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Verblüffende Jugendwerke

Orfeo, C 763 093 D; EAN: 4 011790 763323

Das Stuttgarter Kammerorchester unter Michael Hofstetter nimmt alle dreizehn Kammersymphonien von Felix Mendelssohn auf drei CDs auf. Die Box erschien bei Orfeo.

Die Streichersymphonien von Felix Mendelssohn sind weit mehr als bloße Studienwerke oder Kompositionsübungen, es ist von der allerersten an eigenständige und auf ihre Art abgeschlossene Konzertliteratur von handwerklicher Beherrschung und geistiger Inspiration, wie sie viele Kollegen seiner wie unserer Zeit selbst in ihrer Reifephase nicht erreichen. Gedacht waren sie für die Aufführung im häuslichen Bereich, heute sollten sie jedoch auch öffentlich erklingen.

Eine strenge Ausbildung prägte die Kindheit Felix Mendelssohns, der ab seinem sechsten Lebensjahr in Deutsch und Französisch, Mathematik, Kunst und Musik ausgebildet wurde, ein Jahr später (1816) Violin- und Klavierunterricht erhielt. Ab 1818 erhielten Felix und seine Schwester Fanny Privatunterricht in mehreren Fächern. Die Kinder mussten in allen Bereichen hohe Bildung vorweisen können, wurden stets zum Lernen angehalten. Die musikalische Ausbildung legten die Eltern in die Hände von Carl Friedrich Zelter (1758-1832), selbst Autodidakt und hauptberuflicher Maurermeister, der jedoch durch intensive Forschung an alter Musik technische Meisterschaft entwickelte und in hohen Kreisen, vor allem mit Johann Wolfgang von Goethe, verkehrte, was ihm gesellschaftliche Prominenz sicherte. Die Meinungen über Zelter gehen weit auseinander: Als wichtigster musikalischer Bezugspunkt für Felix Mendelssohn nimmt er auf jeden Fall eine Vorrangstellung bezüglich dessen musikalischer Entwicklung ein, auch wenn das Genie des Jungen sich wohl auch „von selbst“ (?) entwickelt haben würde. Die Streichersymphonien entstanden unter seiner Aufsicht und zumindest die frühen spiegeln die Haupteinflusspunkte Zelters (CPE Bach, Händel etc.) deutlich wider.

Der Überschaulichkeit halber ordne ich die Symphonien in drei Gruppen ein, die allerdings nur gedachten Kategorien entsprechen und der organischen Entwicklung einer jeden einzelnen im Kontext nicht im Wege stehen sollten. Die erste Gruppe umfasst die ersten sechs Streichersymphonien, die alle 1821 komponiert wurden und in konsequenter Dreisätzigkeit schnell – langsam – schnell konzipiert wurden. In der Entwicklung dieser sechs Symphonien kann manch eine Gemeinsamkeit zu derjenigen der ersten sechs Klaviersonaten von Mozart gesehen werden (Mozart zählte neunzehn Jahre, als er diese Sonaten komponierte, Mendelssohn schrieb die ersten Streichersymphonien zwölfjährig). Im Umfang sind die sechs 1821 komponierten Symphonien noch recht gering, dafür dicht in der musikalischen Textur. Von der ersten Symphonie an zeigt sich fundiertes technisches Können besonders auf kontrapunktischer Ebene: Insgesamt neigt Mendelssohn noch dazu, seinen Satz zu überfrachten. Allein von der ersten zur dritten Symphonie zeigt sich eine beachtliche klangliche Verfeinerung, die sein unaufhaltsames Streben wie sein eigenes Reflektieren versinnbildlicht. Jedes einzelne Werk experimentiert mit neuen Elementen und Charakteristika. In der vierten Symphonie probiert er eine langsame Einleitung aus (was er ab der Achten dann zum Standard macht) und lässt im Andantesatz erstmalig Elemente seiner späteren, romantischeren Tonsprache durchschimmern. Mendelssohn begann allmählich, seinen Satz aufzuklären, was in der Sechsten schließlich zu klanglichen Erfolgen führte. In dieser entdeckte er zudem das Menuett als Zwischensatz für sich, was die Tore öffnete für viersätzig konzipierte Formen.

