeit zu Expositionswiederholungen, wie sie in den Kopfsätzen klassischer Symphonien vorkommen, ist zufällig. Möchte man eine Bezeichnung für die Eröffnung des Kopfsatzes eines klassischen Konzerts vergeben, die mit der gängigen Terminologie für den Sonatensatz übereinstimmt, so schlage ich zwei Möglichkeiten vor:
1. Man bezeichnet das Orchesterritornell und den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung gemeinsam als „Exposition“.
2. Man bezeichnet das Orchesterritornell als „Einleitung“, den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung als „Exposition“.
(Ich werde im Folgenden beide Definitionen benutzen, je nachdem es zur Erfassung der Sache günstiger erscheint. Der Leser wird bemerken, was in welchem Fall wie gemeint ist.)
Wie verhält es sich nun mit Busoni? Liegt im Kopfsatz seines Klavierkonzerts eine Sonatenform vor? Oder fehlt sie, wie Celestini meint?
(Die nachfolgende Analyse basiert auf der bei Breitkopf & Härtel erschienenen Erstdruckpartitur des Werkes, die im Netz auf IMSLP zu finden ist.)
Zunächst fällt auf, dass Busoni sein Werk mit einer langen Einleitung eröffnet, in der das Soloinstrument schweigt. Es handelt sich, ganz wie Simpson schreibt, um ein Ritornell nach Art der Wiener Klassiker, denn Busoni achtet, so abwechslungsreich er die Harmonik auch gestaltet, sorgfältig darauf, die Haupttonart C-Dur nicht in Frage zu stellen. Sie ist über die ganzen viereinhalb Minuten, die die Einleitung dauert, nie weit entfernt. Nirgends wird eine Kontrasttonart etabliert. Alle Ausweichungen dienen nur dazu, die Rückkehr nach C-Dur umso interessanter zu gestalten. In diesem Orchesterritornell lassen sich drei verschiedene Themen unterscheiden: das Anfangsthema, eine Fanfare, die zuerst leise auf S. 4 in Klarinetten und Hörnern erklingt, und ein weiteres Thema, das aus einer Variante des Anfangsthemas abgeleitet wurde und das zuerst bei Ziffer 4 auf S. 11 auftaucht. Es sei aufgrund seines Anfangs auf starker Taktzeit das „abtaktige Thema“ genannt.
Das Klavier setzt bei Ziffer 5 auf S. 14 mit Akkordbrechungen ein, die es von den Streichern übernommen hat, welche zuvor die Fanfare untermalten. Im Bass erklingen Motive ähnlich der Fanfare, die sich allmählich als weit ausladender Gesang entpuppen, wie es auch oft bei Liszt vorkommt. Zweimal spielen Blasinstrumente dazu ein signalartiges Thema aus den Tönen eines subdominantischen Akkords (S. 17 und 18). Während das Klavier noch seine auf und ab wogenden Akkordbrechungen spielt, erklingen in den Bläsern punktierte Rhythmen und Sechzehntelfolgen, die das Klavier schließlich übernimmt (S. 19). In den Bläsern erklingt der Kopf des Anfangsthemas (S. 20), dann in den Streichern derjenige des abtaktigen Themas (S. 21, Ziffer 8). Wenn dieser vom Klavier in Triolen aufgelöst wird (S. 22), ereignet sich die Überleitung nach E-Dur, denn in der Zwischenzeit ist das passiert, was in klassischen Konzerten nach Einsatz des Soloinstruments zu passieren pflegt: Die Musik hat moduliert, die Haupttonart wurde verlassen, nun mündet sie in die Kontrasttonart ein. Busoni entscheidet sich für das vier Quinten über der Haupttonart liegende, mit ihr in mediantischer Beziehung stehende E-Dur und befindet sich damit in der guten Gesellschaft zahlreicher Komponisten seit Franz Schubert, die sich nicht mehr mit Dominant- oder Paralleltonarten für die Seitensätze ihrer Sonatenformen begnügen, sondern der Haupttonart entferntere Tonarten gegenüberstellen wollen.
Auf S. 23 beginnt Busoni nun den Seitensatz seiner Exposition, in E-Dur und mit einem Thema, das rhythmisch viel mit den bisher erklungenen Themen gemeinsam hat, nichtsdestoweniger aber neu ist. Es wird überwiegend von den hohen Holzbläsern, teilweise auch von den Hörnern vorgetragen. Der akkordische Satz geht auf S. 27 in ein Oboensolo über. Die Musik bleibt nicht in E-Dur, sondern moduliert weiter bis nach Fis-Dur, das auf S. 35 bei Ziffer 10 über eine Kadenz erreicht wird. Hier setzen die punktierten Rhythmen und Sechzehntelfiguren wieder ein: kurzatmige Floskeln, wie sie für Schlussgruppen von Expositionen bezeichnend sind. Einen deutlichen formalen Einschnitt möchte Busoni aber nicht, sondern moduliert weiter und lässt die Musik nach wenigen Takten durchführungsartigen Charakter annehmen. Es entfaltet sich auch nun ein Abschnitt, der nicht anders denn als Durchführung angesprochen werden kann.