In eine zweite Gruppe ordne ich die Symphonien 7-9, diese bestehen nun je aus vier Sätzen, wobei zu der bisherigen Form an dritter Stelle je ein Menuett oder im Falle der 9. Symphonie ein Scherzo hinzutritt. Im Gegensatz zu dem Menuett der Sechsten, das als alleiniger Mittelsatz größeren Umfang benötigt und so zwei Trios besitzt, haben die der Symphonien aus der zweiten Gruppe je nur ein Trio. Zudem wachsen die Symphonien in ihrer Gesamtlänge deutlich an, verdoppeln bis verdreifachen ihre Spieldauer. Die gesamte Konzeption wirkt nun symphonischer, es gibt deutlichere Kontraste und nachvollziehbarere Wechselspiele zwischen den Stimmen: Mendelssohn operiert sparsamer mit seinen Mitteln, verteilt sie ökonomischer. Allgemein verfeinert sich sein Gespür für Klang; dies führt unter anderem dazu, dass er beginnt, die Stimmen aufzufächern, um den Gesamtklang weiter auszudifferenzieren. In der siebten Symphonie begnügt er sich damit, lediglich Celli und Bass eigenständiger zu führen. Ab der Achten experimentiert er mehr: Im Adagiosatz kommen nur Bratschen und tiefe Streicher zum Einsatz, die Bratschen jedoch unterteilt er in drei Sektionen. In der Neunten knüpft er hieran an und teilt die Bratschen in zwei Sektionen, im Andante gibt es zudem insgesamt vier Violinstimmen. Die Zweiteilung der Bratschen etablierte sich von nun an als Standard für ihn.

Da von der zehnten wie der dreizehnten Symphonie je nur ein Kopfsatz überliefert ist, können diese formal nicht eingeordnet werden. Eine dritte Gruppe bilden daher lediglich die elfte und zwölfte Symphonie, welche ich als experimentale Symphonien bezeichnen würde: Mendelssohn geht vollends an oder gar über die Grenzen des Genres, experimentiert mit neuen Formmodellen und Ideen; er ist bereit für das volle Orchester. Mit fünf Sätzen und einer Spieldauer von 40 Minuten erreicht die Elfte ganz neue Dimensionen – im Scherzo nimmt der Komponist zudem Schlagwerk (Pauken, Triangel und Becken) hinzu, schreit also förmlich nach dem Symphonieorchester. Er bleibt dabei, die Bratschen in zwei Teile zu separieren, was die Mittellage facettenreicher ausgestaltet. Die Faktur wird noch luzider und er behandelt seine Mittel noch sparsamer bis hin zur Einstimmigkeit, wodurch er ein größeres Spektrum an Klangfarben erhält. Die Besonderheit der g-Moll-Symphonie Nr. 12 liegt vor allem im Kopfsatz, welcher nach einer langsamen Einleitung in einer großen Fuge zwei Themen durchführt. Hier kehrt Mendelssohn wieder zur dreisätzigen Form zurück, wobei das Finale die Hälfte der Länge ausmacht.

Das Stuttgarter Kammerorchester liefert eine formidable Gesamteinspielung dieser insgesamt dreizehn Streichersymphonien ab, die besonders durch ihren luftig-leichten Klang begeistert. Dirigent Michael Hofstetter verzichtet auf große Geste, sondern hält die Musik schlicht und geradlinig. Er verfolgt die Entwicklung musikalisch mit und passt sein Orchester den Gegebenheiten der Musik an – vor allem behalten die Symphonien dadurch die ausgelassene Jugendlichkeit, die sie charakterisiert, trotz der grandiosen handwerklichen Leistung. Überschwänglich lebendig präsentiert Hofstetter die frühen Symphonien, verleiht den späteren dann mehr Kontrast, differenziert deutlicher aus und gibt ihnen allgemein gewisse Reflexion ganz im Sinne des reifenden Mendelssohn. Ich bewundere den heute selten anzutreffenden Mut, einige der Wiederholungen auszusparen, die in den Noten vermerkt sind: Wenn sich die Musik zu weit vom Ausgangspunkt entfernt hat, macht die Rückkehr ebendorthin oft keinen Sinn mehr, was auf Kosten der Formverständlichkeit geht. Gerade in den umfangreicheren, späteren Werken hätte ich sogar auf noch ein paar mehr Wiederholungen verzichtet. Die Tempi übersteigert das Orchester teils, so dass die Allegri vor allem der früheren Symphonien zu rasch davoneilen und fast durchgehend Alla Breve-Stimmung evozieren, während die Andante-Sätze schleppen: Hier wäre Mut zu subtileren Kontrasten wünschenswert, sich auf die Gratwanderung einzulassen, die Tempi zu relativieren, ohne dass dabei die Gegensätze verschwimmen oder die Musik in den Randsätzen stockt. Technisch bewundernswert gelingen die Unisonostellen, die brillant aufeinander abgestimmt erklingen, sowie die mehrfach separierten Stimmen, wo die Stimmgruppen auch ihr Miteinander im Gegeneinander beweisen.

[Oliver Fraenzke, November 2020]

Beachtenswerte Gegendarstellungen

SWF music, SWR19060; EAN: 7 47313 90608 6

SWR music publiziert eine CD mit dem Klavierrezital des französischen Pianisten Samson François vom 3. Mai 1960. Auf dem Programm stehen zwei Lieder ohne Worte (op. 67/5 und op. 62/6) von Felix Mendelssohn, die Nocturne f-Moll op. 55/1 sowie die Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35 von Frédéric Chopin, drei Preludes von Claude Debussy (La danse de Puck, La cathédrale engloutie, Feux d’artifice) und die 7. Klaviersonate B-Dur op. 83 von Sergei Prokofieff.

Oberflächlich bekannt als enfant terrible, als glänzender Virtuose und dem Alkohol zugeneigter Nachtschwärmer, vergisst man gerne die unvorstellbare musikalische Potenz von Samson François. Der Pianist starb bereits im Alter von 46 Jahren an den Folgen eines zwei Jahre zuvor erlittenen Herzinfarkts und wir können nur erahnen, was wir von ihm noch hätten erwarten können. Vorliegende CD gibt uns ein umfangreiches Bild seines Schaffens, wir hören ein Rezital vom 3. Mai 1960, welches er also kurz vor seinem 36 Geburtstag spielte.

Samson François war ausgestattet mit einem genuinen Gespür für musikalischen Ausdruck; er wusste genau, wie viele Freiheiten er sich lassen konnte, um die Musik zur vollen Entfaltung zu bringen, so dass sie weder zum Museumsstück noch zum persönlichen Stimmungsgemälde degradiert wird. Bei aller Wildheit bleibt dabei die Struktur klar und die Linien nachvollziehbar, die innermusikalischen Kontraste deutlich. François spürte die Intention des Komponisten auf und brachte diese ans Licht, wodurch er verblüffende Gegendarstellungen zu den landläufigen Vorträgen der Stücke schuf.

Das Programm wählte Samson François geschickt und abwechslungsreich, so dass es gut am Stück durchhörbar ist, ohne, dass die Aufmerksamkeit schwindet. Er beginnt mit zwei Liedern ohne Worte von Felix Mendelssohn und einem Nocturne Chopins, in denen er je seine lyrische Seite präsentiert, schlichter und sanglicher Vortrag von reinster Schönheit. Bei Chopins Nocturne pedalisiert er ausgesprochen wenig, um die Staccato-Artikulation der linken Hand zum Vorschein zu bringen. Die einzelnen Formteile setzt er durch starke Ritardandi voneinander ab, hält ansonsten das Momentum jedoch aufrecht – was in einer herrlich unverträumten Darstellung des Nocturnes resultiert, die dennoch nicht weniger sinnlich ist. Die zweite Klaviersonate hält François formal streng zusammen und strafft sie sichtlich, nicht zuletzt durch Auslassung sämtlicher Wiederholungen. Im Grave sticht der graduelle Aufbau am Anfang hervor, im Scherzo die enormen Kontraste zwischen den einzelnen Teilen. Der Marche funèbre erklingt tatsächlich einmal als Marsch und nicht wie gewohnt als Trauergesang! Dies gelingt François durch eine markige linke Hand, so dass die Tiefen sonor heraufklingen und nicht beiläufig unter der Melodie verlorengehen, und durch präzise Rhythmik – so darf der Mittelteil auch ein wenig sanfter dagegenwirken. Das Finale rauscht beinahe konturlos und rasend schnell (1:05!) an uns vorüber; und doch nehmen wir eine unterschwellige Bogenform wahr bis zu einem kurzen Sforzato und sofort wieder zurück. Glänzende Virtuosität, aber mit musikalischem Impetus.