Schauen wir zurück, so überblicken wir rund 9 Minuten Musik, deren Verlauf auffallend viel mit den Anfangsabschnitten Mozartscher Konzerte gemeinsam hat: Das Verweilen der Orchestereinleitung in der Haupttonart, das Modulieren nach Einsatz des Soloinstruments, die Vorstellung neuer Themen und Motive nach Einsatz des Soloinstruments bis hin zu einem Seitensatz, dessen Thema sich in der Einleitung nicht findet. Natürlich hat Busoni im Einzelnen Manches anders gemacht als Mozart, aber das Grundprinzip der musikalischen Formung ist das gleiche! Wir haben also in Busonis Konzert eine Konzertsatzexposition ganz nach klassischer Art gehört.
Die Durchführung genauer zu betrachten, ist hier nicht nötig. Es genügt für die Klärung unserer Frage festzustellen, dass sie vorhanden ist. Gibt es aber bei Busoni eine Reprise? Mozart pflegt in den Kopfsätzen seiner großen Klavierkonzerte alle Stränge in den Reprisen zusammenzuführen. Themen aus der Orchestereinleitung erklingen wieder, die seit Einsatz des Soloinstruments nicht mehr verwendet wurden, aber auch die vom Klavier eingeführten Themen sind präsent. Thematische Ungleichgewichte zwischen Einleitung und Exposition werden ausgeglichen. Im Kopfsatz des Busoni-Konzerts findet sich nichts dergleichen. Stattdessen führt Busoni den Hörer mit nahezu Haydnschem Humor aufs Glatteis, ohne dabei die ernste Miene zu verziehen: Über einem Dominantorgelpunkt kündigt er in mächtiger Steigerung mittels der Fanfare die Rückkehr nach C-Dur an (S. 57–61). Man kann es niemandem verübeln, der nun erwartet, das Anfangsthema setze in voller Pracht ein und eröffne eine möglicherweise in aller Ausführlichkeit gestaltete Reprise. Doch auf S. 61 wechselt die Dynamik plötzlich vom forte ins piano, dadurch die Erwartungen an einen machtvollen Repriseneintritt sofort zunichte machend. Statt des Anfangsthemas erklingt das abtaktige Thema, wenn auch „korrekt“ in der ausführlich vorbereiteten Haupttonart C-Dur. Das ist die ganze Reprise! Ihr folgen als Coda nur noch ein paar Fragmente des Anfangsthemas und der Fanfare, dann ist der Satz zu Ende. Zwischen dem Wiedereintritt der Haupttonart und dem Schlussakkord sind lediglich eineinhalb Minuten vergangen – ein extremes Ungleichgewicht zur neunminütigen Exposition des Satzes, die dadurch rund drei Fünftel seiner Spieldauer einnimmt!
Harmonisch ist der Satz komplett: Er ist von C-Dur ausgegangen, hat als Kontrasttonart E-Dur erreicht, nach einer Kadenz in Fis-Dur ausgiebig moduliert und ist am Ende, nach ausgiebiger Vorbereitung, wieder in C-Dur angekommen. In thematischer Hinsicht hat er extreme Schlagseite, denn es werden in der Exposition Themen vorgestellt, die im ganzen Satz nicht wieder zu hören sind. Wo bleibt das Thema des E-Dur-Seitensatzes, wo die Klavierkaskaden, wo das darüber gelegte Bläsersignal? Busoni hat in diesem Satz ein musikalisches Paradoxon auskomponiert: Er ist gleichzeitig vollständig und unvollständig. Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, findet sich im letzten Satz, der Männerchorhymne aus Aladdins Wunderhöhle. Alles, was in der Reprise des Kopfsatzes fehlte, tritt hier erneut auf und erscheint durch den Gesang auf eine höhere Stufe gehoben. Es wurde nicht vergessen, sondern nur aufgespart, um in neuer Gestalt umso stärker zu wirken. Bezeichnenderweise beginnt der Chor mit dem Seitensatzthema in dessen originaler Tonart E-Dur und findet am Ende zum C-Dur des Anfangs zurück. Alle Widersprüche lösen sich harmonisch auf.
Um ein letztes Mal zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Ist der Kopfsatz von Ferruccio Busonis Klavierkonzert op. 39 in Sonatenform geschrieben? Diese Frage ist unbedingt zu bejahen! Die Tatsache dass seine Reprise extrem verkürzt ist – ein Umstand, der sich aus dem Zusammenhang des ganzen Werkes heraus erklärt –, mag freilich manchen Betrachter in die Irre führen. Die wesentlichen Merkmale eines „large classical concerto scheme with ritornello“ sind aber nichtsdestoweniger vorhanden, womit der Satz getrost als Sonatensatz angesprochen werden kann.
[Norbert Florian Schuck, Oktober 2023]