Debussy wollte die Titel seiner Preludes ursprünglich gar nicht abdrucken, entschied sich aber auf Wunsch des Verlegers doch dafür. Eine gute Entscheidung, denn die Stücke strahlen eine derartig hypersensitive Bildlichkeit aus, dass die Titel beinahe unentbehrlicher Bestandteil werden – zumindest zur Vollendung der Imagination. Diese Bilder setzt François präzise um und lässt die Subjekte der Preludes regelrecht im Geiste auferstehen (ich glaube, selbst ohne Wissen um die Titel, doch das kann ich nicht beurteilen). Wie lebendig und keck springt der kleine Puck umher, und wie farbenprächtig strahlt das Feuerwerk voller Spielfreude und Flexibilität. Zum Geniestreicht wird vor allem aber die cathédrale engloutie, deren Aufsteigen und wieder Hinabtauchen wir förmlich miterleben. Dabei überspielt François geschickt den notwendigen Tempowechsel vor dem volltönenden Höhepunkt durch langes Accellerando und hütet sich davor, aus dem zweiten Fortissimo noch einen Höhepunkt zu machen, was der Gesamtstruktur sehr zugute kommt. François erlaubt sich sogar kleine Änderungen des Notentexts inklusive einer neuen Bassnote im Höhepunkt, die jedoch durchaus Sinn ergibt, da man so den Bass komplett durchhört und die tiefe Ebene nicht zwischenzeitig entschwindet.

Die siebte Prokofieff-Sonate hören wir heute meist als wild hämmerndes Getöse ohne Sinn und Struktur. Bei François geht es nicht weniger wild zu – eher im Gegenteil – und doch vernehmen wir jede Linie glasklar und den Verlauf schlüssig. Auch hier zieht der Pianist den Reiz aus innermusikalischen Kontrasten, wobei er die Andante-Passagen nicht verträumt, sondern im gleichen Precipitato-Trieb hält, der sich im Finale wörtlich niederschlägt. Die teils unterschwellige Polyphonie bleibt luzide und jede Stimme erhält ihren festen Platz.

Virtuosität und Brillanz müssen nicht gleichbedeutend sein muss stumpfen oder unmusikalischem Spiel. Viel zu oft ist dies ein „entweder, oder“, nicht jedoch bei Samson François. Und genau deshalb lege ich diese Aufnahme alldenjenigen ans Herz, die trotz unbändigem Ausdruck nicht auf das verzichten wollen, was Musik eigentlich ausmacht – denn diese beiden Pole sind vereinbar, wie wir hier eindrucksvoll hören.

[Oliver Fraenzke, Juni 2019]

Was ist besser als ein Orchester?

Sonntags-Matineee der Kammerphilharmonie dacapo München am 14. April 2019 im Herkulessaal: Mozart, Mendelssohn, Brahms

Was ist besser als ein Orchester? Natürlich deren zwei. Vor allem, wenn damit nicht nur die Musik, sondern auch der kulturelle und persönliche Austausch zwischen so weit entfernten Ländern wie Taiwan und Deutschland gefördert wird. Und so saßen beim sonntäglichen Konzert der Kammerphilharmonie dacapo nicht nur die hiesigen Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, auch Spielerinnen und Spieler eines Taiwanesischen Orchesters aus Kaohsiung verstärkten die Besetzung.

Zuerst – welch ein Beginn eines vollbesuchten Sonntagskonzertes – erklang mit dem jungen Jernej Cigler aus Slowenien als Hornsolist das vierte Hornkonzert in Es-Dur KV 495 von W.A. Mozart, delikat begleitet vom Streichorchester der Kammerphilharmonie DaCapo und ihrem Dirigenten Franz Schottky. Zu den sehr ansprechenden Eigenheiten diese Konzertreihe gehört – wie üblich – die Begrüßung und eine kurze Einleitung des Programms durch Franz Schottky, der auch die beiden Solisten des Tages und die Gäste aus Fernost vorstellte und begrüßte. Natürlich kennt „man“ die Mozartschen Hornkonzerte, obwohl sie seltener im Programm stehen als es diese wunderbare Musik verdient, aber das leibhaftige Erleben ist dann doch wieder einmal etwas ganz Eigenes. Vor allem, wenn der Solist so überzeugend seinen Part vertritt wie es Jernei Cigler in den drei Sätzen tat. Besonders schön gelang der langsame zweite Satz, die Romanze.

Als zweites Konzert stand jenes berühmte Violinkonzert in e-Moll op. 64 auf dem Programm. Der junge Augsburger Simon Luethy spielte auf seiner Gaglino Geige mit dem Satori-Bogen dieses bei allen Geigern hochgeschätzte Stück mit souveräner Meisterschaft, begeisterte Publikum und Musiker gleichermaßen mit seiner uneitlen und hochmusikalischen Präsenz, die dem Orchester Anlass bot, das „Silbertablett“ seiner Begleitkunst zu präsentieren. Auch hier wieder gelang der langsame zweite Satz, das Andante, ganz besonders schön und innig, aber auch der Virtuosität des ersten und dritten Satzes bleiben Solist und Orchester nichts schuldig. Großer Beifall und als Zugabe eine Paganini Caprice Nr. 3 .

Nach der Pause – noch einmal vergrößerte sich das gemeinsame Orchester für die vierte Symphonie von Johannes Brahms in e-Moll. Für Arnold Schönberg begann mit dieser – Brahms letzter – Symphonie das Zeitalter der Neuen Musik, wie Franz Schottky zu Anfang erwähnte. Und wirklich zeigen diese vier Sätze ein Kompendium der rhythmischen und melodischen, neue Klänge schaffenden, sowie polyphon-verarbeitenden Meisterschaft des 52-jährigen Komponisten, sie ist vor allem im letzten, vierten Satz ein absolutes Novum der bisherigen Musikgeschichte. Brahms verwendet hier, ausgehend von einem Bach‘schen Thema eine bis dahin nicht symphonisch verwendete Variationsform, die weit in die Zukunft deutet. Das Orchester lief zu Hochform auf, Bläser und Streicher, Pauken und Schlagzeug ebenfalls und unter der Stabführung von Franz Schottky erblühte dieses letzte Meisterwerk des Johannes Brahms in Gelassenheit voller Energie vom ersten bis zum letzten Ton. Wie modern und faszinierend auch heute noch diese Musik ist und berührt, zeigte der enthusiastische Beifall, der dem Orchester und seinen besonders geforderten Solistinnen und Solisten gebührte.

Ceterum censeo… Ein viel zu wenig beachtetes, jedoch beachtenswertes Orchester! Aber das Nichtbeachten ist ja leider beim heutigen Münchner Feuilleton schon Usus.

[Ulrich Hermann, April 2019]

Schönklang und dessen Opfer

RCA Red Seal; 1 90758 71142 3

Gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Andrew Litton nimmt Sebastian Bohren die Violinkonzerte von Felix Mendelssohn e-Moll op. 64 und Benjamin Britten op. 15 auf; zudem hören wir Tschaikowskis Sérénade mélancolique op. 26 für Geige und Orchester.

Regelrechten Hype genießt der aus der Schweiz stammende Geiger Sebastian Bohren in letzter Zeit: Presse wie Publikum loben seinen warmen, vollen Ton und die Eigenständigkeit seines Ausdrucks; seine Aufnahme aller Bach-Sonaten und -Partiten für Violine solo sorgen für Aufsehen. Mit der vorliegenden Aufnahme widmet sich Bohren nun Werken für sein Instrument mit Orchesterbegleitung, wozu er sich das flexible und vielseitige Royal Liverpool Philharmonic Orchestra als Partner wählte, unter der Leitung von Andrew Litton.

Doch der Funke mag nicht so recht überspringen in dieser Aufnahme, immer wieder gerät der Fluss der Musik ins Stocken. Dies liegt in erster Linie an Bohrens enormen Streben nach Schönklang und Klarheit, wofür er andere, teils wichtigere, Aspekte der Musik bereitwillig opfert. Bohren scheut gerade bei Mendelssohn und Tschaikowski das Piano und Pianissimo, was einige der hinreißendsten Effekte dieser Werke unterminiert. Bei Tschaikowski geht somit auch die Zartheit und Melancholie seiner ausdrücklich „mélancolique“ getauften Sérénade verloren, die Musik wirkt zu real und nicht emotional ergriffen. Bei Mendelssohn ist dies zudem eine der Ursachen dafür, dass das Orchester nicht gleichwertig zur Violine erscheint, sondern weit hinter ihr verschwindet – wodurch sogar manch ein wichtiger thematischer Einsatz kaum oder gar nicht zu hören ist. Hinzu kommt, dass Bohrens Spiel gespickt ist von Manierismen, was die These bestätigt, er schaue zu sehr auf die momentane Tonerzeugung und nicht auf den Kontext der Musik: Beinahe jeder Schwerpunkt liegt auf der schweren Zeit (also dem ersten und im 4/4-Takt dem dritten Schlag), die in raschen Passagen gerne durch leichtes Rubato ausgekostet und somit verlängert wird. Daraus resultiert eine vermeidbare Plumpheit, welche das Filigrane dieser Musik negiert. Fließender und plastischer hätte Bohren die Musik gestalten können, würde er auch einmal die schwachen Zeiten betonen und seine Rubati nicht auf die Schläge setzen, sondern auf die nächste Untereinheit (z.B. die zweite Sechzehntel oder zweite Note einer Triole).

Am ehesten funktioniert das Violinkonzert von Benjamin Britten, wobei auch hier das Finale ins Stocken gerät. Die ersten beiden Sätze jedoch stechen hervor im Vergleich zum Rest dieser Aufnahme: Im blues-artigen Kopfsatz findet Bohren viel Witz und kostet diesen aus, springt heiter zwischen den mitreißenden Einfällen hin und her, entlockt seiner Partie einige spannende Effekte und hält den Satz sogar formal einigermaßen zusammen. Im Mittelsatz besticht er durch virtuoses und makellos reines Geigenspiel.

Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra passt sich der Darbietung des Solisten an, enttäuscht im Mendelssohn und kann auch bei Tschaikowski nicht überzeugen, wird jedoch durch den unglaublichen Charme des viel zu selten gehörten Britten-Konzerts zu größerer Leistung angestachelt. Das Orchester steht unter dem Ruf, besonders abhängig zu sein von einem guten Dirigenten: Es kann Unvorstellbares hervorbringen, wenn es durch einen Meister seines Fachs geleitet wird – aber auch uninspiriert und farblos seine Pflicht erfüllen. Diese Aufnahme bestätigt das vortrefflich.

[Oliver Fraenzke, Januar 2019]

Rastlose Brillanz

Linn Records, CKD 555; EAN: 6 91062 05552 9

Gemeinsam mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Antonio Méndez spielt Ingrid Fliter die Klavierkonzerte a-Moll Op. 54 von Robert Schumann und g-Moll Op. 25 von Felix Mendelssohn. Das Orchester erklingt zudem in Mendelssohns Konzertouvertüre Op. 32 „Das Märchen von der schönen Melusine“.

An der Oberfläche präsentiert sich die Aufnahme Ingrid Fliters mit Klavierkonzerten von Schumann und Mendelssohn brillant und heiter glänzend. Mit Pathos jagt Fliter über die Tasten, verströmt einen Sog nach vorne und mitten hinein in die Musik. Dabei strahlt sie nicht nur handwerkliche Souveränität aus, sondern auch ein gewisses Gespür für den Zusammenhalt einzelner Phrasen sowie eine glühende Inspiration. Mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Antonio Méndez besteht eine spürbare Verbindung, die Partner fügen sich problemlos zu einer Einheit zusammen, die verschmilzt.

Erst der Blick auf die subtileren Ebenen legt ein anderes Bild frei. Denn so sehr Fliter in der Virtuosität aufgeht und in raschen Passagen zu zaubern scheint, so rastlos sind die langsamen wie entspannten Abschnitte genommen. Die Pianistin scheint innerlich nie zur Ruhe zu kommen, und so wird auch die gesamte Lyrik gerade im Schumann-Konzert durch atemlose Hektik ausgehebelt. Die romantische Verträumtheit und die Wendungen ins Innere sind nicht vorzufinden (natürlich dürfen diese nicht ins manieriert Willkürliche übertrieben werden, aber sie sind dennoch ein entscheidendes Merkmal für Musik jener Zeit). Dazu gehörlt auch, dass immer wieder die spannungstragenden Dissonanzen, die wie ein Gewürz dem Ganzen erst die unverkennbare Note verleihen, unter den Tisch gekehrt und verharmlost werden.

Sehr subtil kann Antonio Méndez das Scottish Chamber Orchestra auf die jeweiligen Stimmungen einschwingen, kann ausgebreitete Melodien natürlich entstehen lassen und dann doch plötzlich wieder in entschiedenstem Aufbegehren toben. Gerade in Mendelssohns Konzertouvertüre kann das Orchester sich einlassen und eine beschwingte Gestaltung erlebbar machen. Dabei geht allerdings manche Nebenstimme im Geflecht unter, die noch einen schönen Beitrag hätte leisten können. Gerade in den Klavierkonzerten hätte damit noch für eine stärkere Kompaktheit des Apparates und für einen stringenter zusammenhängenden Fluss gesorgt werden können.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]